Louisiana Blues

 

Inhalt

 

Ein vermeintlich geistesgestörter Mörder verbreitet im Bremer Rotlichtmilieu Angst und Schrecken. Zunächst fällt ihm eine rothaarige Prostituierte zum Opfer. Er erdrosselt sie mit einem Nylonstrumpf und schreibt ihr mit Lippenstift das Wort ‚Hure' auf die Stirn. Ein italienischer Kellner findet kurz darauf die Tote. Er hört, wie jemand, ganz in seiner Nähe, eine merkwürdige Melodie pfeift. Mike Winter und seine Mitarbeiter von der MK 2 nehmen die Ermittlungen auf. Ein Profiler wird eingeschaltet. Intensive Ermittlungen im Milieu folgen. Doch Mike glaubt nicht an einen ‚normalen' Mord.

Am folgenden Abend sucht er mit seiner Freundin Trixi das Restaurant auf, in dem der Zeuge arbeitet. Es ist die Melodie, die der Kellner am Tatort vernahm, die Mike nicht loslässt und von der er glaubt, dass sie ein Schlüssel zur Lösung des Falles sein kann. Auf der Fahrt nach Hause wird Trixi unvermittelt Zeugin des zweiten Mordes. Als Mike den flüchtenden Killer verfolgt, kehrt dieser überraschend an den Tatort zurück, um sein perfides Werk zu vollenden. Dabei wird sein Gesicht für den Bruchteil eines Wimpernschlags vom Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos erhellt. Trixi beobachtet die gespenstische Szene aus dem vermeintlich sicheren Wagen heraus. Sie zuckt panisch zusammen, als sich ihr Blick plötzlich mit dem des Mörders kreuzt. Schon wendet sich die dunkle Gestalt ihrem Wagen zu. Geistesgegenwärtig schaltet Trixi die Scheinwerfer an, verriegelt die Türen und drückt auf die Hupe. Lässt sich der Killer davon abschrecken?



Autor

 

 

Uwe Brackmann lebt in der Nähe von Wolfenbüttel. Die Schriftstellerei betreibt er nebenberuflich. Neben dem Krimi gehören auch die Komödie und das Drama zu seinen bevorzugten Genres.

 

Der bislang eher regional bekannte Autor gilt unter Krimifreunden als Geheimtipp.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Mein besonderer Dank gilt Frau Viola Dowhanycz und Herrn Jürgen Nieber für ihre freundliche Unterstützung bei der Verwirklichung dieses Romans, sowie dem Fotografen Andreas Eberl, der das Titelbild gestaltete. Darüber hinaus bedanke ich mich bei den Bremer Justizbehörden, die mir, soweit dies möglich war, bei meinen Recherchen behilflich waren.



Einleitung

 

 

Louisiana Blues ist der sechzehnte Teil einer überwiegend in Bremen spielenden Krimiserie, deren Hauptdarsteller die Mitarbeiter der Mordkommission 2 sind.

 

Die jeweils abgeschlossenen Fälle reflektieren die Arbeit der Mordkommission 2 innerhalb der Bremer Kriminalpolizei. Sie geben aber auch Einblicke in das Privatleben des Kommissars Mike Winter und seiner Mitarbeiter.

 

Mike Winter ist leitender Hauptkommissar. Sein väterlicher Freund, der Kriminalrat Gerd Kretzer, unterstützt ihn bei seiner Arbeit. Zusammen mit Edda Blache und Aron Baltus sind sie das Team der MK 2.

 

 

 

 

 

 

 

Handlungen und vorkommende Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen verwendeter Namen sind daher rein zufällig.


 

 


Mike Winter

 

Teil 16

 

Louisiana Blues

 

-1-

 

Feuchte Herbstkühle waberte über die gemächlich dahin gleitenden Weserfluten, kroch scheinbar unaufhaltsam über die Uferpromenade an der Schlachte empor und legte ihren unwirklichen Dunst wie ein Film unsichtbaren Nebels über das glitschige Kopfstein-pflaster. Das grelle Licht eines Scheinwerfers, verursacht durch einen Spätbus, durchbohrte die Dunkelheit auf der Bürgermeister Smidt Brücke und stach, einer Lanze gleich, durch die Nacht. In Höhe Burger King stoppte er kurz ab, um einen Fahrgast aussteigen zu lassen und setzte dann seine Fahrt in Richtung Hauptbahnhof fort.

Dies war der Moment, in dem Ulla Brinkmann das Schnellrestaurant verließ. Die vierundzwanzigjährige Prostituierte hatte es eilig, wieder an ihren angestammten Platz an der Schlachte zu gelangen. Das Geschäft lief an diesem Abend flau. Die Hoffnung, doch noch einen solventen Freier abzuschleppen, war der Grund für ihre Hast. Den Rest ihres Shakes leerte sie auf dem Weg zum Bootsanleger.

Die freischaffende Prostituierte hatte ihren Platz gegenüber dem Ausflugspier. Als sie ihn erreichte, huschte ein beschwingtes Lächeln über ihr geschminktes Gesicht. Ein Dampfer voller potentieller Kundschaft hatte gerade angelegt. Laute Musik und fröhliches Gelächter drangen zu ihr herüber. Doch die ausgelassene Gesellschaft blieb auf dem Boot und feierte weiter.

 

-2-

 

Annette hatte sich aus einem Zwanzigeuroschein ein Röllchen gedreht, sich über die Tischplatte gebeugt und das weiße Pulver durch die Nase aufgesogen. Das sanfte Glück, wie sie das Kokain liebevoll nannte, brannte noch ein wenig in den Stirnhöhlen, aber mit jedem Atemzug vergrößerte sich die unsagbare Empfindung vollkommener Glückseligkeit in ihren Gehirnwin-dungen. Annette begann wie ein kleines Mädchen zu kichern. Es folgten unkontrollierte Gefühlsausbrüche bis hin zu rhythmisch wollüstigem Streicheln ihrer Genitalien.

„Das ist die beste Dröhnung, die ich je hatte“, hauchte sie, während sie sich verführerisch bei Ferdinand Gansel, dem Inhaber und Gründer der TOL, der Technology on Limited , auf dem Schoß rekelte. „Schön, wenn dich mein Zauberpulver fliegen lässt. Aber flieg nicht so hoch, mein kleiner Schatz, die Landung könnte schmerzhaft sein.“ Annette verstand nicht, deshalb kicherte sie nur, wie sie es immer tat, wenn sie etwas nicht begriff. Und Annette kicherte häufig. „Wollen wir jetzt wieder zu den anderen gehen?“, fragte sie schließlich in ihrer Naivität. Der Mann mit der Halbglatze antwortete nicht. Stattdessen schob er seine fleischigen Hände unter ihren kurzen Rock. „Hui!“, rief Annette und salutierte mit der Hand an ihrer Stirn. „Alle Mann auf Tauchstation. U-Boot Ferdi will abtauchen.“

Die vierundzwanzigjährige Angestellte aus der Poststelle war in ihrer Funktion als Gespielin des Chefs recht zufrieden. Sie glitt wie eine Schlange über die Schenkel ihres Gebieters, bis sie vor ihm kniete. Ruckartig drückte sie seine Beine auseinander und nestelte am Reißverschluss seiner Hose. Der Firmenboss schnurrte behaglich, während sie ihn verwöhnte. „Hast du noch mehr von dem Zauberpulver?“, hörte er sie fragen. „Soviel du willst, Baby, aber zuerst musst du es dir verdienen.“ „Ich werde dir deine Glocken schon zum Klingen bringen“, versprach sie im wahrsten Sinne vollmundig.

Während sich der Firmenboss nach allen Regeln der Kunst bedienen ließ, zeigten seine restlichen Mitarbeiter erheblich mehr Einsatz auf der Tanzfläche. Die engagierte Band sorgte für eine mörderisch gute Stimmung. Der Alkohol floss in Strömen und kaum einer der Belegschaftsangehörigen verließ die ‚Henriette', wie in goldenen Buchstaben am Bug des Dampfers zu lesen war.

 

„Ich denke, du bist beim Alten?“, flachste einer Ihrer Kollegen nicht ohne Hintergedanken. Annette verstand Kais Anspielung nicht. Sie zog es vor, gekünstelt zu kichern. „Ich habe das U-Boot versenkt“, gackerte sie. Kai verdrehte die Augen. Obwohl er bereits einiges intus hatte, wollte er den Abend mit einem besonderen Kick ausklingen lassen. Da schien ihm Annette, so abgedreht wie sie war, gerade recht zu kommen. „Ich hole uns einen Drink. Willst du etwas Bestimmtes?“ Annette grinste ihm breit entgegen. „Dasselbe wie du.“ „Das könnte vielleicht gefährlich für dich werden“, entgegnete Kai herausfordernd. „Ich liebe die Gefahr“, verkündete Annette selbstbewusst.

Kurz darauf kehrte der Systemadministrator mit zwei großen schlanken Gläsern zurück, die mit einer bräunlichen Substanz gefüllt waren. Annette konnte es kaum abwarten. „Wow, was ist das? Das haut ja mächtig rein!“ Kai legte geheimnisvoll den Zeigefinger auf seine Lippen. „Gibt's nur für gute Freunde des Barkeepers.“ „Nun mach's nicht so spannend“, ließ die blonde Angestellte nicht locker. Kai beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr. „Schon mal was von Absinth gehört?“ „Absinn?“, kreischte Annette verzückt. Der etwas dickliche Mann im Lagerfeld Outfit drückte ihr entsetzt die Hand auf den Mund. „Bist du verrückt geworden? Das Zeug gibt es offiziell gar nicht!“ „Dafür ist es aber echt lecker“, befand Annette und nahm einen weiteren großen Schluck.

„Ich will tanzen!“, verkündete sie im nächsten Moment und zerrte auch schon an Kais Jackett herum. Der hatte kaum genug Zeit, um sein Glas an einem geeigneten Platz abzusetzen. Was er nun zu sehen bekam, steigerte seine Lust auf die Blondine aus der Poststelle ins Unermessliche. Die heftigen, zugleich jedoch überaus taktmäßigen Bewegungen ihrer Hüfte, das frivole Züngeln zwischen ihren wollüstigen Lippen und ihre fordernden Blicke trieben ihn langsam aber sicher in den erotischen Wahnsinn. Plötzlich erstarben ihre Bewegungen. Von einer zur nächsten Sekunde schien ihr jegliches Blut aus dem Gesicht zu entweichen. Außer Kai hatte noch niemand von ihrem abnormen Zustand Notiz genommen, doch dies änderte sich schlagartig, als Annette in hohem Bogen den gesamten Inhalt ihres Magens auf der Tanzfläche verteilte.

Wie aufgescheuchte Hühner sprangen die auseinander, die gerade noch neben ihr im bunt flimmernden Scheinwerferlicht im Takt der Musik zuckten. Entsetzte Schreie, abfällige Bemerkungen oder auch einfach nur peinliches Wegsehen begleiteten Annette und Kai, als er sie behutsam aber bestimmt in Richtung Ausgang schob. „Die Luft wird dir sicher gut tun. Ich rufe uns ein Taxi und dann bringe ich dich nach Hause“, erklärte Kai energisch. Seine Stimme ließ nicht mal den Hauch eines Widerstandes in Annette aufkommen. Angesichts der Millionen von Ameisen, die sie gerade von innen aufzufressen schienen, fehlte es ihr an der nötigen Kraft, sich gegen Kai aufzulehnen.

Annette lehnte mit dem Oberkörper über der Reling und fütterte weiterhin die Fische, als Kai auf der dem Anleger gegenüber liegenden Straßenseite einen Mann und eine Frau bemerkte. Man brauchte kein Hellseher zu sein, um die Tätigkeit zu erraten, der die Rothaarige nachging. Der ganz in Schwarz gekleidete Mann stand mit dem Rücken zu ihm. Offenbar feilschten sie über den Preis für die zu erbringende Dienstleistung. Kai lauschte amüsiert hinüber, ohne jedoch, angesichts der lauten Musik, die aus dem Inneren des Schiffes nach draußen dröhnte, mehr als auch nur einen vollständigen Satz zu erhaschen. Hinzu kam, dass er sich nun noch intensiver um seine Begleitung kümmern musste, da diese immer wieder in den Knien einzuknicken drohte.

Als endlich das bestellte Taxi vorfuhr, und Kai mit seiner extrovertierten Eroberung die Gangway herabstieg, sah er nur noch, wie die Bordsteinschwalbe und ihr Freier in Richtung Hankenstraße abschoben. Er wunderte sich zwar ein wenig, weil der Mann offensichtlich zu Fuß unterwegs war und nicht, wie eigentlich üblich, mit einem Wagen vorgefahren war, doch der Griff, mit dem sich Annette in diesem Augenblick an seiner Hose festhielt, erforderte sein ungeteiltes Interesse. Als sich das Taxi schließlich in Bewegung setzte, waren die beiden bereits von der Dunkelheit verschluckt.

 

 

 

 

-3-

 

Ulla hatte sich bereits Hühneraugen gestanden und ihre Blase drückte. Sie fluchte innerlich vor sich hin. Vielleicht hätte sie weniger trinken sollen. Vielleicht hätte sie bei dem verdammten Sauwetter gar nicht erst auf die Straße gehen sollen und vielleicht hätte sie doch auf ihre spießigen Eltern hören und irgendeinen reichen Knilch heiraten sollen. Da würde sie sich in gewisser Weise zwar auch prostituieren, aber wenigstens hätte sie dabei einen warmen Hintern.

Verächtlich und doch ein wenig neidisch schaute sie zum Kahn hinüber und auf die feine Gesellschaft, die immer noch ausgelassen feierte. Wie gern wäre sie einfach hinübergegangen, hätte sich unter die Leute gemischt und es sich gut gehen lassen, doch davon konnte sie ihre Miete auch nicht zahlen. In diesem Moment sah sie, wie ein Mann und eine Frau, die reichlich wackelig auf den Beinen war, an die Reling traten. Offensichtlich hatte die Blondine ein wenig zu tief ins Glas geschaut. Sie hing mit dem Oberkörper über dem Geländer und reiherte sich die Eingeweide aus dem Körper.

Wenn man nichts verträgt, sollte man die Finger vom Alkohol lassen , dachte sie verdrießlich. An der wird der Ärmste zumindest heute Nacht nicht mehr viel Freude haben . Ein gehässiges Grinsen legte sich über Ullas Gesicht. Für zwei Grüne würde sie den beiden eine Nacht bereiten, die sie nicht so schnell vergaßen, da war sie sich sicher.

Während Ulla die beiden Yuppies beobachtete, verspürte sie plötzlich eine eisige Hand auf ihre Schulter. Sie fuhr zu Tode erschrocken herum und hätte dem Kerl, der da auf einmal hinter ihr stand, am liebsten eine gescheuert. Im letzten Augenblick hielt sie inne. Ein dämlicher Freier ist besser als gar keiner. „Sind Sie wahnsinnig? Wie können Sie mich derart erschrecken?“, brauste sie den Unbekannten an. „Mir wäre ja fast das Herz stehen geblieben.“ „Entschuldigen Sie bitte, das war keineswegs meine Absicht.“

Ulla musterte den ganz in schwarz gekleideten Mann. Er war keiner von der Sorte Freier, die sie sonst bediente. Keiner, dem man ansah, dass er zu einer Hure ging. Seine Schuhe hatten diese spitz nach vorn zulaufende Form. Eher unbequem, wie Ulla mutmaßte, aber eben modern. Sie tippte auf einen Gallus, schwenkte dann allerdings auf einen Rieker um. Die schwarze Jeans saß so exakt, wie nur eine Levis sitzen konnte. Seine Lederjacke verströmte noch diesen unwiderstehlichen Geruch, wie es nur echtes Rindsleder vermag.

Als sie ihm schließlich wieder in das Gesicht blickte, schaute sie in seine noch fast jugendlichen Züge. Er musste etwa in ihrem Alter sein. Ein Typ, von der eher gehemmten Sorte, wie Ulla befand. Sie verstand sich ausgezeichnet darauf, Menschen einzuschätzen, ihnen ein Gesicht zu geben, noch bevor sie mit ihnen ging. Eine Menschenkenntnis, die besser war als jede Lebensversicherung.

„Ein Brauner für Handbetrieb, ein Grüner für die schnelle Nummer, oder zwei für zwei Stunden voller Glückseligkeit?“, betete sie ihre Speisekarte herunter. „Das Zimmer kostet übrigens extra. Dafür ist es sauber und das Hotel verschwiegen.“ Der Unbekannte schürzte die Lippen. „Ich schätze, ich bevorzuge Ihr letztes Angebot, aber eine miese Absteige entspricht nicht meinen Vorstellungen. Ich habe meinen Wagen am Fangturm abgestellt.“ Ulla verdrehte die Augen. „Quatschst du immer so geschwollen?“ Der Freier sah sie verwundert an. „Ich verstehe nicht?“ „Schon gut, vergiss es.“

War dieser Typ die Chance, auf die sie den ganzen Abend gewartet hatte? Vielleicht ließ sich aus diesem einen Freier genug herausholen, um für den Rest der Woche die Beine hochlegen zu können. „Wenn wir zu dir fahren, kostet es extra“, verkündete sie daher selbstbewusst. „Ich bevorzuge ein seriöses Hotel.“ Aus einem ihr unerfindlichen Grund meldeten sich plötzlich ihre Alarmglocken. Sie wusste nicht genau, was es war, aber irgendwie kam ihr der Typ auf einmal merkwürdig vor.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite fuhr ein Taxi vor. Die Blondine und ihr Begleiter staksten über die Gangway festem Grund entgegen. Von dieser Seite war also keine Kundschaft mehr zu erwarten. Ulla rümpfte die Nase. „Also schön, soll mir auch recht sein, aber dafür musst du drei Braune abdrücken.“ „Geld spielt keine Rolle, wenn Sie mir Freude bereiten, soll es Ihr Schaden nicht sein.“ „Du glaubst gar nicht, wie viel Freude ich dir bereiten werde“, grinste Ulla süffisant.

All ihre Bedenken waren wie weggewischt. Was sollte ihr schon geschehen und überhaupt, sie wusste sich schließlich zu wehren. Wenn es eines gab, was sie in der Zeit auf dem Straßenstrich gelernt hatte, dann war es das. Während sich das Taxi in Richtung Bürgermeister Smidt-Brücke in Bewegung setzte, schlugen sie und der Unbekannte den entgegengesetzten Weg ein. Feiner Nieselregen peitschte ihr ins Gesicht. Ulla gingen alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Sie dachte an die Kohle, die sie mit diesem Freier machen würde und hoffte, dass ihre Schminke hielt.

Während sie dem Lauf der Weser folgten und von einem Lichtschatten in den nächsten traten, bemerkte sie, dass die Schlachte wie ausgestorben war. Da, wo sonst das Nachtleben pulsierte, wo im Licht der altertümlichen Laternen die käuflichen Mädchen standen, befand sich in dieser Nacht weit und breit keine Menschenseele.

Wortlos gingen sie und der unbekannte Freier nebeneinander her. Nur sein schwerer Atem und der Widerhall ihrer metallbeschlagenen Pfennigabsätze drangen durch die Stille der Nacht. Jeder ihrer Schritte klang wie der Hammerschlag auf einem Amboss. Ab und an fuhr ein Auto an ihnen vorbei, zerriss mit dem Licht seiner Scheinwerfer für einen kurzen Augenblick die Dunkelheit. Kam es Ulla nur so vor, oder wandte sich ihr Begleiter immer dann ab, wenn eines dieser Lichter sein Gesicht zu erfassen drohte?

 

„Wo steht denn jetzt dein Wagen?“, fragte sie nun doch wieder etwas nervöser. Der Mann mit dem Knabengesicht tat, als habe er ihre Frage nicht verstanden, ging einfach weiter, ohne ihr zu antworten. „He!“, rief sie ihm zu und blieb unvermittelt stehen. „Willst du mich verarschen?“ Der Freier hielt inne, wandte sich wortlos um und kam geradewegs auf sie zu. Als sie den bedrohlichen Ausdruck in seinem Gesicht erkannte, war es bereits zu spät. Darin lag nichts mehr von Unschuld und Zartheit, nur noch blanker Hass, der ihr in geballter Wucht entgegenschlug. Blitzschnell schlang ihr der Mann einen Nylonstrumpf um den Hals und zog zu, bis ihr die Sinne schwanden.

Noch während ihr der vermeintliche Freier die Luft zum Atmen nahm, zerrte er sie in die nahen Sträucher und Büsche am Fangturm. Die Glocken der nahen Stephanigemeinde schlugen gerade ein Uhr. Ulla Brinkmann hatte längst den letzten Atemzug getan, als der schwarz gekleidete Mann ihren Leichnam mit dem Rücken an einen der Bäume lehnte. Ein zufriedenes Grinsen zuckte über die nun wieder knabenhaften Züge seines Gesichts. Doch noch war sein Werk nicht vollendet. Wohl überlegt streifte er sich seine Autofahrerhandschuhe über und leerte den Rucksack, den Ulla auf dem Rücken getragen hatte. Zielstrebig griff er nach ihrem Lippenstift, zog die Kappe herunter und drehte daran, bis das rot gefärbte Pflegemittel zum Vorschein kam. Abschließend schrieb er ihr das Wort ‚Hure' auf die Stirn. Während er ohne Eile verschwand, pfiff er den Louisiana Blues.

 

-4-

 

Es war spät geworden. Trixi und ich hatten noch bis Mitternacht gemütlich bei einem guten Glas Wein zusammengesessen und Babyfotos unserer Tochter angesehen. Kaum zu glauben, wie schnell die Zeit vergangen war. Gerade am Vortag hatten wir für Romy die Anmeldung zum Kindergarten abgegeben. Im Moment lief in unserem Leben ohnehin alles recht gut. Meine Schwiegereltern in Spee hatten sich mit Romys Geburt sehr zu ihrem Vorteil verändert. Dass ich nur bei der Kripo war und dem Abschaum der Gesellschaft nachjagte, störte sie nur noch am Rande. Sie waren ganz vernarrt in ihre Enkeltochter und genau deshalb hatten sie uns überzeugt, Romy einige Tage zu ihnen zu bringen. Unser Sonnenschein fehlte uns nun, was nur allzu verständlich sein dürfte. Nichtsdestotrotz genossen wir das seltene Gefühl der Ungebundenheit.

Ich lag noch wach im Bett und ließ die letzten Jahre Revue passieren. Gedanken, die mich an die Seite meines väterlichen Freundes, dem damaligen Hauptkommissar Gerd Kretzer zurückführten. Ich dachte an Gabi, die mich wegen eines Bestattungsunternehmers sitzen ließ und ich besann mich auf die kurze Zeit, die René und ich miteinander verbrachten. Sie hatte sich als französische Polizistin an unseren Ermittlungen gegen einen schwerkriminellen Landsmann beteiligt. Wir haben leider erst viel zu spät bemerkt, dass sie letztendlich nur den Tod ihres Vaters rächen wollte. René wurde bei einer wilden Schießerei auf dem Dach einer Lagerhalle durch eine Kugel getötet, die eigentlich für mich bestimmt war. Da sie in Frankreich keinerlei Verwandte mehr hatte, wurde sie auf dem Bremer Friedhof Buntentor beigesetzt. Lange hatte ich mir die Schuld an ihrem Tode gegeben und meinen Kummer nicht selten mit Alkohol zu betäuben versucht. Wer weiß, wo ich heute wäre, wenn mich Trixi damals nicht vor dem Abgrund bewahrt hätte?

Ich dachte an den ersten Fall, den ich eigenverant-wortlich lösen musste und ich hatte die Bilder von Sandy, unserer Golden Retriever Hündin vor Augen, als ich sie aus einem Sack befreite, den ich zuvor aus dem Wasser gefischt hatte. Ihr Besitzer hatte sie kurzerhand über die Kaimauer geworfen, um sie auf einfache Weise los zu werden. Nun war sie Romys bester Freud und wich ihr nicht mehr von der Seite. Was zur Folge hatte, dass auch Sandy für ein paar Tage bei den Schwiegereltern weilte. Gerade, als ich darüber nachdachte, wie es den beiden wohl gerade ging, riss mich das Telefon aus den Gedanken.

„Was ist?“, meldete ich mich ziemlich mürrisch, nachdem ich einen Blick auf das Nummerndisplay geworfen hatte. „Tut mir Leid Mike“, entgegnete Chantal Doege betreten. Unsere Telefonistin aus der Zentrale konnte ja nichts für die Einsatzpläne und danach hatte ich nun einmal Rufbereitschaft. „Es gibt Arbeit.“ Ich quälte mich von der Matratze und fingerte, den Hörer am Ohr, im diffusen Licht des Radioweckers nach meinen Klamotten. Chantal nannte mir den Einsatzort und gab mir einen groben Abriss von dem, was sich zugetragen hatte. Noch während ich, das Telefon in der Hand, auf leisen Sohlen das Schlafzimmer verließ, ging hinter mir die Nachttischlampe an. Trixi war also mal wieder wach geworden.

„Ich koche dir noch schnell einen Kaffee“, sagte sie nicht eine Spur sauer, in ihrem Schlaf gestört worden zu sein. So war sie und dafür liebte ich sie. Ich verschwand also im Bad und rief meinen Dienstpartner Aron Baltus an. Ein wenig Schadenfreude war schon dabei, als ich auch ihn aus dem Bett werfen konnte. Unserer gemeinsamen Kollegin, Edda Blache, war da mehr Glück beschieden. Sie hatte gerade einen Lehrgang hinter sich gebracht und deshalb einige Tage frei. Ich verabredete mich also mit Aron an der gewohnten Ecke, um ihn dort wie üblich aufzunehmen.

 

-5-

 

Keine halbe Stunde darauf trafen wir am Tatort ein. Die Kollegen der Schutzpolizei hatten das Terrain bereits großflächig abgesperrt und achteten nun akribisch darauf, keinen Unbefugten auch nur in die Nähe des Leichenfundortes zu lassen. Selbst mein Partner und ich mussten unsere Dienstausweise zücken, bevor uns der neue Kollege durch die Absperrung ließ. Aber besser so als anders.

„Morgen die Herren“, empfing uns Doktor Justus Schnippler, der zuständige Rechtsmediziner. „Hat es Sie also auch erwischt.“ „Tja, sieht ganz so aus, als wenn wir uns mal wieder die Nacht um die Ohren schlagen dürfen“, bestätigte Aron. „Was haben Sie für uns?“, fragte ich routinemäßig. „Das Opfer ist weiblich und etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Die junge Frau ist aller Voraussicht nach erdrosselt worden. Aber bitte, unter Vorbehalt.“ „Genaueres wie immer erst nach der Obduktion – ich weiß“, schloss ich den Satz für ihn. „Wie lange ist das Opfer schon tot?“, hakte Aron nach. „Ein bis zwei Stunden.“ Schnippler deutete auf zwei Polizeibeamte, die neben einem Streifenwagen standen und sich mit einer Person unterhielten. „Aber dazu kann Euch der Zeuge da vorn sicher mehr verraten. So viel ich mitbekommen habe, hat er die Tote gefunden.“ „Na, das ist doch mal was“, freute sich mein Partner und bedeutete mir, sich des Zeugen anzunehmen. „Wann kann ich mit dem Obduktionsergebnis rechnen?“, erkundigte ich mich derweil bei unserem Rechtsmediziner. „Ich weiß, ich weiß, am liebsten würden Sie den Bericht schon auf ihrem Schreibtisch finden wollen, wenn Sie ins Präsidium kommen…“ „Können Sie Gedanken lesen?“, flachste ich. „…aber das ist leider nicht möglich – es sei denn, ich würde nicht so genau hinsehen – aber das wollen Sie doch nicht – oder?“ Ich grinste breit zurück. „So lange Sie Ihren Humor nicht verlieren, Doktor…“ „…ist das Leben auch ohne Alkohol noch zu ertragen“, schloss er und setzte seinen Weg fort.

Helles Blitzlicht sagte mir, dass Hans Stockmeier und seine Leute von der Spurensicherung ihre Arbeit bereits aufgenommen hatten. Jedes Detail rund um den Fundort der Leiche musste mit kleinen Zahlentafeln versehen, fotografiert und skizziert werden, bevor es in einer sterilen Tüte sichergestellt wurde. Fußabdrücke und dergleichen wurden mit einer homogenen Kunststoffmasse ausgegossen und nach vollständigem Erhärten in einer Beweismittelbox deponiert.

Ich legte meine Hand auf die Schulter meines alten Weggefährten Hans Stockmeier und begrüßte ihn. „Wenn du mich so erschreckst, werde ich dir eines Tages wahrscheinlich einen Brei aus Alabastergips über die Klamotten gießen“, verkündete er grantig. „Offensichtlich hat man dich auch aus dem Bett geholt“, schlussfolgerte ich aufgrund seiner Laune. „Entschuldige, aber müssen diese Wahnsinnigen ihre Opfer immer dann umbringen, wenn normale Leute schlafen?“ „Hast ja Recht.“ Ich deutete auf die Tote, die noch immer mit dem Rücken an einem Baum lehnte. „Seid ihr soweit fertig?“ „Ja, du kannst“, entgegnete der Leiter der Spusi, wie wir die Spurensicherung der Einfachheit halber abkürzten.

Ich hockte mich also direkt neben das Opfer und machte mir ein eigenes Bild von der jungen Frau. Dabei stach mir natürlich sofort das Wort ‚Hure' ins Auge, welches der Toten quer über die Stirn geschmiert war. „Sieht aus wie Lippenstift“, wandte ich mich Hans Stockmeier zu. „Ist Lippenstift und obendrein wahrscheinlich sogar ihr eigener“, entgegnete er. „Reichlich makaber das Ganze“, befand ich. „Vielleicht eine gehörnte Ehefrau?“, mutmaßte Stocki. „Möglich, vielleicht aber auch ein gehörnter Partner, der hinter die zusätzliche Einnahmequelle seiner Freundin kam“, ergänzte ich. „Natürlich kommt auch ein Milieumord in Frage.“

„Wie auch immer“, zuckte Hans mit den Schultern, „…das wahrscheinliche Tatwerkzeug hängt jedenfalls noch um ihren Hals.“ Warum benutzte jemand einen Damenstrumpf, um einer Prostituierten das Leben zu nehmen? Wollte der Täter auch durch die Wahl des Mordwerkzeugs etwas zum Ausdruck bringen? Handelte es sich bei dem Täter um einen psychisch Kranken? Ein mehr als ungutes Gefühl beschlich mich. Sollte dies erst der Auftakt zu einer ganzen Serie von Verbrechen werden? Ich schob meine Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf das Wesentliche.

„Fundort gleich Tatort?“, fragte ich Hans, ohne mich von der Toten abzuwenden. „Jein“, entgegnete er vage. „Den Abdrücken rund um den Fundort zu folge, hat der oder die Täterin das Opfer etwa da vorn…“ Er unterbrach sich und deutete auf eine Stelle, die etwa acht bis zehn Meter entfernt lag. „…überfallen und dann hier an diesen Baum verbracht.“ „Woraus schlussfolgerst du das?“, hakte ich nach. „Das Opfer wurde hierher geschliffen. Dank der feuchten Witterung konnten wir gut erhaltene Spuren sichern.“ Während er darauf deutete, konnte auch ich die Schleifspuren erkennen. „Überdies waren die Schuhabdrucke des Täters rückwärts gewandt.“ „Wie kommst du darauf, dass es sich bei dem Täter auch um eine Frau handeln könnte?“, wollte ich von Hans wissen. „Zum einen lässt die Schuhgröße vierzig auch auf eine Frau schließen, zum anderen deutet die Eindruckstelle der Schuhsohlen, trotz des zusätzlichen Gewichts beim Transport des Opfers, auf ein relativ geringes Gewicht hin.“

Das miserable Wetter hatte uns also einige gute Indizien geliefert, die uns bei den Ermittlungen von Nutzen sein konnten. „Der Täter, ob nun Frau oder Mann, sollte also kein Schwergewicht sein, aber über ausreichend Kraft verfügen, um das etwa sechzig Kilo schwere Opfer mit einem Damenstrumpf zu erdrosseln und es dann zehn Meter weit schleifen zu können“, fasste ich zusammen.

Nachdem ich mir einen Eindruck von dem Opfer und dem wahrscheinlichen Tatort gemacht hatte, gab ich den Leichnam zum Abtransport in die Rechtsmedizin frei. Zwei Männer luden den erschlafften Körper der auch im Tod noch attraktiven Frau in die Zinkbahre und bedeckten sie vor neugierigen Blicken mit einem Deckel. Ein solcher Mord macht mich auch nach all den Jahren bei der Mordkommission immer noch betroffen. Vielleicht ein Luxus, den ich meinem Gefühlsleben da gönne, vielleicht aber auch ein Garant dafür, nicht abzustumpfen.

„Na, alles klar bei dir, Mike?“, riss mich Aron aus meinen Gedanken. „Hm“, seufzte ich nachdenklich. „Es gibt eine Tote, was kann da klar sein?“ „Ich habe leider auch nichts wirklich Gutes für dich. Der Zeuge hat den Täter zwar leider nicht gesehen, aber er hat ihn gehört.“ Ich merkte auf. „Er hat ihn gehört?“ Mein Partner nickte. „Na ja, er hörte, wie jemand pfiff.“ Einen Moment lang glaubte ich, mein Freund wollte mich auf den Arm nehmen, aber ich kannte Aron lange genug, um zu wissen, dass er in solcher Situation keine Späße macht. „Er hörte, wie jemand pfiff?“, wiederholte ich dennoch ungläubig. „Er wartet am Streifenwagen von den Kollegen, die als erste am Tatort eintrafen. Am besten, du lässt es dir von ihm selbst erklären.“ Was in Anbetracht der Lage ohne Frage das Beste war.

„Guten Morgen, mein Name ist Winter. Ich bin der ermittelnde Hauptkommissar. Ich schlage vor, wir setzen uns auf eine Tasse Kaffee in die Kneipe da vorn und Sie erzählen mir noch einmal ganz von vorn, was Sie gesehen und vor allem, was Sie gehört haben.“ Der Zeuge reckte die Hände zum Himmel. „Mama Mia, Kommissario, ich habe Ihre Kollega doch schon alles erklärt. Meine Frau wird sich schon Sorgen um mich machen.“ „Also schön, wenn es Ihnen lieber ist, dann bringen wir Sie halt nach Hause.“ „Madonna, nur das nicht! Alles was Sie wollen, Kommissario, nur das nicht!“

Mir war zwar schleierhaft, warum es dem Mann unangenehm war, von uns begleitet zu werden, aber offensichtlich hatte er triftige Gründe, seine Meinung spontan zu ändern. „Also, dann nun doch in die Kneipe?“ „Si.“

Das ‚Papagallo' war eine jener gemütlichen kleinen Kneipen, für die Bremens Altstadt bis weit über ihre Grenzen hinaus bekannt war. Den Gast erwartet ein verträumtes Ambiente mit offen liegendem Fachwerk, urigen Nischen und einem gepflegten Bier in lauschiger Atmosphäre. Wir setzten uns in eine dieser Nischen unweit des Eingangs und bestellten eine ganze Kanne Kaffee. Marcello Poldini war Kellner im Restaurant ‚Casa Trulli', welches sich in Höhe der dritten Schlachtforte befindet. Seinen Angaben zu Folge befand er sich auf dem Heimweg, als er die Tote entdeckte.

„Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, als Sie zum Tatort kamen?“, brachte ich seine Ausführungen auf den Punkt. „Madonna!“ Die Augen des Italieners traten ein Stück weit aus ihren Höhlen hervor. Er bekreuzigte sich. Es war grauenhaft, wenn ich nur denke daran, läuft es mir kalt über meine Rücken. Glauben Sie mir, Kommissario, diese Melodie ist das Lied von a Diablo.“ „Sie haben also jemanden gehört, der eine Melodie pfiff“, fasste ich zusammen. „Was war daran so ungewöhnlich? Wenn ich in der Badewanne sitze, trällere ich auch schon mal ein Liedchen.“ „Scusi, Kommissario, aber wenn Sie mit ihren eigenen Ohren gehört hätten…“ Der Südländer schüttelte konsterniert den Kopf. „Wie kommen Sie darauf, dass es der Täter war, der sich da pfeifend vom Ort des Geschehens entfernte?“, fragte ich an seinen Worten zweifelnd. „Es ist einfach so ein Gefühl, ich kann es nicht beschreiben, aber glauben Sie mir, Kommissario, das kann nur der Mörder gewesen sein.“

 

 

 

-6-

 

„Nun Mike, was hältst du von der Sache?“ Während sich Edda und Aron im Milieu umhörten, hatte mich mein väterlicher Freund, Kriminalrat Gerd Kretzer, zum Bericht in sein Büro gebeten. „Ich habe kein gutes Gefühl bei diesem Fall. Es ist nicht nur die Art und Weise, wie diese Prostituierte ermordet wurde, es sind vielmehr die mysteriösen Nebensächlichkeiten, die eine gewisse Unruhe in mir auslösen.“ „Ich nehme an, du sprichst von der Schmiererei auf der Stirn des Opfers?“ „Woher weißt du davon?“ „Wäre ich dein Chef, wenn ich nicht wüsste, was die Spatzen längst von den Dächern pfeifen?“ „Womit du mir gerade das Stichwort für die nächste Absonderlichkeit geliefert hast.“ Gerd sah mich forschend an. „Du weißt also doch noch nicht alles“, schlussfolgerte ich aus seinem Blick. Es gibt einen Ohrenzeugen. Der Zeuge, der die Tote fand und die Polizei verständigte, will gehört haben, wie der Mörder eine Melodie pfiff, als er sich vom Tatort entfernte. Ich weiß, was du jetzt sagen willst…“, fügte ich schnell hinzu, ehe mir Gerd seine Meinung über diese reichlich merkwürdig klingende Geschichte entgegenhielt. „…aber der Mann klang bei seiner Befragung weder unglaubwürdig noch war er betrunken.“

Gerd sah mich eine Weile gedankenvoll an. „Hältst die Aussage des Zeugen für real?“ Ich wog nachdenklich den Kopf. „Wir können seine Angaben nicht ignorieren.“ „Also schön, schnapp dir den Mann und fahr mit ihm zu Radio Bremen. Ich rufe dort inzwischen einen guten Bekannten an, der mir noch einen Gefallen schuldig ist. Er wird mit dir und dem Zeugen im Tonstudio herausfinden um welche Melodie es sich handelt.“ „Ich schürzte anerkennend die Lippen. „Gute Idee, vielleicht kommen wir ja wirklich einen Schritt voran, wenn wir wissen, um was für eine Musik es sich handelt.“ „Du solltest darüber hinaus aber auch nach weiteren Ansatzpunkten suchen“, mahnte der Kriminalrat. „Warum schrieb der Mörder dem Opfer das Wort ‚Hure' auf die Stirn?“

Gerd Kretzer erhob sich und ging zum Fenster hinüber. Nachdem er eine Weile tonlos auf die Dächer der Altstadt und die daran angrenzenden Wallanlagen geschaut hatte, wandte er sich mir wieder zu. „Ich habe die Fotos vom Tatort gesehen und auch ich werde das Gefühl nicht los, dass uns der Täter sowohl mit dem Wort ‚Hure' als auch mit dem zurückgelassenen Nylonstrumpf und vielleicht auch mit der Melodie, die er pfiff, als er den Ort des Verbrechens verließ, etwas sagen will.“ Dann sah er mich eindringlich an. „Sieh zu, dass ihr den Täter aus dem Verkehr zieht, ansonsten wird es weitere Opfer geben, davon bin ich überzeugt.“

Ich trank meinen Kaffee aus und machte mich auf den Weg, um Marcello Poldini von zu Hause abzuholen. Der Italiener wohnte Stephanstraße, Ecke Kalkstraße. Seine Wohnung befand sich, seinen Angaben zu Folge, in der zweiten Etage des viergeschossigen Hauses. Nach einer Klingel suchte ich vergebens. Da die Haustür ohnehin nicht verschlossen war, gab es kein Problem, in das Haus zu gelangen. Die Suche nach der Wohnung gestaltete sich da schon um einiges schwieriger.

Nach langem Fahnden stand ich endlich vor der richtigen Tür. Zweimal war ich bereits an dem reichlich lädierten Namensschild unter der antiken Türschelle vorbeigerannt. Jetzt endlich hatte ich mir die Zeit genommen, um den ausgeblichenen Namen auf dem Schild zu entziffern. Nachdem ich mir an dem Ding fast die Finger verdreht hatte, wurde die Tür endlich geöffnet.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein? Wenn niemand öffnet, ist auch niemand zu Hause!“ Ohne dass ich auch nur die Chance einer Reaktion gehabt hätte, schlug mir die resolute Person die Tür vor der Nase zu. Kein Wunder, dass der Zeuge so vehement ablehnte, als Aron und ich ihn nach Hause begleiten wollten. Ich kramte also meinen Ausweis hervor und hielt ihn in Augenhöhe. Unerschrocken und auf das Schlimmste gefasst drehte ich erneut an der vorsintflutlichen Rassel.

Mit dem nächsten Wimpernschlag wurde die Tür wieder aufgerissen und der weibliche Dobermann setzte zum Sprung an. Im letzten Moment, das lose Mundwerk bereits weit aufgerissen, bemerkte die Gute meinen Dienstausweis. Schlagartig erstarb die Frau des Italieners in ihrer Bewegung. Nachdem sie sich gefasst hatte, stemmte sie die Fäuste in die Hüften und sah mich herausfordernd an. „Was hat Giovanni schon wieder ausgefressen?“ Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, von wem die Gute sprach. „Ich versichere Ihnen, liebe Frau...“ Weiter kam ich nicht, denn die resolute Person packte mich am Arm und zog mich mit sich in die Wohnung hinein.

„Wenn Sie so laut sind, weiß morgen das ganze Haus, was mein Bruder angestellt hat“, schimpfte sie. „Aber ich war doch gar nicht...“ „Hier haben selbst die Wände noch Ohren.“ Sie sah sich theatralisch um und legte ihren Zeigefinger über die Lippen, während sie flüsternd weiter sprach. „Glauben Sie mir, Kommandante, in diese Haus muss nichts von dem, was zu sein scheint, auch Wirklichkeit sein.“ Dann bekreuzigte sie sich hektisch. Allmählich begann ich an dem Verstand der Südländerin zu zweifeln. Sollte auf unseren Zeugen womöglich etwas von der bizarren Art seiner Frau abgefärbt sein?

Wir setzten uns in die Küche.

Über dem Herd hingen Wolken von Wasserdampf, die, noch ehe sie sich im Raum verflüchtigen konnten, von einer Dunstabzugshaube eingesogen wurden. Auf dem Topf, aus dem sie emporstiegen, tanzte ein Deckel zu blecherner Musik.

„Es geht nicht um Ihren Bruder“, beruhigte ich sie zunächst einmal. „Nicht?“ Die Italienerin starrte mich ungläubig an. „Aber wenn Sie nicht wegen Giovanni hier sind, weshalb denn dann?“ „Marcello Poldini ist doch ihr Ehemann?“, vergewisserte ich mich vorab noch einmal. „Si!“ Sie sprang auf, stemmte erneut ihre Hände in die Hüften und begann innerlich zu brodeln. „Was hat dieser Nichtsnutz...“ Diesmal unterbrach ich sie, in der Hoffnung einem Ausbruch des Vulkans im letzten Moment zuvorzukommen.

„Ihr Mann hat auf seinem Nachhauseweg eine Tote gefunden.“ Die Gute plumpste wie ein Mehlsack zurück auf den Stuhl. „Hat er Ihnen nichts davon erzählt?“ Sie schüttelte entsetzt den Kopf. „Nein, Madonna, nein! Ich habe mich zwar darüber gewundert, dass er erst am frühen Morgen nach Hause kam, aber er ist gleich ins Bett und ich habe ihn schlafen lassen. Er muss ja nachher wieder ins Restaurant.“ „Passiert es öfter, dass ihr Mann so spät von der Arbeit kommt?“, erkundigte ich mich ohne besonderen Grund. „Si, es kommt schon mal vor, aber eher selten.“

„Es wäre nett von Ihnen, wenn Sie Ihrem Gatten sagen könnten, dass ich ihn abholen möchte.“ „Scusi Signor, aber Marcello ist nicht zu Hause.“ Ich sah den erloschenen Vulkan mit einem gewissen Staunen an. „Marcello ist mit seinem Chef beim Großmarkt.“ „Da hat er aber nicht sehr viel geschlafen“, merkte ich an. Seine Frau winkte ab. „Der braucht nicht viel Schlaf.“ „Ist Ihr Mann dort zu erreichen?“ „Si, er hat sein Handy dabei. Aber was wollen Sie von ihm?“ „Hm, wie Sie sich vorstellen können, ist Ihr Mann ein wichtiger Zeuge für uns. Er hat in der vergangenen Nacht zwar schon eine erste Aussage gemacht, aber das muss natürlich noch alles zu Protokoll genommen werden.“

Die Italienerin nickte verständnisvoll. Es gab zwar keinen bestimmten Grund, ihr nichts von meinem wirklichen Vorhaben zu erzählen, aber andererseits bestand ebenso wenig eine Notwendigkeit ihr davon zu erzählen. Vielleicht hatte ich aber auch ganz einfach nur die Befürchtung, dass sie ihren Mann begleiten wollte, wenn sie wüsste, dass ich mit dem Zeugen zu Radio Bremen wollte. Ich erbat also die Telefonnummer seines Handys und verabschiedete mich.

Noch bevor ich losfuhr, nahm ich Verbindung mit ihm auf und verabredete mich vor dem Großmarkt. Etwa eine Dreiviertelstunde später schüttelten wir einer Tontechnikerin von Radio Bremen die Hand. Es handelte sich um eine junge Frau, die den Job noch nicht allzu lange machen konnte.

„Mein Chef sagte mir, es handelte sich um eine Melodie, die möglicherweise eine wichtige Rolle in einem Mordfall spielen könnte“, kam sie ohne Umschweife zur Sache. „So ist es“, bestätigte ich, da ich nicht wusste, was der Kriminalrat hatte verlautbaren lassen, um uns diese Möglichkeit zu erschließen. „Es geht doch nicht etwa um den Mord an der Schlachte?“ Auch wenn diesbezüglich noch nichts darüber in der Zeitung zu lesen war, brauchte ich mich nicht wundern, dass sie dennoch gut informiert war. Schließlich befanden wir uns an einem Ort, der die aktuellsten Meldungen über den Äther verbreitete.

„Kannten Sie die Frau?“, fragte ich, ohne ihre Annahme zu bestätigen. „Gott bewahre, eine Prostituierte“, wiegelte sie entsetzt ab, während sie uns das Tonstudio aufschloss. Mit genau dieser Reaktion hatte ich gerechnet. Sie knipste das Licht an, legte etliche Schalter um und nahm Gerät um Gerät der gigantischen Audioanlage in Betrieb. „Na, dann summen Sie mir doch mal die Melodie vor“, wandte sie sich dem Italiener zu. Der tat so gut er konnte, um was er gebeten wurde. Leider offenbarte sich ausgerechnet unser Zeuge als einer von wenigen Südländern, denen man nur ein Mindestmaß an Taktgefühl zuschreiben konnte. Die Tontechnikerin tat mir spätestens nach seinem dritten Anlauf Leid. Wie sollte sie nach drei völlig unterschiedlichen Variationen undefinierbarer Klänge herausfinden, welche Melodie dem Italiener durch den Kopf ging? „Nun“, seufzte sie, „…es wird nicht leicht. Nehmen Sie bitte Platz, meine Herren und setzen Sie die Kopfhörer auf.“

Wir taten, um was uns die junge Frau bat. „Lassen Sie es mich bitte wissen, sofern eine der Melodien, die Sie gleich hören werden, in die Richtung geht, die Ihnen im Gedächtnis haftet.“ Kurz darauf dudelten die ersten Rhythmen durch die gepolsterten Hörmuscheln. Die Bandbreite der gespielten Musik erstreckte sich von Klassik über Gospel, Soul, Blues, Country und Western Musik bis hin zu Pop und Rock. Immer wieder schüttelte der Zeuge mit dem Kopf, immer wieder gab er der Tontechnikerin Hinweise und summte ihr einige Takte vor. Langsam aber sicher kristallisierte sich schließlich eine bestimmte Musikrichtung heraus, die an New Orleans' goldene Zeiten erinnerte.

„Si, si!“, rief Marcello Poldini plötzlich sichtlich erregt. „Genau das ist die Melodie, die ich vergangene Nacht hörte. Kein Zweifel, ich bin mir ganz sicher“, verkündete er aufgewühlt. „Sind Sie sich wirklich absolut sicher?“, hakte ich nach. „Si Kommissario, es gibtee keine Zweifel!“

 

 

 

-7-

 

„Lass gut sein, Rocky, wir wissen womit du deine Brötchen verdienst“, verkündete Edda in gewohnt selbstbewusster Manier. „Darum geht es hier und heute nicht, wie du dir denken kannst.“ Der Zuhälter setzte sein breitestes Grinsen auf. Seine hochglanzpolierten Jacketkronen blitzten im ultravioletten Licht der Neonbeleuchtung. „Ich bin ein ehrlicher Steuerzahler und Geschäftsmann. Sie wissen, mein Lokal ist sauber. Hier laufen keine krummen Sachen“, erklärte er mit breiter Brust. „Was führt Sie also zu mir? Wie kann ich Ihnen behilflich sein.“

Aron machte sich auf dem Barhocker neben dem Zuhälter breit. „Sie müssen nicht erst im Kaffeesatz lesen, um zu wissen, dass wir wegen dem toten Mädchen hier sind.“ „Und, was habe ich damit zu schaffen?“ „Kann es sein, dass die Tote für Sie unterwegs war?“, fragte Edda nun wieder von der anderen Seite. Der Lude wandte sich zu ihr. „Ich verheize meine Mädchen nicht auf der Straße.“ Meine Kollegin stutzte. „Die Girlies sind mein Kapital. Haltet ihr mich wirklich für derart kurzsichtig?“ „Lassen wir die Spielchen“, mischte sich Aron wieder ein, „…wir wissen, dass du da draußen einige Pferdchen laufen hast. Wenn die Tote eines deiner Mädels war…“ „…würde ich die Sache auf meine Weise regeln“, fiel ihm der Zuhälter ins Wort. „…dann bekommen wir es früher oder später doch heraus“, vollendete Aron seinen Satz mit einem souveränen Lächeln.

„Also schön, soviel ich weiß, war die Kleine auf eigene Rechnung unterwegs.“ „Na, dann müsste sie dir ja ein ziemlicher Dorn im Auge gewesen sein“, mutmaßte Edda. „Aber ich bitte euch, wir leben in einem freien Land, hier kann jeder leben, wie es ihm gefällt.“ „Vorausgesetzt, er hält sich an deine Regeln“, brachte es Aron auf den Punkt. „Klar war ich nicht gerade glücklich darüber, dass mir die Schwalbe einen Teil der Kundschaft abfischte, aber deswegen blase ich ihr doch nicht gleich das Licht aus.“ „Neiiin“, erwiderte Edda gedehnt, „…dafür hast du ja schließlich deine Lakaien. Ich sehe das so: die Kleine hat sich nicht von dir einschüchtern lassen, da blieb dir nichts anderes übrig, als ein Exempel zu statuieren.“

Rocky federte von seinem Barhocker. „Ihr zwei lauft ja wohl völlig neben der Spur. Glaubt, was ihr wollt, aber kommt erst wieder, wenn ihr handfeste Beweise gegen mich habt. Und jetzt müsst ihr mich entschuldigen, ich habe zu tun.“ Seine blitzweißen Jacketkronen funkelten nicht mehr, denn das Lachen war ihm vergangen, als er reichlich mürrisch die Reihe seiner wie Zinnsoldaten dastehenden Barhocker abschritt. Aron schaute ihm interessiert nach. „Auf sonderlich großem Fuß lebst du aber nicht gerade.“ Der Zuhälter drehte sich verwundert um. „Was soll denn das schon wieder?“ „Du hast sicherlich ein Alibi für die Zeit des Mordes?“, forderte ihn Aron heraus. Der Lude zeigte erneut seine Zähne. „Wann soll denn das gewesen sein?“, fragte er schließlich wie jemand der glaubt, gerade eine Finte pariert zu haben.

„Es wäre nicht schlecht, wenn du uns einen Zeugen benennen könntest, der weiß, wo du dich zwischen Mitternacht und zwei Uhr aufgehalten hast“, präzisierte Aron. „Einen? Ich werde euch Hundert nennen!“ „Einer reicht uns“, mahnte Edda, „…er sollte allerdings glaubwürdig sein.“ Der Lude winkte großspurig ab. „Ich war den ganzen Abend hier, das können euch etliche Gäste bestätigen. Diesmal werdet ihr Bullen euch die Zähne an mir ausbeißen.“ „Im Gegensatz zu dir nehmen wir den Mund nicht so voll“, entgegnete Edda, während sie ihren Notizblock zückte. „Dann schieß mal los.“ Der Zuhälter und Barbesitzer nannte einige Namen vermeintlicher Zeugen, die sein Alibi bestätigen sollten, wusste aber nur die Adressen seiner Angestellten.

„Also schön, wir werden dein Alibi überprüfen“, resümierte Edda, „…aber wenn deine Angaben nicht hieb und stichfest sind, stehen wir schneller wieder auf deiner Matte, als dir lieb sein wird.“ „Wenn du allein an meine Tür klopfst, soll es mir auch recht sein“, entgegnete Rocky neckisch. „Dass du dich da mal nur nicht übernimmst, so was wie dich nehme ich zum Frühstück, zwischen Müsli und zwei Eiern im Glas.“

Damit ließen meine Partner den Zuhälter stehen und verließen seine Bar. „Was meinst du, glaubst du, er hat was mit dem Mord zu tun?“, fragte Aron seine Kollegin, während sie die Straße überquerten, um zu ihrem Dienstwagen zu gelangen. „Oh nee, nicht schon wieder“, ereiferte sich Edda. „Nun guck dir diesen Scheiß an! Das ist schon das dritte Knöllchen innerhalb einer Woche.“ Aron winkte ab. „Was regst du dich auf, müssen wir doch nicht bezahlen. Schließlich waren wir dienstlich hier.“ „Schon, aber jedes Mal der verdammte Papierkrieg. Mir hängt das echt zum Hals heraus.“ „He Edda, was ist los mit dir? So genervt kenne ich dich ja gar nicht.“ Die kampfsportgestählte Vorzeigepolizistin verdrehte ihre grünen Augen. „Typen wie der gehen mir einfach auf den Keks. Ich kann nicht verstehen, dass es Mädchen gibt, die auf solche Schweine hereinfallen.“ Aron zuckte mit den Schultern. „Tja, ich weiß auch nicht, was ich verkehrt mache.“ „Blödmann!“

Mein Freund grinste sich eins, während er sich auf dem Beifahrersitz niederließ. „Aber jetzt mal Spaß beiseite, hast du seine kleinen Füßchen gesehen? Die waren doch sicher nicht größer als vierzig, einundvierzig.“ „Du meinst, die könnten mit der Abdruckgröße übereinstimmen, die am Tatort sichergestellt wurde?“ Aron rieb sich nachdenklich die Nase. „Rocky ist zwar kein Fliegengewicht, aber allzu schwer dürfte er auch nicht sein.“ Edda seufzte. „Was nutzt das, wenn auch nur einer von den Leuten, die ich auf meinem Zettel habe, sein Alibi bestätigt?“ „Sicher, aber soweit ist es ja noch nicht. Wir werden denen gewaltig Dampf unter dem Hintern machen. Sollte ihm auch nur einer ein Gefälligkeitsalibi geben, reißen wir dem Kerl den Allerwertesten auf!“

 

-8-

 

Ein weiß getünchter Raum, nicht größer als eine Garage, ohne ein Fenster, dafür jedoch mit einem Waschbecken und einer Toilette. Für eine Decken-lampe war der Raum zu niedrig, deshalb erhellten einige Wandlampen das Zimmer. Neben ihnen hingen Fotos. Viele Fotos, die alle ein und dasselbe Motiv hatten. Es zeigte das Abbild einer Frau, einer Frau in den besten Jahren, einer Frau, die auf jedem dieser Fotos mit einem strahlenden, einem glücklichen Gesicht zu sehen war.

Eine Person betrat den Raum. Sie schlich fast herein, vermied jede Art von Lärm, ja, fast konnte man ihren Atem hören. Sie schritt jedes der Fotos ab, betrachtete sie, als seien es teure Gemälde in einer bedeutenden Galerie. Ihre Blicke schienen jeden dieser auf Zelluloid gebannten Augenblicke zu verinnerlichen. Sie schienen mit ihnen förmlich zu verschmelzen. Unvermittelt huschte ein sakrales Lächeln über das Gesicht des Betrachters, dann wandte sich die Person dem nächsten Foto zu. Das Ritual wiederholte sich, bis sie auch die letzte Momentaufnahme in sich eingesogen hatte.

Zielstrebig, aber ohne Eile durchmaß die Person den Raum und steuerte eine große Truhe an, über der ein weißes Tischtuch ausgebreitet lag. Auf einer Art Altar stand ein weiteres Foto, auf dem dieselbe Frau, diesmal mit einem Kind an der Hand, zu sehen war. Verschwitzte Hände zündeten die Kerzen an, die neben dem besagten Foto standen. Dieselben Hände griffen nach dem Rahmen, in dem die Aufnahme steckte und pressten es an die Brust. Tränen rannen über das traurige Gesicht, tropften auf den Rahmen und bildeten auf dem Glas einen Wasserfleck, der sogleich mit einem Ärmel wieder abgewischt wurde.

Der Atem der Person wurde schwerer, war jetzt deutlich zu vernehmen, versetzte die Luft in dem kleinen Raum in ein Meer aus Vibrationen. Ihre Atemzüge wurden noch intensiver, sogen die scheinbar elektrisierte Luft bis tief in ihren Körper ein, durchfluteten ihn und brachten neues Leben. Die anfangs so ermattet wirkende Person schien sich aus einem Quell scheinbar unerschöpflicher Kraft zu bedienen. Ja, sie wuchs mit dieser neuen Energie von einem Lazarus zu einem wütenden Berserker. Erst als sie genug Kraft in sich verspürte, stellte sie das Foto auf den Altar zurück, blies die Kerzen aus und verließ den Raum.

Zurück blieben die Fotos an den Wänden, auf denen die glücklichen Momentaufnahmen aus dem Leben einer Frau festgehalten schienen, doch war dies noch dasselbe Lächeln wie zuvor? Konnte es sein, dass sich dieses Lächeln in Kummer und Herzweh verwandelt hatte? Fast konnte man meinen, die Frau auf den Fotos würde jetzt weinen. Wie konnte dies möglich sein, oder lag die schier unglaubliche Wandlung nur in den Augen des Betrachters begründet?

 

 

 

-9-

 

Marcello Poldini und die Tontechnikerin von Radio Bremen hatten tatsächlich geschafft, was ich kaum zu hoffen gewagt hatte. Die sonderbare Melodie, die der Italiener am Ort des Verbrechens gehört hatte, war ein Blues mit dem Titel ‚ The Things That I Used To Do ', wie uns Regina Hildebrandt verriet. „Mehr über diesen Song und den Blues im Ganzen kann Ihnen wahrscheinlich Dieter Hoegen sagen. Er ist der Leiter von Crosscut Records, dem führenden Blueslabel in Deutschland.“ Über soviel Fachkompetenz konnte ich nur den Hut ziehen. „Sie können mir nicht zufällig sagen, wo ich diesen Dieter Hoegen finde?“ „Drei Straßen weiter“, entgegnete sie zu meiner Überraschung. „In der Karl-Kautzky-Straße, unmittelbar vor der Berliner Freiheit.“

„Eigentlich ein schöner Song“, befand der Italiener. „Leider war der Anlass, zu dem er gepfiffen wurde, weniger schön.“ „Da haben Sie wohl Recht, Herr Poldini.“ Ich wandte mich noch einmal mit einem bittenden Gesichtausdruck an die Tontechnikerin. „Sagen Sie, wäre es wohl möglich, mir die Aufnahme für kurze Zeit zur Verfügung zu stellen?“ Mit ihrer Antwort reichte sie mir eine CD herüber. „Ich habe Ihnen den Song bereits auf eine Compact Disk gebrannt. Die können Sie behalten.“ Ich war geradezu von den Socken. „Sie haben etwas gut bei mir.“ „Ich nehme Sie beim Wort, Herr Winter“, lachte sie, während sie einen Blick auf ihre Armbanduhr warf. „Sie müssen mich jetzt leider entschuldigen, ich habe gleich einen wichtigen Termin.“ „Aber ich bitte Sie, ohne Ihre Hilfe hätten wir dieser Melodie niemals ein Gesicht geben können.“ „Immer gern zu Ihren Diensten“, lächelte sie, während sie uns im Foyer des Senders verabschiedete.

 

„Das alles war sehr interessant für mich, Herr Winter“, bekundete der Zeuge auf dem Weg zu seiner Arbeitsstätte. Das ‚Casa Trulli' befand sich in der Nähe der zweiten Schlachtpforte. Es gehörte zu den Restaurants der gehobenen Klasse und zählte deshalb nicht unbedingt zu den Stammlokalen eines Beamten mittlerer Besoldung. Abgesehen davon war ich überzeugt, dass es ohnehin nicht mit der ausgezeichneten italienische Küche unseres Italieners mithalten konnte. Angelo Brodi war nicht nur der Besitzer des Venezia, er war in all den Jahren, in denen Gerd Kretzer und ich dort verkehrten, so etwas wie ein Freund für uns geworden. Darüber hinaus verfügte er über ausgezeichnete Kontakte zur Unterwelt.

„Wie wäre es noch auf einen Vino, oder vielleicht haben Sie ja auch Appetit auf ein gutes Essen?“, lud mich der Italiener ein. „Haben Sie vielen Dank, Herr Poldini, aber ich komme gern ein anderes Mal darauf zurück.“ Der Zeuge stieg aus, nickte mir nochmals freundlich lächelnd zu und verschwand im Eingang des Restaurants. Bevor ich meinen Weg fortsetzte, kam mir der unbestimmte Gedanke, irgendetwas übersehen zu haben.

 

Das Gebäude, in dem sich der Musikverlag mit dem wohlklingenden Namen Crosscut Records befand, war relativ leicht zu finden. Ich war schon viele Male daran vorbeigefahren, ohne Notiz davon genommen zu haben. Der Crosscut Records stand die gesamte zweite Etage eines Bürohauses zur Verfügung. Schon die eindrucksvolle Marmortafel am Eingangsportal des mehrstöckigen Büro und Geschäftshauses deutete auf ein florierendes Unternehmen hin.

Dementsprechend beeindruckt war ich auch von der sauerstoffblonden Empfangsdame, die hinter einem gläsernen, lichtdurchfluteten Schreibtresen auf Besucher lauerte. „Offensichtlich lässt sich in der Musikbranche gutes Geld verdienen“, stellte ich fasziniert von dem gehobenen Ambiente fest, welches mich schon im Foyer der Crosscut Records erwartete. Die dralle Blondine schien von meiner Feststellung nicht sonderlich gerührt, tat so, als habe sie meine Worte nicht vernommen. Statt-dessen sah sie mir eher gelangweilt entgegen.

„Willkommen bei Crosscut Records. Was kann ich für Sie tun, mein Herr?“ „Mein Name ist Winter.“ Ich ließ meinen Ausweis aufblitzen. „Die Polizei?“, zuckte sie zusammen. „Ist etwas passiert?“, fragte sie erschrocken.“ Ihr üppiges Dekolletee hob und senkte sich in atemberaubendem Tempo. „Nein, nein ich würde nur gern mit einem Herrn Hoegen sprechen“, entgegnete ich ihr beruhigend. „Ich nehme an, Sie verfügen über einen Termin?“, fasste sie sich umgehend. „Leider nicht, aber ich denke Herr Hoegen wird sich die Zeit nehmen müssen“, erklärte ich bestimmt. „Ich ermittle in einem Mordfall. Da kann ich leider keine Rücksicht auf die Terminplanung Ihres Chefs nehmen.“ Sie griff nach dem Telefonhörer. „Also schön, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“

Nur wenige Minuten später führte mich die Empfangsdame in das Büro ihres Chefs. Dieter Hoegen kam mir mit ausgestreckter Hand entgegen. „Bitte Sternchen, bringen Sie uns einen Kaffee. Sie trinken doch Kaffee?“ „In meinem Job geht es gar nicht ohne“, gab ich schmunzelnd zurück. „Oh, wie schön, ein Hauptkommissar, wenn ich recht verstanden habe, der noch Humor besitzt.“ „Ist das Leben auch ohne zu ertragen?“, fragte ich bedeutungsvoll zurück.

„Sternchen sagte mir, Sie ermitteln in einem Mordfall?“, kam er ohne Umschweife zur Sache, noch während er mir einen Platz in einer eleganten Sitzgruppe zuwies. „Ich hoffe doch, dass sich keiner meiner Mitarbeiter auf diesem Wege eines Kontrahenten entledigt hat?“ Ich zog die Hülle mit der CD hervor, die ich von Regina Hildebrandt bekommen hatte. „Seien Sie doch so nett und hören Sie sich den Song darauf an“, bat ich den athletisch wirkenden Mann, dessen Alter ich auf etwa Anfang fünfzig schätzte. „Meinen Sie nicht, dass dies ein eher ungewöhnlicher Weg ist, um eine Demodisk bei mir vorzustellen?“ Ich lächelte kopfschüttelnd. „Sie missverstehen mich, Herr Hoegen, der Song auf dieser CD hat möglicherweise etwas mit dem Mordfall zu tun, in dem ich gerade ermittle.“ „Zugegeben, einen Moment lang dachte ich…“

Der Chef der Crosscut Records erhob sich und legte die Disk in seine Stereoanlage, die in einem der Schränke integriert war. Schon nach den ersten Klängen wusste er, um welchen Blues es sich handelte. „ The Things That I Used To Do! Eine alte Aufnahme aus dem Jahre 1953.“ Er nickte mit einem versonnenen Gesichtsaus-druck. „Das Stück habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. So etwas Wundervolles wird heutzutage gar nicht mehr aufgenommen. Es handelt sich um einen Song von Guitar Slim. Leiter der Aufnahmesession war, wenn ich mich recht erinnere, der junge Ray Charles.“ Hoegen sah mich verwundert an. „Aber was soll dieser Song mit einem Mord zu tun haben?“ „Um genau das zu klären, bin ich zu Ihnen gekommen.“

Während der Blues weiter spielte, setzte sich der inzwischen sehr nachdenklich wirkende Mann wieder neben mich. Sternchen trug unterdessen ein Tablett mit herrlich duftendem Kaffee herein und setzte es direkt vor mir auf dem Glastisch ab. So tief, wie sie sich dabei bückte, so tief war auch der Einblick, den sie mir dabei in ihr Dekolletee gewährte.

„Ich weiß zwar offen gestanden noch nicht so recht, wie ich Ihnen behilflich sein kann, aber…“ „Ehrlich gesagt weiß ich das auch noch nicht.“ Ich erklärte Dieter Hoegen mit knappen Worten, was sich in der vergangenen Nacht zugetragen hatte und wartete gespannt auf eine Reaktion. „Tja, Herr Winter, vielleicht sollte ich Ihnen zunächst von meinem Vater, Detlev Hoegen erzählen. Der hat nämlich damals die Crosscut Records begründet und die Firma durch die Aufnahme und den Vertrieb von Blues Platten einen bedeutenden Marktanteil im deutschsprachigen Raum gesichert. Man könnte meinen alten Herren auch als einen Wegbereiter des Blues im westlichen Europa bezeichnen.“ „Hm, das alles liegt Jahrzehnte zurück und wird mir wohl kaum weiterhelfen“, seufzte ich resignierend. „Tja, außer der jährlichen Bluesfestivals, die übrigens auch hier in Bremen stattfanden und für die ich Pate stand, gab es da in den vergangenen Jahren nicht mehr allzu viel.“ Ich horchte auf. „Bluesfestivals?“ „So ist es. Bis vor einigen Jahren fanden auch hier bei uns in Bremen regelmäßig Festivals statt.“ „Hm, wenn ich mit meiner Vermutung richtig liege und es mit diesem Song tatsächlich eine besondere Bewandtnis hat, würde ich gern alles über diese Festivals erfahren.“ „Da gibt es im Grunde nur einen, der Ihnen da weiterhelfen kann – der alte Gustaf – wie er von uns genannt wurde.“ „Gustaf?“ „Ja, bevor wir auf die elektronische Datenverwaltung umgestellt haben, war Gustaf unser Archivar. Ich sage Ihnen, Herr Winter, der Mann ist trotz seines Alters besser als jedes Elektronengehirn. Letztes Jahr ist er in den verdienten Ruhestand getreten. Sternchen wird Ihnen seine Adresse geben.“

Ich bedankte mich für die Zeit, die sich der Chef der Crosscut Records für mich genommen hatte und nahm mir vor, den ehemaligen Archivar noch am selben Tag aufzusuchen. Leider kam einmal mehr alles ganz anders.

 

-10-

 

Eine SMS ließ mich meine Pläne einstweilig aufschieben. Das Obduktionsergebnis lag bereits vor. Der Rechtsmediziner hatte also Wort gehalten. Somit führte mich der nächste Weg in das rechtsmedizinische Institut. Wie man sich denken kann, war ich nicht zum ersten Mal dort und doch befiel mich auch jetzt wieder dieses gewisse Unbehagen, welches auf meiner Brust lastete wie ein zentnerschwerer Sack Mehl. Mit jedem Schritt, dem ich dem Obduktionssaal näher kam, vergrößerte sich der Kloß in meinem Hals. Lächerlich, ich weiß, aber man kann halt nicht raus aus seiner Haut. Zumindest nicht solange, wie man nicht selber auf einem Seziertisch Platz genommen hat.

„Ah, da bist du ja, Mike“, begrüßte mich Doktor Knut Hansen. „Ich sehe schon, es geht dir mal wieder nicht allzu gut.“ „Ich kann mich einfach nicht an diesen Anblick gewöhnen. Solange die Opfer nicht auf deinem Tisch liegen, geht es ja noch, aber das Wissen darum, dass du sie zuvor aufgeschnitten hast, schnürt mir jedes Mal die Kehle zu.“ Knut schlug mir aufmunternd auf die Schulter. „Wenn du wüsstest, wer bei diesem Anblick schon alles umgekippt ist, würdest du es nicht für möglich halten. Ich fände es viel schlimmer, wenn ein solcher Anblick einfach so an dir abprallen würde.“ Trotz der aufmunternden Worte des Mediziners kam ich mir wie eine Mimose vor.

 

„Na, dann schieß mal los, Knut“, lenkte ich unser Gespräch auf den Grund meines Besuches. „Der Mageninhalt des Opfers war noch unverdaut, was zum einen den Todeszeitpunkt relativ genau eingrenzen lässt und zum anderen auf einen Snack aus einem Fast Food Restaurant schließen lässt.“ Diese Aussage fand ich sehr interessant, eröffnete sie uns doch einen gewissen Ansatzpunkt bei der Rekonstruktion der letzten Stunden im Leben der Ulla Brinkmann.

„Beim Todeszeitpunkt würde ich mich auf etwa ein Uhr festlegen wollen. Plus/minus fünfzehn Minuten versteht sich.“ „Versteht sich“, nickte ich ihm zu. „Hast du unter ihren Fingernägeln irgendwelche Hautpartikel oder so was finden können?“ „Tja, mein Lieber, da muss ich dich leider enttäuschen. Einen Kampf scheint es nicht gegeben zu haben. Die Ärmste muss von dem Angriff völlig überrascht worden sein.“ „Das deckt sich leider mit dem, was Hans Stockmeier sagte.“ Knut machte ein triumphierendes Gesicht. „Ich habe dennoch etwas für dich.“ „Mach's nicht so spannend“, forderte ich ungeduldig. „Das Opfer war etwa in der sechsten Schwangerschaftswoche.“ „Oh, das wirft in meiner Liste möglicher Tatmotive einen völlig neuen Aspekt auf.“

Der Rechtsmediziner wog abschätzend den Kopf. „Ich denke, ich weiß, in welche Richtung deine Überlegungen laufen“, sinnierte er. „Das setzt natürlich voraus, dass die junge Frau überhaupt etwas von ihrer Schwangerschaft wusste.“ „Ich bitte dich, eine Frau, die zwei Wochen über die Zeit ist, muss doch spüren, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.“ „ Du würdest es sicher merken, davon bin ich überzeugt, aber wenn alles annähernd normal verläuft, ist es durchaus möglich, dass eine Frau erst im dritten Monat etwas von ihrer Schwangerschaft bemerkt. Überdies darfst du nicht vergessen, auf welchem beruflichen Terrain sich das Opfer bewegte. Hormonelle Störungen und ein oftmals einhergehendes Drogenproblem sind in diesem Gewerbe an der Tagesordnung.“ „Stimmt, daran hatte ich nicht gedacht“, stimmte ich dem Mediziner seufzend zu. „Ich schätze, da wartet noch eine Menge Arbeit auf euch.“ „Da magst du Recht haben.“ „Immerhin ist es mir aber gelungen, einen DNA fähigen Abgleich zu erstellen.“ Ich war nicht sicher, ob ich Knut richtig verstanden hatte. „Du meinst, dass es möglich ist, den vermeintlichen Vater des Kindes anhand der DNA zu überführen?“ „Dazu müsstet ihr den Mann natürlich erst einmal ermitteln.“ „Ha“, lachte ich auf, „…nichts leichter als das.“

Ich bedankte mich bei Knut Hansen und machte mich auf den Weg ins Präsidium an der Ostertorstraße. Vor dem Paternoster in der großen Eingangshalle traf ich auf Heinrich Eisenhardt, ein wirklich ausgezeichneter Profiler, dessen fachlicher Rat mir schon mehrfach bei der Lösung spezieller Fälle weiter geholfen hatte. Dass er, wie die meisten Psychologen meiner Erfahrung nach einen leichten Tick hatte, machte ihn nicht weniger kompetent. Ich beschrieb ihm grob umrissen, um was es ging und bat ihn, uns beim Erstellen eines Täterprofils zu unterstützen. Der Mann mit den stets abgewetzten Cordhosen und den ungeputzten Schuhen versprach mir, mich so bald wie möglich in meinem Büro aufzusuchen.

„Hallöle!“, trällerte ich eigentlich recht zufrieden, als ich die Tür zum Büro der Mordkommission 2 aufstieß und Edda und Aron am Schreibtisch sitzen sah. Immerhin war ich einige Schritte vorangekommen. Ob sie in die richtige Richtung wiesen, musste sich zwar noch erweisen, aber zumindest gab es bereits einige Ansatzpunkte, an denen man die weiteren Ermittlungen anknüpfen konnte.

„Seid Ihr schon länger hier?“, fragte ich neugierig. „Nö, wir sind auch grade erst rein“, verkündete Edda, die sich mal wieder mit dem Kollegen Computer überworfen hatte. „Du bist ja so gut drauf“, stellte Aron fest. „Es gibt Neuigkeiten, aber zuerst möchte ich wissen, was ihr zwei Hübschen in Erfahrung gebracht habt.“ „Viel ist's nicht“, nahm Edda den Faden auf. „Zunächst waren wir in der Wohnung des Opfers. Große Reichtümer hatte die Brinkmann da nicht gehortet.“ „Ein ziemlicher Dreckstall!“, fügte Aron kopfschüttelnd hinzu. „Und da sagt man immer, Männer wären Schweine.“ „Das bezieht sich eher auf das Gesamterscheinungsbild“, stichelte Edda gekonnt. „Kann es sein, dass du bei der Zubereitung deines Vitaminpunsches heute Morgen zu viele Östrogene erwischt hast?“, konterte Aron nicht weniger schlagfertig. „Leute“, mahnte ich gedehnt, „…lasst es gut sein.“ Edda biss sich auf die Lippen.

„Laut der Unterlagen, die das Opfer in einem Schuhkarton unter dem Bett aufbewahrte, sind ihre Eltern Hans und Annemarie Brinkmann“, führte Aron weiter aus. „Du kennst sie bestimmt. Es handelt sich um den bekannten Herrenausstatter im Walle Center.“ „Stimmt“, griff ich mir theatralisch an den Kopf und fügte sarkastisch hinzu: „Ich kaufe ja meine sämtliche Garderobe dort.“ Unsere Kollegin grinste sich eins. „Ich frage mich nur, weshalb die Kleine derart abrutschen konnte?“ „Och, das hast du doch öfter“, zuckte Edda mit den Schultern. „Behütetes Kind aus gutem Hause läuft fort, um die große weite Welt zu entdecken. So alt, wie die Menschheitsgeschichte selbst. Da brauchst du nur mal an Hans im Glück zu denken.“ „Allzu viel Glück hat unser Opfer leider nicht gehabt.“

Ich ging an den Kühlschrank und nahm mir eine Cola heraus. Seit meinem Besuch bei Knut Hansen lag ein pelziger Geschmack auf meiner Zunge, „Was habt ihr im Milieu herausgefunden?“ „Wir haben unserem speziellen Freund Rocky ein wenig auf den Zahn gefühlt. Er verfügt über ein recht gutes Alibi. Allem Anschein nach hat er sich zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens in seiner Bar aufgehalten. Wir haben seine Angaben bereits überprüft. Man kann wohl nicht davon ausgehen, dass ihm alle zehn Zeugen ein Gefälligkeitsalibi geben.“ „Echt schade“, fügte Aron den Ausführungen unserer Kollegin hinzu. „Er hat so kleine Pillefüßchen.“

„Wir sollten die Möglichkeit eines typischen Rotlichtverbrechens dennoch nicht außer Acht lassen“, befand ich. „Übrigens hat das Opfer noch kurz vor ihrem Tod einen Snack zu sich genommen. Wahrscheinlich einen Hamburger oder dergleichen. Genaueres erfahren wir leider erst, wenn die Auswertung aus dem forensischen Labor da ist.“ „Na, das kann dauern“, stellte Aron mürrisch fest. „Deshalb schlage ich vor, dass du in dieser Richtung ermittelst. Ich werde inzwischen den Eltern des Opfers einen Besuch abstatten. Ihr habt sie doch hoffentlich vom Tod ihrer Tochter in Kenntnis gesetzt?“ „Klar, war eine unserer ersten Amtshandlung“, erklärte Edda. „Wir sind direkt zum Geschäft der Brinkmanns gefahren. Die Leute wirkten sehr gefasst. Ich hatte den Eindruck, dass sie früher oder später mit einem solchen Ende ihrer Tochter gerechnet hatten.“ „Es muss schrecklich sein, das eigene Kind auf diese Weise zu verlieren“, grübelte ich.

Ich nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Ihr Inhalt war eisig kalt. „Haben die Brinkmanns noch weitere Kinder?“, fragte ich meine Partner. „Nein, Ulla war ein Einzelkind“, entgegnete Aron. „Sie ist mit siebzehn von zu Hause weg.“ „Was für einen Grund haben die Eltern angegeben?“, hakte ich nach. „Gar keinen. Der Mutter wurde plötzlich schlecht. Herr Brinkmann bat uns, die Befragung ein anderes Mal fortzusetzen.“ „Also doch nicht so gefasst, wie?“ „Das sind sehr couragierte Leute, die tragen ihr Herz eben nicht auf der Zunge“, relativierte Edda ihren ersten Eindruck.

„Bevor ich mich auf den Weg zu diesen tapferen Leuten mache, sollte ich euch noch kurz erläutern, was ich bei Knut Hansen in der Rechtsmedizin erfahren habe.“ Edda und Aron reagierten nicht weniger schockiert, als ich ihnen von der Schwangerschaft des Opfers erzählte. „Das ändert alles!“, fuhr Edda in die Höhe. „Irgend so ein Mistkerl hat sie geschwängert und sie dann aus Angst vor einem Skandal umgebracht.“ „Na, wenn das nicht klassisch ist“, spottete Aron. „Ich fürchte, du liest zu viel von deinen Groschenheften.“ „Womit wir auch schon bei deinem Job wären, Edda. Hör dich doch bitte im Freundes- und Kollegenkreis des Opfers um. Wusste Ulla Brinkmann überhaupt von Ihrer Schwangerschaft und wenn, wem hatte sie sich anvertraut? Gab es Stammfreier, hatte sie einen festen Freund, der als Vater in Betracht kommen könnte? Bring so viel wie möglich über das Opfer und ihr Leben in Erfahrung.“ „Geht klar, Mike“, entgegnete Edda, während sie sich ihre Jacke überwarf. Aron folgte ihr stehenden Fußes.

Ich hatte absichtlich nichts von der CD erwähnt, auf der sich die Melodie befand, die Marcello Poldini angeblich gehört hatte, als er am Tatort eintraf. Das Ganze hing einfach noch viel zu sehr in der Luft, als dass man noch mehr Zeit investieren konnte. Anders formuliert, wollte ich mich nicht für etwas belächeln lassen, was bisher nichts als eine fixe Idee von mir war. Wer wusste schon, ob es tatsächlich der Mörder war, der da fröhlich pfeifend von dannen zog. Ich beschloss, mich vorerst an die Hinweise und Fakten zu halten, die wir bislang gesammelt hatten.

Um besagte Fakten zusammenzutragen, entschied ich mich, zunächst zum Haus der Brinkmanns zu fahren. Ein kurzer Anruf bestätigte mich in der Hoffnung, die Eltern der Ermordeten jetzt zu Hause anzutreffen. Ich hasse es, trauernden Hinterbliebenen lästige Fragen zu stellen, aber meistens ist dies die einzige Möglichkeit mehr über das Opfer einer Gewalttat herauszufinden. Je besser ich mich in dessen Leben einfinden kann, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dem Täter auf die Spur zu kommen.

 

-11-

 

Die Villa der Brinkmanns war unweit ihres Geschäfts im Stadtteil Walle gelegen. Das Anwesen war von einer weiß getünchten Mauer umgeben, die hoch genug war, um die Besitzer vor den neugierigen Blicken der Boulevardpresse zu schützen. Als ich meinen Dienstwagen vor dem Tor stoppte, waren bereits etliche Fotografen und Reporter vor Ort. Ich verzichtete darauf, mit dem Wagen auf das Gelände zu fahren, weil ich befürchtete, dass sich bei meiner Einfahrt einige ungebetene Gäste mit einschleichen könnten. Dass dies wiederum einen Ansturm auf meine Person zur Folge hatte, war von mir nicht in dieser Weise erwartet worden.

„Herr Hauptkommissar Winter“, hielten mir gleich mehrere Reporter ihre Mikrophone an den Mund. Einige der Medienvertreter waren mir bereits aus früheren Zeiten bekannt. „Ist es richtig, dass die Ermordete als Prostituierte ihr Geld verdiente?“ „Wir befinden uns noch ganz am Anfang unserer Ermittlungen“, entgegnete ich nichts sagend. „Sie werden verstehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt keine Aussagen machen kann, die unsere Arbeit unnötig erschweren könnten.“ „Wurde die junge Frau mit einem Nylonstrumpf erdrosselt?“ „Kein Kommentar!“ „Die Presse hat ein Recht auf Informationen!“, hörte ich einen der Paparazzis grölen. „Stimmt es, dass es einen Augenzeugen gibt?“ „Kein Kommentar.“ Die Meute pfiff mich aus wie einen millionenschweren Fehleinkauf auf dem Fußballplatz. „Bitte haben Sie Geduld, meine Herrschaften. Der Staatsanwalt wird Ihnen sicher-lich schon bald eine offizielle Presseverlautbarung zukommen lassen. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen, auch ich muss meinen Job machen.“

Ich ließ die Schar der Medienvertreter hinter mir zurück und begab mich in die Villa des noblen Herrenausstatters.

„Ich hasse diese Hyänen“, sagte Hans Brinkmann, während er aus dem Wohnzimmerfester seiner Villa zum Tor hinüber starrte. „Ach, wissen Sie, die erledigen auch nur ihre Arbeit. Die meisten von denen sind ganz verträglich. Es sind die Ausnahmen unter ihnen, die eine ganze Zunft in Misskredit bringen.“ Der Geschäftsmann wandte sich zu mir um. „Sie haben auch nicht gerade Ihre Tochter verloren.“ Womit er mir zweifelsohne signalisieren wollte, wie viel ihm seine Tochter auch nach dem Verlassen des Elternhauses noch bedeutet hatte.

„Ich kann Sie gut verstehen“, versuchte ich ihm Verständnis entgegen zu bringen. „Nichts können Sie! Ich habe mich seinerzeit mit meiner Tochter überworfen, habe sie für das, was sie tat, verachtet und aus meinem Leben verstoßen. Inzwischen habe ich meine Fehler längst erkannt, jedoch nie den Mut aufbringen können, über meinen eigenen Schatten zu springen, um mein Kind einfach nur in die Arme zu nehmen und ihr zu verzeihen. Verstehen Sie, meine Tochter könnte heute noch leben, wenn ich nicht so ein Feigling gewesen wäre.“

Der Mann in der Salonjacke aus dem Hause Lagerfeld schleppte sich geradezu durch den Raum, griff nach einem Glas und bediente sich an einer Whiskyflasche. „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte Sie nicht brüskieren.“ „Machen Sie sich keine Gedanken, ich bin nicht so empfindlich.“ „Ich nehme an, Sie trinken nicht im Dienst?“ „Doch schon, allerdings nichts Hochprozentiges.“ „Darf ich Ihnen etwas anderes anbieten?“ Ich lehnte dankend ab und suchte nach einer Möglichkeit, dem verzagten Mann die zweite, sicherlich nicht weniger schmerzhafte Nachricht von der traurigen Schwangerschaft seiner Tochter mitzuteilen.

„Wenn Sie gestatten, würde ich mir gern das Zimmer Ihre Tochter ansehen. Es existiert doch noch, oder?“ Hans Brinkmann nippte an seinem Glas. „Natürlich. Meine Frau und ich haben ihr Apartment unverändert gelassen. Wir hofften doch bis zuletzt, dass sie eines Tages wieder den Weg nach Hause finden würde.“ Der von tiefer Trauer gezeichnete Mann setzte das Glas auf der hochglanzpolierten Wurzelholzplatte der kleinen Bar ab und steuerte dem Ausgang entgegen. „Kommen Sie, Herr Winter. Verschaffen Sie sich einen Eindruck davon wie meine Kleine wirklich war.“ Oder von dem, wie er sie gern wollte.

Das Apartment seiner Tochter war das Reich einer Prinzessin. Ich fühlte mich an den oft zitierten unglücklichen Vogel in seinem goldenen Käfig erinnert. War auch Ulla Brinkmann während ihrer Kindheit in diesem Luxus gefangen? Ich suchte nach Fotos, die strahlende, glückliche Augen und Erinnerungen aus unbeschwerten Zeiten zeigten. Was ich fand, waren Siegerpokale, Auszeichnungen für besondere schulische Leistungen und eine junge Frau, die um die Liebe und die Zuneigung ihrer Eltern kämpfte.

„Sie war wie ein Engel“, beschrieb ihr Vater, ohne die ganze Wahrheit zu kennen. „Ein gefallener Engel“, fügte er kaum vernehmlich hinzu. „Warum, in Gottes Namen, hat sie uns das angetan?“ Ich versuchte seine selbstbemitleidenden Wörter zu ignorieren, stöberte in den Aufzeichnungen des Mädchens und fand einen bis ins Mark unglücklichen Menschen. Ja, hatte sich denn niemand in diesem Hause die Mühe gemacht, dieses Mädchen wirklich zu verstehen? Waren ihre Hilferufe an einer Mauer aus Oberflächlichkeiten abgeprallt? Ich war schockiert.

„Sehen Sie sich um, Herr Winter, unserem Prinzesschen hat es doch an nichts gemangelt.“ Ich schluckte meine Antwort herunter, während ich weiter nach irgendetwas suchte, von dem ich noch nicht wusste, was es eigentlich war. „Kann ich das Tagebuch mitnehmen? Sie bekommen es selbstverständlich so schnell wie möglich zurück.“ „Wenn es Ihnen hilft, den Mörder meiner Tochter dingfest zu machen...“ Ich steckte die in traurigen Worten niedergeschriebene Kindheit der Ulla Brinkmann ein und verließ den Raum. Dieser goldene Käfig wirkte auf mich kalt und beklemmend. Mir fehlten darin die Wärme und Geborgenheit, die gerade für einen jungen Menschen so etwas wie eine Bastion vor den Wirren des Lebens sein sollte.

„Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen, es sind noch viele Dinge zu erledigen“, bat mich der Vater des Opfers, während wir uns über die breite Marmortreppe nach unten bewegten. „Ich würde mich eigentlich noch gern mit Ihrem Sohn und Ihrer Gattin unterhalten.“ „Was Paul angeht, gebe ich Ihnen gern seine Telefonnummer. Er besucht zurzeit ein Internat in Luzern. Meine Frau ist shoppen gefahren.“ Ich starrte mein Gegenüber an wie jemand, der gerade sein Gehör verloren hatte. „Es ist Annemaries ganz persönliche Art mit Schmerz umzugehen.“

Nun, man muss nicht alle Menschen verstehen wollen. Ich kramte mein Handy heraus und spielte ihm ohne jeglichen Kommentar den Teil des Louisiana Blues vor, den der Ohrenzeuge am Tatort vernommen hatte. „Was soll das?“, fragte Brinkmann cholerisch. „Diese Melodie pfiff der mutmaßliche Mörder Ihrer Tochter, als er den Ort des Verbrechens verließ. Bitte denken Sie genau nach, ob Sie diese Klänge schon einmal in Ihrem Bekanntenkreis gehört haben.“ Ich spielte ihm die Melodie noch ein zweites Mal vor und wartete auf seine Reaktion. Nachdem die Passage abgespielt war, schüttelte er den Kopf. „Nie gehört und ich glaube auch nicht, dass sich irgendjemand in meinem Freundeskreis einem solchen Hottentottengedudel aussetzen würde.“ „Es handelt sich um den so genannten Louisiana Blues“, erklärte ich informativ. „Wie auch immer, Herr Winter, eine solche Musik gehört nicht zu den Klängen, die ich und meine Familie bevorzugen.“

„Es gibt da leider noch etwas, was ich Ihnen nicht ersparen kann“, fasste ich mir abschließend doch noch ein Herz. „Vielleicht sollten wir uns noch einmal setzten.“ „Ich gab Ihnen doch bereits zu verstehen, dass meine Zeit äußerst knapp bemessen ist. Also bitte, Herr Hauptkommissar, machen Sie es kurz.“ Ich holte noch einmal tief Luft. „Ihre Tochter war schwanger.“ Diese Nachricht trieb ihm nun doch die Farbe aus dem Gesicht. Da half auch alle Contenance nicht. Hans Brinkmann wirkte sichtlich angeschlagen. „Wenn das publik wird, kann ich meinen Laden zusperren!“

Es gelang mir nur mit Mühe mich zu beherrschen. „Wann kann ich meine Tochter beerdigen?“ Nie und nimmer hatte ich mit einer solchen Reaktion gerechnet. Offensichtlich ging es dem Mann in Wirklichkeit um nichts anderes, als die ganze Sache so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen. Je tiefer er seine Tochter dabei beerdigen konnte, desto besser schien es. Der anfänglich so erschüttert wirkende Mann hatte sich letztendlich entpuppt. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil ich ihm und seiner Heuchelei auf den Leim gegangen war. „Sie bekommen Bescheid.“ Ich wandte mich ab und ließ ihn stehen.

 

-12-

 

Der Mann in der zerschlissenen Cordhose saß bereits eine ganze Weile über den Tatortfotos. Immer wieder sah er sich jedes einzelne genau an, bis er sich schließlich erhob und mir einen tiefgründigen Blick zuwarf. „Kannst du mir diese Melodie, von der du vorhin gesprochen hast, einmal vorspielen?“ Ich drückte auf die Playtaste meines Handys und lauschte den irgendwie teuflisch wirkenden Klängen. Der Profiler legte seinen Kopf in den Nacken, wirkte völlig entspannt und doch merkte man ihm deutlich die innere Unruhe an, die ihn befiel.

„Das war erst der Anfang“, sagte er schließlich bestimmt. „Ich glaube nicht an eine Täter Opfer Beziehung. Diese junge Frau hatte einfach Pech. Das Opfer hätte ebenso gut jede andere Prostituierte sein können.“ Ich horchte auf, wollte kaum glauben, was mir Heinrich Eisenhardt gerade zu verstehen gab. „Sie glauben, unser Täter hat eine Abneigung gegen Nutten?“ „Er hasst sie! Der Grund dafür muss in seiner Vergangenheit begründet liegen. Ich bin davon überzeugt, dass er es wieder tun wird und ich wette mit Ihnen, dass er wieder einen Damenstrumpf nehmen wird und dass wir auch bei seinem nächsten Opfer das Wort ‚Hure' auf der Stirn finden werden. Diese Person ist ein Monster, in höchstem Maße verhaltensgestört und deshalb unberechenbar. Er wird wieder morden, um sich von seinen inneren Zwängen zu befreien.“

Ich schluckte einige Male trocken, während ich den Profiler ansah. „Sie meinen es ernst, Heinrich...“ „So verdammt ernst, wie nur irgend möglich. Diese Melodie beschäftigt mich allerdings in einem ganz besondern Maße. Wenn es tatsächlich der Mörder war, der sich da pfeifend vom Tatort entfernte, muss dieser Blues im direkten Zusammenhang mit seiner Neurose stehen.“ Ich zog die Schultern hoch. „Hm, leider können wir genau dies nicht mit Bestimmtheit sagen. Es könnte sich ebenso gut um einen musikalischen Nachtschwärmer handeln, der zufällig vorbeikam.“ „Tja“, entgegnete Eisenhardt, „Möglich ist alles.“

Der Profiler schlürfte den Kaffee aus, drückte seine Zigarette in den Ascher und schniefte die Nase. „Halten Sie mich in der Sache auf dem Laufenden. Ich bin sehr gespannt, wie sich dieser Fall weiterentwickelt.“ „Wenn Sie wirklich Recht haben, wird noch einiges auf uns zukommen“, stimmte ich ihm zu. „Das Einzige, was ich im Augenblick veranlassen kann, ist dafür Sorge zu tragen, dass an den vakanten Stellen im Milieu verstärkt Streife gefahren wird.“ „Tja, hierzulande muss man eben erst seinen Kopf unter dem Arm tragen, bevor etwas geschieht.“

Auch da konnte ich ihm nur beipflichten. Oft genug gab es Situationen, bei denen ich nur allzu gern eingegriffen hätte, doch nicht selten waren mir die Hände gebunden, weil es Gesetze und Regeln gab, die mich daran hinderten. Heinrich Eisenhardt setzte seine Tasse ab und verabschiedete sich von mir. Ich bedankte mich für seine Unterstützung und versprach, mich bei ihm zu melden.

Kaum dass der Profiler mein Büro verlassen hatte, schneiten Edda und Aron herein. Die erste Amtshandlung meines Dienstpartners bestand darin, sich seinen Pott mit Kaffee zu füllen. „Ich schätze, wir sind ein gutes Stück weiter“, grinste er verschmitzt. „Ulla Brinkmann war so etwa gegen Mitternacht bei Burgerking in der Bürgermeister-Smidt-Straße. Sie war dort Stammkundin. Einem der Angestellten war ein Mann aufgefallen, weil er sie während ihres Aufenthalts in dem Fast Food Restaurants permanent beobachtete. Leider hatte er dann in der Küche zu tun und kann deshalb nicht sagen, wann der Mann das Restaurant verlassen hat.“ Kann er die Person beschreiben?“, fragte ich entzückt. „Er arbeitet bereits mit Rudi Tusch an einem Phantombild.“ Ich schlug meinem Freund und Partner anerkennend auf die Schulter.

„Wenn du jetzt auch noch etwas Greifbares für mich hast, ist der Tag gerettet“, wandte ich mich Edda zu. Meine Kollegin zückte ihr Notizheft. „Leider war unser Opfer zumindest beruflich eine Einzelgängerin. Sie stand niemals dort, wo sich die übrigen Bordsteinschwalben postierten. In ihrer Nachbarschaft wusste niemand, wie sie ihr Geld verdiente und ihr Freundeskreis war eher dürftig. Eine Vertraute gab es allerdings doch. Eine gewisse Angelika Elster. Ich kam durch eine Nachbarin auf sie.“ „Elster?“

Ich kramte das Tagebuch von Ulla Brinkmann hervor. „Ich habe doch vorhin… Moment… Ah, da ist ja der Name, wusste ich's doch. Offensichtlich kannten sich die beiden Frauen schon länger.“ „So ist es“, bestätigte Edda. „Angelika Elster ist die Tochter einer Haushälterin, die vor einigen Jahren bei den Brinkmanns arbeitete. Sie wollte sich ohnehin noch bei uns melden. Das Opfer hatte ihr nämlich von ihrer Schwangerschaft erzählt.“ „Weiß sie, wer der Vater ist?“, hakte ich nach. „Mario Stamm soll der Mann heißen. Ich habe ihn bereits angerufen, aber es geht niemand ans Telefon.“

„Also schön“, entgegnete ich gedehnt, „…statten wir dem Herren doch einfach einen Besuch ab. Hast du die Adresse?“ Edda tat einen Blick in ihre Notizen. „Hohenlohestraße 8“ „Das ist ja fast um die Ecke.“ Bevor Edda und ich aus dem Büro stürmten, gab ich Aron die Anweisung, sich um den Mann auf dem Phantombild zu kümmern. „Wenn sich das Gesicht nicht über den Facepool identifizieren lässt, gibst du es als Zeugensuche an die Zeitungen weiter.“ „Geht klar.“ Ich wusste, dass ich mich auf Aron verlassen konnte. Immerhin verband uns eine jahrelange Freundschaft, bei der wir nicht selten gemeinsam durch dick und dünn gegangen waren.

Die Mietshäuser in der Hohenlohestraße befanden sich in Gleisnähe, waren aber allesamt in einem guten Zustand. Wir hatten Glück, der vermeintliche Freund des Opfers war zu Hause. Die Wohnung von Mario Stamm war in der dritten Etage. Eine Mansarde unter dem Dach. Die Einrichtung ließ noch viele Wünsche offen, aber über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten.

Mario Stamm war ein eher hagerer Typ von beachtlicher Größe. Auf seinem Kopf kringelten sich hunderte Locken und das kleine Spitzbärtchen an seinem Kinn erinnerte an Dschingis Khan. Der musste unmittelbar vor unserem Eintreffen mitsamt seine Reiterschar durch die Wohnung geritten sein, denn nur dies konnte den Zustand erklären, in dem sich die Zimmer befanden.

„Sie sagten, Sie kämen von der Mordkommission?“ „So ist es erwiderte Edda, während ich mein Gegenüber musterte. Es verhielt sich so unschuldig, wie es nur jemand tat, der gewaltig Dreck am Stecken hatte. „Was kann ich für Sie tun?“ Sie sind mit einer gewissen Ulla Brinkmann befreundet?“ „Ja“, entgegnete er sehr zögerlich. „Ich muss Ihnen leider eine betrübliche Mitteilung machen. Ihre Lebensgefährtin ist das Opfer eines Verbrechens geworden.“ Sein Gesicht verkrampfte sich, als habe er gerade in eine besonders bittere Pampelmuse gebissen. „Wie… was ist mit Ulla?“ Während er mich aus schreckgeweiteten Augen anstarrte, suchten seine Hände nach einer Möglichkeit, um sich festzuhalten. „Sie ist ermordet worden.“

Es brauchte einen Moment, bis er meine Worte begriffen hatte, doch dann ging alles sehr schnell. Seine Hände griffen ins Leere, seine Knie knickten ein und sein Körper sackte in sich zusammen. Ich bekam ihn gerade noch zu fassen. Edda schnappte sich irgendwo in dem Chaos einen Stuhl und schob ihn dem offensichtlich angeschlagenen Hausherrn unter den Allerwertesten. Während ich den Mann aufrecht hielt, holte meine Partnerin ein feuchtes Handtuch. War Mario Stamm tatsächlich so von der Rolle, oder lieferte er uns hier bloß eine bühnenreife Vorstellung? Das nasse Tuch in seinem Nacken ließ ihn zumindest auffallend schnell wieder zu sich kommen.

„Ulla ist tot?“, waren seine ersten Worte. Edda nickte ihm zu. „Aber wie…?“ Er schüttelte den Kopf. „Immer wieder habe ich ihr gesagt, dass der Job gefährlich ist. Es musste ja so kommen.“ „Sie wissen, womit Ihre Freundin ihren Lebensunterhalt bestritt?“, hakte ich erstaunt nach. „Wir haben uns auf diesem Wege kennen gelernt“, entgegnete er seufzend. „War es Ihnen egal, dass Ihre Freundin gegen Bezahlung mit anderen Männern schlief?“, fragte Edda gerade heraus. „Natürlich nicht! Ulla und ich hatten lange Gespräche deswegen, aber letztendlich konnte sie mir plausibel machen, dass diese Arbeit nur ein Job für sie war, bei dem sie schnell viel Geld verdienen konnte.“

Der Mann sah uns erschüttert an. „Ich habe ihr immer wieder gesagt, dass es gefährlich ist, aber sie hat nur gelacht und gesagt, dass ihr schon nichts geschehen würde. Ich glaube fast, sie hat diese Gefahr sogar gesucht. Einmal gab sie mir zu verstehen, dass es genau dieser Kick war, den sie brauchte. Ulla hasste die Dekadenz und die Verlogenheit des kleinbürgerlichen Spießertums, wie sie immer sagte. Sie hasste Langeweile und das perfekte Glück.“

„Trotzdem war sie im zweiten Monat schwanger?“, hielt ihm Edda den Spiegel vor. „Was war sie?“, erwiderte Mario Stamm scheinbar ungläubig. „Ulla und schwanger? Das kann nicht sein!“ „Und doch ist es so“, beharrte meine Kollegin. „Sie wussten nichts von dieser Schwangerschaft?“, interpretierte ich seine Reaktion. „Glauben Sie wirklich, ich hätte Ulla noch auf den Strich gehen lassen, wenn ich das geahnt hätte?“ „Da stellt sich für uns natürlich die Frage, warum sie sich ihrer Freundin anvertraute, Ihnen hingegen nichts von der Vaterschaft erzählte?“ Mario Stamm rieb sich den Nacken. „Sie sehen mich fassungslos.“

Alles was ich sah, war ein Mann, der sich nach seinem Zusammenbruch erstaunlich schnell wieder im Griff hatte. „Darf ich fragen, wo Sie sich in der vergangenen Nacht zwischen null und zwei Uhr aufgehalten haben?“ In seinen Augen lag schieres Erstaunen. „Soll das heißen, dass Sie mich jetzt verdächtigen?“ „Reine Routine“, erwiderte ich herunterspielend. „Ich war mit ein paar Freunden zusammen in der Disse.“ Edda holte ihre Kladde hervor. „Haben diese Freunde auch Namen und Adressen?“

Der vermeintliche Vater erhob sich von dem Stuhl, auf dem er nach wie vor gesessen hatte und begab sich auf die andere Seite des Raumes, um dort in den Schubladen einer Kommode zu stöbern. Schließlich kehrte er mit einem Telefonverzeichnis zurück und nannte einige der darin enthaltenen Namen. „Okay, wir werden Ihre Angaben natürlich überprüfen“, gab ihm Edda zu verstehen. „Ich hätte da noch eine Frage“, drehte ich mich noch einmal um. „Wie war eigentlich Ihr Verhältnis zu den Eltern Ihrer Freundin?“ „Es gab keins“, entgegnete er knapp. „Wenn ich Ullas Familie anschnitt, wechselte sie das Thema.“ „Hm, also schön, das soll's fürs erste gewesen sein.“

 

-13-

 

Das Phantombild des Zeugen wies gewisse Züge der Mona Lisa auf. Rudi Tusch schien sich einmal mehr als großer Expressionist gefühlt zu haben. Ich fand es dennoch sehr gelungen. Der Abgleich mit den im Facepool gespeicherten Verbrecherfotos brachte leider keine eindeutige Übereinstimmung. Die in dieser europäischen Datenbank gespeicherten Gesichter beinhalten mindestens sechzehn prägnante Merkmale mit denen das zu identifizierende Gesicht überein-stimmen muss. Unser Phantombild kam auf nicht mehr als dreizehn dieser relevanten Punkte. Was blieb, war die Hoffnung, dass sich unser Zeuge auf das Suchbild in der Zeitung melden würde, oder aber, dass ihn jemand aus seinem Bekanntenkreis wieder erkennen würde und uns einen Tipp gab.

Während Edda die Freundesliste von Mario Stamm abklapperte, um das Alibi des Discobesuchers zu überprüfen, machte ich mich auf den Weg zu Gustaf, jenem sagenhaften Archivar, der bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter beim Crosscut Records Musikverlag, als der Mann mit dem Superhirn galt. Seine Adresse hatte ich von Sternchen, der vollbusigen Chefsekretärin erhalten. Warum mir gerade, als ich an ihre unüberseh-baren Qualitäten dachte, der Gedanke kam, mich beruflich zu verändern, war mir nicht wirklich unklar.

Gustaf Schimmelreiter bewohnte eines dieser kleinen Siedlungshäuschen, wie sie nach dem zweiten Weltkrieg zu Tausenden am damaligen Stadtrand von Bremen aus dem Boden gestampft wurden. Der alte Herr hatte es mit viel Liebe zum Detail erhalten und lebte nun mit seiner Frau in relativer Abgeschiedenheit. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich über etwas Abwechslung in ihrem wohl sonst eher eintönigen Leben geradezu freuten. Zumindest dauerte es nicht lange, bis wir in ihrer kleinen Küche nett zusammen saßen und bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen über die alten Zeiten bei Crosscut Records plauderten.

„Ich kann Ihnen sagen, Herr Hauptkommissar, das waren noch ganz andere Zeiten als heute. Nach einem Konzert wurde noch so richtig auf den Putz gehauen. Meistens luden uns die Bandmanager ins ‚Donnerschlag' ein. Eine Bar am Philosophenweg.“ „Die gibt es immer noch“, bemerkte ich. „Da haben wir dann die Nacht zum Tag gemacht und die Puppen tanzen lassen.“ Es war mehr als deutlich, wie sehr der alte Herr auflebte, während er erzählte. „Nicht so wie heute, wo es nur noch Mord und Totschlag gibt und man nicht mal mehr auf die Straße treten kann, ohne Angst vor einem Überfall zu haben.“

„Tja, genau das ist leider auch der Grund für meinen Besuch bei Ihnen. Wie ich ja eingangs bereits sagte, komme ich von der Mordkommission und arbeite zurzeit an einem recht mysteriösen Fall, bei dem ein Blues möglicherweise eine Rolle spielt.“ Ich zog mein Handy hervor und spielte Gustaf die ominöse Melodie vor.

„ The Things That I Used To Do von Guitar Slim”, erkannte er sofort. Einer der wirklich guten Louisiana Blues. Wir haben damals einige dieser Songs aufgenommen. Der alte Hoegen hat Crosscut Records damit groß gemacht.“ „Fällt Ihnen zu diesem Song noch etwas Besonders ein? Etwas, was nirgendwo nachzulesen ist, eine Geschichte, eine Begebenheit, ein Schicksal... Irgendetwas, das am Rande eines dieser Konzerte für Wirbel sorgte.“ Gustaf lehnte sich gegen den Rücken der gepolsterten Eckbank und grübelte.

„Da gab es tatsächlich etwas. Ist schon eine kleine Ewigkeit her, aber ich kann mich daran erinnern, als sei es erst gestern gewesen.“ Ich setzte die Tasse ab und legte den Rest des Topfkuchens zurück auf den Teller. „Es war nach einem dieser erfolgreichen Blueskonzerte. Guitar Slim hatte mit genau diesem Song einen Hit gelandet und deshalb das gesamte Ensemble in irgendeine Nachtbar eingeladen. Ich weiß nicht mehr, in welche Bar, aber der Sekt floss in Strömen. Wie immer waren auch einige Fans dabei. Weibliche Fans, versteht sich.“ Gustaf schmunzelte süffisant. „Ich kann Ihnen sagen...“ Er rieb sich das Kinn, in seinen Augen funkelte es. „Aber ich habe meine Marie nie betrogen, das müssen Sie mir glauben“, nahm er die Kurve in beachtlicher Geschwindigkeit.

„Na ja, wie auch immer. Alle hatten reichlich getrunken. Keiner war mehr nüchtern. Der Song wurde rauf und runter gedudelt. Ich weiß nur noch, dass es spät geworden war und unsere Truppe die letzten Gäste in der Bar waren. Alle waren in Hochstimmung, bis...“ Er unterbrach sich und sah zu seiner Maria, die ihm aufmunternd zunickte. Schließlich schluckte er trocken und setzte neu an. „Bis eines der Mädchen plötzlich kreidebleich von den Toiletten zurück in die Bar gestürmt kam. Sie war total besoffen, stammelte ein Haufen wirres Zeugs, aus dem keiner von uns schlau wurde. Der Barkeeper und ein paar andere Jungs sahen schließlich auf den Toiletten nach.“

Ich wagte es nicht, den alten Herrn mit meinen Fragen zu unterbrechen. Es war ihm anzumerken, wie schwer er sich tat. „In einer der Kabinen lag eines der Mädchen. Ihre Kleidung war zerfetzt, als wäre sie einem wilden Tier zum Opfer gefallen. Sie saß einfach nur da, zwischen der Kloschüssel und der Trennwand zur zweiten Kabine und war total weggetreten. Das Bild verfolgt mich heute noch in meinen Träumen.“

„Sie waren einer von denen, die dem Barkeeper gefolgt waren?“ Der alte Herr nickte betroffen. „Das Mädchen war betäubt und vergewaltigt worden?“, schlussfolgerte ich. „Genau so war es“, bestätigte Gustaf. „Ist der Schuldige ermittelt worden?“, fragte ich weiter. „Nichts wurde ermittelt, es wurde erst gar keine Polizei gerufen. Können Sie sich vorstellen, was eine solche Untersuchung für die Band und für alle anderen Beteiligten bedeutet hätte?“ Ich konnte kaum glauben, was der alte Mann erzählte. „Aber dem Mädchen musste doch geholfen werden.“ „Wir brachten sie in ein Hinterzimmer, in dem ein Bett stand. Der Bandmanager gab dem Barkeeper Geld, damit er schwieg und dem Mädchen irgendetwas von einem Unfall erzählte, sowie sie wieder bei Verstand war.“

Gustaf lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück. Eine gewisse Erleichterung war ihm anzumerken. Die Geschichte musste all die Jahre wie Blei auf seiner Seele gelastet haben. „Ich konnte doch nichts sagen, der Alte hätte mich doch sofort rausgeworfen und als der Junior den Verlag übernahm, waren so viele Jahre dahin gegangen, dass es auch niemandem mehr geholfen hätte, wenn die Sache ans Tageslicht gekommen wäre.“ „Also schwiegen Sie weiter.“ Der alte Herr nickte. Nur Marie habe ich es erzählt.“ „Und jetzt mir“, ergänzte ich und schlug ihm anerkennend auf die Schulter. „Ich weiß nicht, ob Ihre Geschichte etwas mit dem aktuellen Mord zu tun hat, aber es war sicher gut, dass Sie Ihrem Herzen Luft gemacht haben.“

Marie schenkte mir Kaffee nach und legte mir ein zweites Stück von ihrem leckeren Topfkuchen auf den Teller. „Ich lehnte dankend ab. „Sie sind viel zu dünn, Sie müssen essen.“ Worte, die mir aus meiner Kindheit noch allzu gut in den Ohren klangen. Wie damals, gab ich auch heute nach. „Können Sie sich an die Namen des Mädchens oder der Musiker erinnern?“, hakte ich mampfend nach. „Guitar Slim lebt in den Staaten, soviel ich weiß und seine Band existiert nach all den Jahren natürlich nicht mehr. Das waren alles Amis. Ihre Namen finden sie in den Archiven der Crosscut Rekords. Was den Namen des Barkeepers anbelangt, kann ich mich nur an seinen Spitznamen erinnern. Ein Farbiger den alle nur Omori nannten.“

Alles in allem hatte ich nicht viel, worauf ich eine Untersuchung aufbauen konnte. Ich hatte weder den Namen der Betroffenen noch irgendetwas Greifbares, um den Fall an die zuständige Stelle zu verweisen. Nach all den Jahren des Schweigens, war es so gut wie unmöglich Licht in die dunklen Pfade dieser erschütternden Geschichte zu bringen. Überdies konnten die Verantwortlichen nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Abgesehen davon hatte ich nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, ob dieses Drama tatsächlich etwas mit meinem aktuellen Fall zu tun hatte. Allein die Tatsache, dass irgendjemand mit besagter Melodie auf den Lippen durch die Nacht bummelte, reichte bei weitem nicht aus, um beides in Zusammenhang zu bringen.

Ich bedankte mich bei den alten Herrschaften für ihre Offenheit und versprach, irgendwann mal wieder auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Topfkuchen hereinzuschauen.

 

-14-

 

Es war später Nachmittag, als ich im Präsidium eintraf. Edda und Aron hatten sich bereits im Büro eingefunden und erledigten Papierkram. Wir schlossen diesen ersten Tag unserer Ermittlungen mit dem Austausch der gesammelten Erkenntnisse, stellten Hypothesen auf und konstruierten unter Einbeziehung des Obduktions-ergebnisses und dem Bericht der Spurensicherung den wahrscheinlichen Tathergang. Es war nicht gerade ein Tag, der uns zufrieden stellen konnte, denn im Grunde waren wir nicht wirklich vorangekommen. Da auch für den Rest des Tages nichts mehr zu erwarten war, beschloss ich, den Feierabend auszurufen, was mir erstaunte Blicke meiner Partner einbrachte.

 

Trixi war nicht weniger erstaunt, als ich die Wohnungstür geräuschvoll hinter mir ins Schloss warf. Sie wusste, wie wichtig gerade der erste Tag nach einem Mord war, um Spuren zu sichern und zu verfolgen. Um so mehr war sie geradezu aus dem Häuschen, als ich sie für den Abend in ein edles italienisches Restaurant zum Essen einlud. Dass sie sich darüber freute, endlich mal wieder mit mir auszugehen, war vorauszusehen. Eine Superidee, wie ich fand, zumal Töchterchen Romy und Hund Sandy gerade für einige Tage bei den Schwiegereltern zu Besuch waren. Schließlich wäre es eine Sünde, die sturmfreie Bude nicht auszunutzen. Ich musste Trixi ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich bei dieser Gelegenheit unseren italienischen Zeugen ein wenig auf die Finger schauen wollte.

Wie immer brauchte es eine Ewigkeit, bis sich Trixi zurechtgemacht hatte. Was eigentlich gar nicht nötig war, da sie auch so super aussah. Als sie dann jedoch vor mir stand, musste ich zugeben, dass sich das Warten doch gelohnt hatte. Am liebsten wäre ich direkt zu Hause geblieben und hätte wieder ausgepackt, was meine Supermaus so kunstvoll verfeinert hatte. „He!“, haute sie mir tadelnd auf die Pfoten, „...Nachtisch gibt's erst nachher.“ Okay, damit konnte ich leben, schließlich knurrte mir auch der Magen und bei Kräften wollte ich im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Abends schon bleiben.

 

Das Casa Trulli war eines dieser italienischen Nobelrestaurants, in das ich sicher nicht ohne triftigen Grund Essen gegangen wäre. Gediegenes Ambiente, köstliche Speisen und auch die Preise vom Feinsten. Das jedoch war es nicht, ich fühlte mich angesichts solchen Glimmers einfach nicht wohl. Schon beim Betreten des Gourmettempels musste ich unwillkürlich an das ‚Venezia', unseren Stammitaliener denken. Als ich jedoch das Strahlen in Trixis Augen sah, wusste ich, dass ich da jetzt durch musste.

„Ah, willkommen im Casa Trulli, Kommissario Winter“, empfing uns Marcello Poldini bereits nach Abgabe unserer Garderobe. „Darf ich Ihnen und Ihrer reizenden Begleitung unseren schönsten Tisch zeigen?“ Ich nickte dem Zeugen verschlagen zu, woraufhin der Italiener beschwingt davonzog. „Wieso kennt man dich hier?“, wollte Trixi argwöhnisch wissen. „Geh erst mal, ich erkläre es dir, wenn wir am Tisch sitzen.“ Der Blick meiner Liebsten ersetzte tausend Worte. Mir dagegen fehlten sie im Augenblick noch. Klar, hatte ich mit genau dieser Situation gerechnet und mir wohlweißlich eine Erklärung parat gelegt, doch just in diesem Moment waren alle Ausreden wie vom Winde verweht.

„Es freut mich sehr, Sie in unserem Restaurante begrüßen zu dürfen“, schmalzte der Italiener, während er uns die Speisekarte zureichte. „Besonders zu empfehlen wäre heute das Filetto al Gorgonzola, unser Rinderfilet alla Chef in Gorgonzolasauce. Aber schauen Sie in Ruhe, ich bin sofort wieder bei Ihnen.“

„Haben die hier keine Pizza?“, blätterte ich in der überdimensionalen Speisekarte suchend herum. „Also?“, fragte Trixi mit ultimativem Unterton. „Hat deine Einladung in diesen kulinarischen Nobeltempel irgendetwas mit deinem aktuellen Fall zu tun?“ Ich war mir nicht sicher, ob das flaue Gefühl in meiner Magengegend vom Hunger her rührte, oder ob es das Unbehagen war, welches sich auf Grund des kleinen Fauxpas einstellte, dem ich mich gerade im Begriff war auszusetzen. Ich überführte Mörder, Diebe und Betrüger, aber selbst war ich nicht mal zu einer simplen Lüge fähig. „Okay“, seufzte ich, „...du hast gewonnen. Der Kellner ist ein wichtiger Zeuge und ich wollte ihm einfach ein wenig bei der Arbeit beobachten.“

Trixi sah mich sekundenlang wortlos an, schüttelte zwischendurch immer wieder mit dem Kopf und tat schließlich einen tiefen Seufzer. „Du wirst dich wohl nie ändern. Wenigstens hast du gar nicht erst versucht zu schwindeln. Glaube mir, du hättest deine Pizza allein essen können.“ Ich atmete erleichtert auf. „Aber freu dich bloß nicht zu früh, das wird ein teurer Abend für dich.“ Mir schwante Fürchterliches. Waren meine Gedanken gerade noch bei der Frage, ob ich Trixi belügen sollte, so fragte ich mich jetzt, ob ich mir genug Geld eingesteckt hatte.

Haben die Herrschaften bereits gewählt?“, rissen mich die Worte des Zeugen in die Realität zurück. „Ich habe mich zu Ihrer Empfehlung entschieden“, lächelte Trixi verschmitzt. „Eine gute Wahl, gnädige Frau“, lobte Marcello. „Hm, ich habe eigentlich keinen großen Hunger“, sinnierte ich. „Mir reicht eine Pizza Margherita.“ Blicke des Erstaunens trafen mich. Ich blieb dabei. „Hinterher hätte ich gern Zabaglione Con Vaniglia.“ „Einen Eiercocktail mit Marsala und Vanilleeis“, wiederholte der Kellner. Mir wurde schon wieder schlecht. „Dazu hätte ich gern eine Flasche Montepulciano“, erklärte Trixi zielsicher. Die Augen des Italieners richteten sich wieder erwartungsvoll auf mich. „Ein zweites Glas bitte.“

Irgendwie hatte ich mir den Abend selber ruiniert. Zum einen wollte die Pizza nicht schmecken, zum anderen hatte ich bei jedem Blick, den ich in Richtung Marcello Poldini riskierte, das Gefühl etwas Verbotenes zu tun. „Was ist, schmeckt dir deine Pizza nicht?“, erkundigte sich Trixi mit einem leicht zynischen Unterton in der Stimme. „Du kannst mir sagen, was du willst, aber bei Angelo gefällt's mir besser.“ „Also ich weiß beim besten Willen nicht, was du hast. Ist doch ein tolles Ambiente hier und mein Rinderfilet ist geradezu göttlich.“ „Hm.“ Ich verkniff mir jeden weiteren Kommentar.

Marcello Poldini machte einen durchweg integeren Eindruck. Er schien voll und ganz in seinem Job aufzugehen und die Art und Weise, wie er seine Gäste bediente, ließ nicht im mindesten auf einen Menschen schließen, der einen Hang zum Theatralischen hatte, oder auf jemanden, der sich nur interessant machen wollte. Je mehr ich ihn beobachtete, desto mehr kam ich zu dem Schluss, dass ich seine Zeugenaussage als glaubwürdig ansehen konnte.

Ich war so sehr mit dem Zeugen beschäftigt, dass ich gar nicht bemerkte, wie gut sich Trixi inzwischen amüsierte. Erst als ich mir ein zweites Glas Rotwein gönnen wollte, bemerkte ich, dass die Flasche bereits leer war. „Ist doch richtig lustig hier, vielleicht sollte ich mal an den Tisch da vorn hinüberwechseln“, stammelte sie leicht lallend. „Der süße Bursche scheint auch ganz allein zu sein.“ Der Wein schien seine Spuren hinterlassen zu haben. „Ich denke, es ist besser, wenn ich dich jetzt nach Hause bringe.“ „Du bist ein spießiger Spielverderber!“, befand Trixi mit zunehmend schwerer werdender Zunge. „Und überhaupt, du solltest mich nicht so vernachlässigen. Wenn ich nicht so ein artiges Mädchen wäre...“

Ich winkte dem Ober. „Darf ich Ihnen noch etwas bringen, Kommissario?“ „Die Rechnung bitte, Herr Poldini.“ „Aber ich bitte Sie, Kommissario Winter, Sie waren selbstverständlich meine Gäste.“ „Das ist wirklich lieb gemeint, aber...“ „Ich bestehe darauf, Herr Kommissario!“ Beschämt lächelnd steckte ich meine Brieftasche wieder ein. „Ich hoffe, es hat Ihnen bei uns gefallen.“ „War klasse bei euch“, erwachte Trixi ausgerechnet jetzt aus ihrer Lethargie und gab dem Zeugen einen Klaps auf den Hintern. „Nächstes Mal komme ich ohne den Spießer da!“ Marcello Poldini sah mich verschmitzt an. Trixi erhob sich ruckartig, geriet dabei fast ins Straucheln und war froh, als der Italiener ihren Arm ergriff und gekonnt elegant um den seinen schlang. „Wenn Sie gestatten, gnädige Frau, begleite ich Sie zur Garderobe.“ „Ich gestatte.“

Ich traute meinen Augen kaum, während ich dem ungleichen Paar quer durch das Restaurant folgte. Ich konnte Trixi nicht einmal einen Vorwurf machen, denn diese Kiste hatte ich selbst gegen die Wand gefahren.

„Also dann, mein kleiner Italiener, bis zum nächsten Mal.“ „Es wird mir eine ganz besondere Freude sein.“ Ich verdrehte die Augen. Was für ein Gesülze.

 

-15-

 

Es war schon weit nach 22 Uhr, als Neele, vom ‚Präsident Kennedy Platz' kommend, das Valentino ansteuerte. Bis zur Nachtbar in der ‚Schwanengatt' war es noch ein weiter Weg. Die Prostituierte mit den blond gefärbten Haaren hatte es eilig, deshalb achtete sie kaum auf das, was sich um sie herum abspielte. Ein verhängnisvoller Fehler, wie es sich schon Minuten später erwies.

Anders als sonst waren bei dem schlechten Wetter kaum Menschen am Stadtgraben unterwegs. Die beiden berittenen Polizeibeamten, die sie eingangs der Wallanlagen gesehen hatte, waren in der entgegengesetzten Richtung unterwegs. Doch das focht Neele nicht weiter an. In ihrem Job durfte man nicht zimperlich sein, und überhaupt wusste sie sich ihrer Haut zu wehren.

Sie näherte sich inzwischen der Stelle, wo der Stadtgraben fast bis an die Schnellstraße heranreichte. Die schmiedeeisernen Laternen, die in einem Abstand von etwa fünfzig Metern aufgestellt waren, tauchten den Gehweg in ein bizarres Licht, welches nur dort für wenige Meter von Schwärze unterbrochen wurde, wo sich ihre Lichtkegel in der Finsternis verloren.

Immer wieder wurde diese Dunkelheit von dem Scheinwerferlicht vorbeihuschender Autos zerrissen. Wie Laserstrahlen schnitten sie sich einen Weg zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, bis sie schließlich in der Unendlichkeit enteilten.

Schritte, zunächst kaum wahrnehmbar, dann immer näher kommend. Neele drehte sich um, doch alles was sie sah, war gähnende Finsternis. Sie blieb stehen, verharrte, lauschte in die Nacht. Nichts! Hatte ihr ihre Wahrnehmung einen Streich gespielt, oder war es nur der Widerhall ihrer eigenen Schritte, den sie vernommen hatte? Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Vielleicht sollte sie endlich mit der Kifferei aufhören. Entschlossen setzte sie ihren Weg fort.

Nach einer Weile blieb sie erneut stehen. Jetzt hatte sie die Schritte deutlich wahrgenommen. Auch wenn nun abermals nichts mehr zu hören und auch nichts zu sehen war. „Komm raus, du Penner!“, rief sie wütend in die Dunkelheit. „Zeig dich, wenn du dich traust.“ Neele griff in ihre Tasche, zog einen Elektroschocker heraus und machte ihn scharf. „Verpiss dich, du Arsch!“ Sich auf diese Weise etwas Luft verschaffend, ging sie weiter.

Die junge Frau mit dem knappen roten Lederrock und den langen schwarzen Stiefeln hatte die Schlagzahl ihrer Schritte erhöht. Doch auch der unbekannte Verfolger ging jetzt rastloser, kam näher

und näher. Das Blut in Neeles Adern pulsierte schneller und schneller, setzte zusätzliches Adrenalin frei, welches mehr und mehr die nackte Angst in ihr Bewusstsein trieb.

Neele begann zu laufen, hastete von einem Lichtkegel zu nächsten, wandte sich immer wieder entsetzt um, ohne auch nur den Hauch eines Schattens zu sehen. Jäh herrschte gespenstische Ruhe. Nicht einmal ein Auto fuhr mehr an ihr vorbei. Noch immer klammerte sich ihre Rechte um den Elektroschocker. Alles nur ein dummer Scherz , schoss es ihr durch den Kopf. Ein Lächeln der Erleichterung huschte über ihr angstverzerrtes Gesicht. Ihre Züge entspannten sich und allmählich verlangsamte sich auch ihr Herzschlag wieder. Was blieb, war der Rest ihrer Angst und die Waffe in der Hand, als sie ihren Weg fortsetzte.

Der Schatten kam aus dem Nichts, stand von einer Sekunde zur nächsten vor ihr und schlug sie ohne jede Warnung und mit aller Wucht ins Gesicht. Neele taumelte hart getroffen zurück. Ein unsäglicher Schmerz durchströmte blitzartig ihren attraktiven Körper, erfasste ihre Gliedmaßen, um jegliche Kraft daraus entweichen zu lassen. Der Elektroschocker entglitt ihren Fingern, fiel zu Boden, zu weit von ihr entfernt, um danach greifen zu können.

„Was..., was willst du von mir?“, stammelte sie im Bewusstsein, dem Tod geradewegs in die kalten Augen zu blicken. Doch der Tod kam näher, kam geradewegs und tonlos auf sie zu. Er zog etwas aus seiner Tasche, ließ es langsam durch die andere Hand gleiten. Ein irres Grinsen lag in seinen Zügen, verhöhnte das Opfer und verwandelte die wahnsinnige Fratze in ein kindliches Gesicht.

Neele versuchte aufzustehen, doch Angst, Panik und Schmerz hinderten sie daran, die Flucht zu ergreifen. Auf allen Vieren versuchte sie davon zu kriechen, die rettende Straße zu erreichen, doch irgendetwas, das sich wie eine Schlange um ihren Hals legte, hielt sie zurück. Sie wurde hinterrücks in die Höhe gerissen. Der Boden unter ihren Füssen wankte. Der Kontakt zu ihm schien verloren. Die Luft, nach der sie immer schneller schnappte, wurde dünner, weniger, bis sie nicht mehr ausreichte, um ihre Lungen damit zu füllen. Bunte Farben flimmerten vor ihren Augen, herrliche bunte Farben, wie sie noch nie zuvor welche gesehen hatte. In der Ferne dröhnten Posaunen. Die Sinne schwanden und plötzlich war es nur noch Schwarz, ein gähnendes dunkles Schwarz. War dies der Tod?

 

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Ich war froh, als Trixi endlich im Wagen saß und ich sie mit dem Sicherheitsgurt fixiert hatte. Dass ich bis dato einige verbale Schimpfarthacken über mich ergehen lassen musste, hatte ich mir wohl selbst zuzuschreiben. Wenn im Wein die Wahrheit liegt, mussten, ihren Worten nach, Männer im Allgemeinen und ich im Speziellen das Schlimmste sein, was Frau passieren kann.

Nun, ich ließ alles über mich ergehen, während ich den Wagen über den ‚Altenwall' an der Kunsthalle und dem Präsidium vorbei in Richtung ‚Herdentor' steuerte. Rechts zwischen der Schnellstraße und dem Stadtgraben erstreckten sich die Wallanlagen. Bei Tage ein beliebter Platz für Verliebte, in der Nacht ein Tummelplatz zwielichtiger Gestalten.

Wir fuhren gerade an der ‚Bischofsnadel' vorbei, als Trixi unvermittelt loskreischte. Ich war so sehr geschockt, dass ich beinahe das Lenkrad verriss. „Drehst du jetzt total am Rad?“, fauchte ich sie an. Trixi starrte mich bestürzt an. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. „Halt an!“, rief sie in panischem Entsetzen. Ich ging vom Gas. „Halt an, ich habe gerade gesehen, wie eine Frau gewürgt wurde!“ Im ersten Moment schrieb ich ihre Wahrnehmung dem übermäßigen Alkoholkonsum zu, als ich jedoch die Panik in ihren Augen bemerkte, stoppte ich den Wagen und schaltete das Warnblinklicht an.

„Bist du sicher?“ Trixi war schlagartig wieder klar. „Nun mach schon, fahr zurück!“ Alles in allem waren wir sicherlich fünfhundert Meter weiter gefahren. Da ich den Wagen wegen eines bebauten Mittelstreifens nicht einfach wenden und auf der Gegenfahrbahn zurückfahren konnte, musste ich die ganze Strecke vorsichtig zurücksetzen. Ein, zwei hinter uns kommende Autofahrer hupten und wichen auf die linke Spur aus. Wild gestikulierend rasten sie an uns vorbei.

Unzählbar lange Sekunden, vielleicht mehr, waren von jenem Zeitpunkt an verstrichen, als Trixi den Überfall gesehen hatte. Möglicherweise war seither zu viel Zeit verstrichen. Zeit, die der Verbrecher hatte nutzen können, um seine Tat zu vollenden und das Weite zu suchen. Aber was war mit dem Opfer? Es musste irgendwo abgeblieben sein, doch weit und breit war nichts zu sehen. War es am Ende doch die Fantasie, die Trixi einen Streich gespielt hatte? Einige Meter wollte ich noch zurücksetzen, ehe wir unsere Fahrt fortsetzten, aber dann...

„Okay, wer weiß, was du gesehen hast? Vielleicht war's ein kleiner Ehestreit oder du hast eine leidenschaftliche Umarmung falsch gedeutet“, suchte ich nach einer überzeugenden Begründung. „Ich weiß, was ich gesehen habe!“, entgegnete Trixi knapp, aber bestimmt. „Ich stoppte den Wagen. „Wir sind jetzt weit genug zurückgefahren. Wenn irgendetwas war, ist es jetzt vorbei. Lass uns nach Hau...“ „Da, siehst du das?“, unterbrach mich Trixi barsch, während sie auf einen Baum deutete, der etwa zehn Meter von uns entfernt am Rande der Grünanlagen stand.

„Wo denn?“, fragte ich suchend. „Na, bist du blind? Da, im Lichtschatten des Baumes, da ist doch etwas!“ „Also schön, ich kann dort zwar nicht das Geringste erkennen, aber wenn es dich beruhigt, sehe ich nach.“ Ich öffnete das Handschuhfach, entnahm die Taschenlampe, die dort immer für den Fall der Fälle deponiert ist und stieg aus. „Sei vorsichtig“, vernahm ich Trixis mahnenden Worte, ehe ich die Wagentür ins Schloss drückte. Die Warnblinkanlage war nach wie vor eingeschaltet. Immer wieder brausten Autos vorbei, ohne anzuhalten, ohne dass mir einer der Fahrer Hilfe angeboten oder sich zumindest nach dem Grund für unseren Stopp erkundigt hätte.

Ich umrundete meinen Golf, bewegte mich auf die Stelle zu, an der Trixi etwas gesehen haben wollte. Langsam ließ ich den Lichtkegel meiner Stablampe zwischen den Bäumen wandern, dann vernahm auch ich plötzlich ein Pfeifen. Jemand pfiff eine Melodie. Die Melodie! Es lief mir eiskalt über den Rücken. Eine gespenstische Szene, wie aus einem Gruselschocker. Von dem vermeintlichen Opfer war nach wie vor nichts zu sehen. Ich rief, lauschte, doch alles, was ich vernahm, war jenes ominöse Pfeifen. Ich beschloss, ihm zu folgen. Zuvor zog ich jedoch mein Handy und forderte Verstärkung an. Bevor ich zwischen den Bäumen und Sträuchern der Wallanlagen abtauchte, warf ich einen letzten Blick zurück. Trixi starrte gebannt zu mir herüber. Ich winkte ihr noch einmal zu und verschwand in der Dunkelheit.

Immer wieder rief ich jener unbekannten Person nach, forderte sie auf, stehen zu bleiben, ohne jedoch damit den geringsten Erfolg zu verbuchen. Heilfroh, meine Taschenlampe dabeizuhaben, setzte ich dem außergewöhnlichen Pfeifen weiter nach. Unwillkürlich musste ich dabei an die Worte des Italieners denken, der von der Melodie des Teufels gesprochen hatte. Jetzt konnte ich ihn verstehen, jetzt wusste ich, dass er nicht übertrieben hatte. In meinem Job ist man so einiges gewohnt und von daher gewiss nicht zimperlich, aber wer jemals bei Nacht durch einen Wald oder einen Park gestolpert ist, der weiß, wie heftig einem eine solche Szenerie das Blut in Wallung geraten lässt. Hinzu kam dieses immer deutlicher werdende Pfeifen, welches sich allmählich in meinen Kopf einbrannte. Es gab keinen Zweifel mehr, das teuflische Pfeifen passte eindeutig zu jenem Louisiana Blues.

Der Flüchtige konnte nicht mehr weit von mir entfernt sein. Vielleicht noch einige Meter und doch war da nichts, außer dieser immer deutlicher zu vernehmenden Melodie. Ich setzte ihr weiter nach, sprang über niedrige Büsche, wich einer Parkbank aus, die wie aus dem Nichts plötzlich vor mir stand und stolperte durch ein Rosenbeet. Schlagartig wurde mir bewusst, dass kein Pfeifen mehr zu hören war. Ich hielt inne, lauschte angestrengt in die Dunkelheit und vernahm doch nicht mehr als meinen eigenen Herzschlag. Für einen Moment lang stellte ich sogar das Atmen ein, schwenkte die Stablampe und sah... nichts!

Irgendwo knackte ein Ast. Ein Käuzchen schrie, doch zu sehen war nichts als die skelettierten Bäume blanker Finsternis. Angespannt bis in die kleinen Zehen und doch ratlos, wohin der Unbekannte so abrupt entwichen war, suchte ich die nähere Umgebung ab. Ein Aufgeben kam nicht in Frage. Plötzlich drang wildes Hupen von der Straße zu mir herüber. Trixi, schoss es mir durch den Kopf. Von Sorge gehetzt, rannte ich so schnell ich konnte zurück.

 

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Trixi starrte aus dem Fenster, sah zu der Stelle hinüber, von der aus ich ihr gerade noch zugewunken hatte. Sie sah mir nach, bis ich in der Dunkelheit verschwunden war. Dann wanderte ihr Blick an den Baum hinüber, an den sie Minuten zuvor einen Schatten wähnte. Obwohl ich den Lichtkegel meiner Stablampe zwischen den Bäumen umherwandern ließ, war mir diese Stelle verborgen geblieben. Da! Da war er wieder, der Schatten, den sie zuvor gesehen hatte. Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos hatte ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, wieder sichtbar gemacht. Gehörte dieser Schatten dem Opfer? Brauchte es dringend Hilfe?

Trixi sah sich nach allen Seiten um, fasste sich ein Herz, entriegelte die Tür und stieg aus. Blanke Angst saß ihr im Nacken, doch der Wille, endlich Klarheit zu bekommen, trieb sie voran. War es die Kühle der Nacht, die sie so erzittern ließ, oder die Vorahnung auf das, was sie im nächsten Moment erwarten würde? Zögerlich näherte sie sich dem Baum, von dessen abgewandter Seite sie einen Arm zu sehen glaubte. Oder war's doch nur ein Ast, der in eigentümlicher Weise daran lehnte? Obwohl nur noch einen Schritt entfernt, vermochte sie noch immer keine Antwort darauf zu geben.

Irgendetwas war da. Sie beugte sich nach unten, streckte ihre Hand danach aus und im selben Moment, in dem sie es berührte, hellte das Licht eines vorbeifahrenden Autos die Stelle auf. Nur für die Dauer eines Atemzugs, nicht länger, aber lange genug, um Trixi entsetzt schreiend zurückweichen zu lassen. Sie stolperte, schlug rücklings zu Boden, versuchte sich aufzurichten, schlug abermals hin und blieb schließlich erstarrt, die Ellenbogen in den Rasen gestützt, halb liegen – halb sitzen.

Sie brauchte eine Weile, um sich von dem Schock zu erholen, doch dann nahm sie erneut allen Mut zusammen, richtete sich auf und sprach die junge Frau an, die sie mit weit aufgerissenen Augen gegen den Baum lehnend erkannt hatte. „Hallo, sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen?“ Sie bekam jedoch keine Antwort. Trixi stupste den regungslos dasitzenden Körper an, tastete sich mit der Hand an ihren Hals und fühlte den Puls.

„Tot?“, fragte unvermittelt eine Stimme dicht hinter ihr. Trixi fuhr herum, sah sich plötzlich einer dunklen Gestalt gegenüber, die wie aus dem Nichts gekommen sein musste. Sie wusste, woher auch immer, sie wusste, dass dies der Mörder war. Ohne auch nur eine einzige Sekunde zu verlieren, ergriff sie die Flucht. Sie rannte zum Auto zurück und schloss sich ein. Der Unbekannte war ihr offensichtlich nicht gefolgt, denn genauso spurlos, wie er aus der Dunkelheit gekommen war, war er nun wieder verschwunden.

Hatte sie sich angesichts der Situation geirrt? War jene plötzlich aufgetauchte Person nur ein Penner, der wie sie helfen wollte? Vielleicht waren es auch nur ihre Nerven gewesen, die sie in Hysterie verfallen ließen? Sie wusste nicht mehr, was sie eigentlich glauben sollte. Angst, Schrecken und der sich nach wie vor in ihrem Körper befindliche Alkohol konnten sie zu einer Überreaktion getrieben haben.

Trixi starrte zu der Stelle hinüber, an der ihr der Unbekannte begegnet war, doch so sehr sie sich auch bemühte, irgendetwas zu erkennen, so sehr blieb alles in der Dunkelheit verborgen. Es war, als starrte sie in ein großes schwarzes Loch. Ein Wurmloch, welches all ihre Blicke in sich aufsog und für immer verschluckte.

Für einen kurzen Moment entglitt ihr Blick, fixierte in der Ferne das Blaulicht eines heranrasenden Streifenwagens, ehe er wieder die Sicht aus dem Beifahrerfenster suchte. Mit demselben Atemzug verkrampfte sich ihr Herz und sie wich entsetzt zurück. Direkt vor der Scheibe tauchte eine Fratze auf, starrte in das Wageninnere und rüttelte an der Tür. Trixi schrie aus Leibeskräften und drehte geistesgegenwärtig den Zündschlüssel. Der Wagen bockte nach vorn wie ein wildes Pferd, riss die unheimliche Gestalt mit sich und kam schließlich einige Meter weiter wieder zum Stillstand.

Trixi hämmerte panisch mit beiden Fäusten auf die Hupe. Sie schrie und hupte noch, als der Streifenwagen neben ihr hielt und die Beamten sie zu beruhigen versuchten. Erst als ich den Wagen erreichte und Trixi mich erkannte, öffnete sie die Tür und fiel mir um den Hals.

 

„Ich habe ihn gesehen!“, stammelte sie völlig aufgelöst. „Er stand direkt hinter mir, als ich mich über die Tote beugte.“ „Die Tote?“, fragte einer der Polizeibeamten. „Mein Name ist Winter, ich bin Hauptkommissar der Mordkommission“, erklärte ich. Das Licht seiner Taschenlampe erfasste mein Gesicht. „Stimmt, ich erkenne Sie.“ „Da vorn am Baum liegt sie“, deutete Trixi mit ausgestreckter Hand. Die Polizisten zogen ihre Waffen und näherten sich vorsichtig der besagten Stelle. Ich wollte ihnen nach, doch Trixi hielt mich zurück. „Lass mich jetzt nicht allein.“ Ich drückte sie und blieb bei ihr.

„Wir haben sie, Herr Hauptkommissar!“, rief einer der Polizeibeamten. „Eine junge Frau, sie scheint tot zu sein.“ Ich telefonierte nach dem Notarzt und forderte weitere Verstärkung sowie die Kollegen der Spurensicherung hinzu. Wenige Minuten später wurde die Finsternis der Nacht vom Blaulicht etlicher Einsatzfahrzeuge in die Szenen eines unwirklichen Comics zerrissen.

Ich hockte neben Trixi im RTW und hielt ihre Hand, sie hatte gerade eine Beruhigungsspritze erhalten, als die Seitentür aufgeschoben wurde und sich mein Freund Hans Stockmeier zu uns setzte. „Wenn es sich um keinen Nachahmungstäter handelt, ist genau das eingetreten, was du befürchtet hast, Mike. Er hat auf der Stirn des Opfers wieder das Wort ‚Hure' hinterlassen.“ Trixi horchte auf. „Das kann nicht sein. Ich habe die Tote doch gesehen. Da stand nichts auf ihrer Stirn.“ Hans und ich schauten uns irritiert an. „Bist du ganz sicher?“, fragte ich sie eindringlich. „Glaubst du wirklich, dass ich diesen Augenblick jemals vergessen würde?“ „Dann muss der Unbekannte, vor dem du geflüchtet bist, tatsächlich der Täter gewesen sein“, schlussfolgerte ich. „Wie krank ist das denn?“, meldete sich der Chef der Spurensicherung zu Wort. „Der Kerl kehrt in seliger Ruhe an den Tatort zurück, um sein perfides Werk zu vollenden? Das muss ein Wahnsinniger sein!“ Damit sprach Hans Stockmeier aus, was alle anderen in diesem Moment dachten.

 

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Es war bereits weit nach Mitternacht, als Trixi und ich nach Hause kamen. Zunächst die Sicherung des Tatortes, dann die zeitnahe Schilderung des Tathergangs und nicht zuletzt Trixis Täterbeschreibung, die Rudi Tusch unverzüglich zu Papier brachte. Der Tatverdächtige hatte sich zwar durch eine ins Gesicht gezogene Kapuze vor Trixis Blicken geschützt, konnte aber nicht verhindern, dass sie ihn dennoch recht gut beschreiben konnte. Auf jeden Fall wussten wir nun, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen Mann handelte. Darüber hinaus wiesen die Person, die Trixi beschreiben konnte und das Phantombild des Unbekannten aus dem Burger King Restaurant wesentliche Übereinstimmungen auf.

„Da hat man schon mal sturmfreie Bude“, seufzte ich, „...und dann kommt so etwas dabei raus.“ Ich zog mir die Decke nur bis zu den Hüften. So aufgewühlt wie ich auch jetzt noch war, verspürte ich immer noch so viel Hitze in mir, dass ich ein Blockheizkraftwerk hätte betreiben können. Trixi legte ihren Kopf auf meine nackte Schulter. „Tut mir Leid, wegen heute Abend“, säuselte ich ihr ins Ohr. „War doch nicht deine Schuld.“ „Du weißt, wovon ich spreche“, präzisierte ich. „Ja, vielleicht habe ich auch etwas überreagiert. Du bist eben so, wie du bist und im Grunde liebe ich dich genau deshalb.“ „Ich werde in Zukunft ehrlich zu dir sein“, versprach ich. Trixi hob ihren Kopf und sah mir lächelnd in die Augen.

 

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Helgas fantastischer Kaffee weckte einmal mehr sämtliche Lebensgeister in mir. Die Nacht war viel zu kurz gewesen und unruhig sowieso. Die Sekretärin des ‚Bluthund', wie der Kriminalrat zu seiner aktiven Zeit als Hauptkommissar auch genannt wurde, schenkte mir von dem duftend aromatischen Muntermacher nach. „Der Chef wird jeden Moment hier sein“, vertröstete sie mich. „Ich habe schon von Ihrem nächtlichen Ausflug gehört.“ „Ich mache mir Sorgen um Trixi. Sie war noch nie einer solchen Situation ausgesetzt“, entgegnete ich. „Wer war das schon, aber Ihre Lebensgefährtin ist stark, sie wird das Erlebte verarbeiten“, erklärte Helga überzeugt.

„Wartest du schon lange, Mike?“ Mein Mentor begrüßte mich mit einem kräftigen Handschlag. „Bringen Sie mir bitte auch eine Tasse Ihrer Wunderdroge, Helga.“ Gerd Kretzer setzte sich hinter seinen Schreibtisch und faltete seine Hände, wie er es immer tat, wenn er etwas zu verkünden hatte. „Ich komme gerade von Generalstaatsanwalt Ristok. Wir müssen jetzt Nägel mit Köpfen machen. Soll heißen, dass wir nicht tatenlos zusehen können, wie dieser Wahnsinnige eine Prostituierte nach der anderen killt.“ Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Freund gerade richtig verstanden hatte. Er schien zumindest ziemlich unter Druck zu stehen. „Tatenlos?“, wiederholte ich ungläubig. „Die Presse zerreißt uns in der Luft, wenn wir nicht schnellstens etwas vorweisen können.“ Ich traute meinen Ohren kaum. Gerd Kretzer war nicht wieder zu erkennen. Gerade er stellte sich sonst eher schützend vor seine Leute, wenn sie in die Schusslinie gerieten.

„Was erwartest du?“, fragte ich ihn deshalb kritisch. „Der erste Mord liegt keine zwei Tage zurück. Unsere Ermittlungen sind im vollen Gange. Wir haben ein Phantombild des Tatverdächtigen und einige gute Ansatzpunkte.“ Gerd stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich weiß, aber was soll ich machen? Der Justizsenator sitzt mir im Nacken. Er will Resultate sehen.“ „Seit wann mischt der sich denn in unsere Arbeit ein?“, hinterfragte ich misstrauisch. „Seit Annemarie Brinkmann seine Cousine ist.“ Die Frau, die aus tiefer Trauer shoppen geht. Nun war mir alles klar.

„Es wird eine Sonderkommission eingerichtet, der du vorstehst. Heinrich Eisenhardt wird der Soko ebenso angehören wie Patrizia Timme, die Leiterin des forensischen Labors.“ „Unseren Profiler habe ich in dieser Sache ohnehin schon konsultiert“, räumte ich ein. „Mit Udo Löffler vom MK 5 habe ich bereits gesprochen. Sein Team wird sich um die Ermittlungen im Rotlichtmilieu kümmern.“ „Aber da waren Aron und Edda doch schon dran“, wandte ich ein. Gerd schaute mich scharf an. „Dann kümmern die sich jetzt eben um die eingehenden Anrufe.“ In meinem Gesicht formte sich ein Fragezeichen. „Anrufe?“ „Ich sehe schon, die vergangene Nacht steckt dir noch in den Knochen. Immerhin hättest du den Tatverdächtigen um ein Haar gestellt.“ Ich hob schweigend die Schulter.

„In der Telefonzentrale ist der Teufel los. Chantal Doege dreht uns da unten noch durch. Die Resonanz auf das Phantombild in der Zeitung ist riesengroß“, erklärte Gerd. „Stimmt, daran hatte ich ehrlich gesagt schon gar nicht mehr gedacht.“ Ich sprang auf, um mich mit aller Kraft in die Arbeit zu stürzen. „Vielleicht ist eine Soko ja doch von Vorteil“, räumte ich ein. „Ich habe den kleinen Konferenzsaal für euch herrichten lassen. Wenn du etwas brauchen solltest, ruf mich an. Und nun mach endlich deine Arbeit, Mike. Ich verlasse mich auf dich!“

Mein alter Freund, der Kriminalrat, musste mächtig unter Druck stehen, denn so hatte ich Gerd noch nie erlebt. Vielleicht beschäftigte ihn aber auch noch das Ereignis der vergangenen Nacht. Zumal er auch zu Trixi ein mehr als herzliches Verhältnis hatte. Immerhin war Gerd als Romys Patenonkel ab und an bei uns zu Besuch. Da ist es klar, dass sich Berufliches und Privates schon mal miteinander vermischen. Wer den Kriminalrat kannte, wusste nur zu genau, dass er genau diesen Eindruck erst gar nicht aufkommen lassen wollte. Wenn er deshalb also etwas übervorsichtig war, konnte ich es ihm sicher nicht verdenken.

 

Fallbesprechung im Konferenzsaal.

 

Der zur Einsatzzentrale umfunktionierte Saal bot uns alles, was modernste Technik an Hilfsmitteln aufzubieten hatte. Als ich den Raum betrat, herrschte bereits emsiges Treiben. Auch ohne meine Anwesenheit wusste jeder, was er zu tun hatte. Dennoch unterbrachen die Kollegen ihre Arbeit und starrten mich an. Mit Edda und Aron hatte ich in der vergangenen Nacht bereits gesprochen. Sie hatten ebenso wenig geschlafen wie ich und doch waren sie bereits wieder wild entschlossen, den mutmaßlichen Mörder dingfest zu machen.

Ich sprach zunächst mit Hauptkommissar Udo Löffler vom MK 5. Um gerade in einer SOKO für eine reibungsfreie Zusammenarbeit zu sorgen, ist es von großer Wichtigkeit, von vornherein die Kompetenzen abzustecken. Udo und ich kannten uns lange genug, um dies zu wissen. Hier ging es für keine der Kommissionen darum, das eigene Ermittlerteam zum Erfolg zu führen, hier ging es einzig und allein darum, eine potentielle Zeitbombe, die möglicherweise schon bald wieder hoch gehen würde, unschädlich zu machen.

„Darf ich dann bitte mal um eure Aufmerksamkeit bitten“, verschaffte ich mir Gehör. „Ich meine, wir sollten vorab einmal auflisten, was uns bislang an Informationen vorliegt.“ Sieben Köpfte wandten sich in meine Richtung. „Wir haben Fußabdrücke in der Größe vierzig bis einundvierzig. Laut Spusi gehören sie zu einer Person von etwa sechzig Kilogramm Gewicht. Unser Zeichner hat aufgrund der Beschreibungen zweier Zeugen Phantombilder erstellt, die in den wesentlichen Punkten übereinstimmen. Danach handelt es sich bei unserem Haupttatverdächtigen um einen Mann, der auf zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre geschätzt wird.“

Während ich redete, hatte sich Edda an das Flipchart begeben und Punkt für Punkt auf Zetteln festgehalten und angepinnt. Die Kollegin Reiter von der MK 5 unterstützte sie dabei. „Kommen wir zu den Merkmalen, die diesen Fall so sonderbar erscheinen lassen“, fuhr ich fort. „Da wäre zunächst das Wort ‚Hure', welches der Täter auf der Stirn seiner Opfer hinterließ. Ich denke, da wird uns Heinrich mehr zu sagen können.“

„Zunächst kann ich noch eine Kleinigkeit zur Beweissicherung beitragen“, warf Patrizia Timme zunächst noch in die Runde. „Ich habe unseren Grafologen hinzugezogen und zusammen mit ihm einige Tests durchgeführt. Das erzielte Ergebnis ist eindeutig. Anhand der Schreibweise des Wortes und aufgrund der Stellung der einzelnen Buchstaben kann ich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen, dass es sich bei dem Täter um einen Rechtshänder handelt.“ Die Anwesenden zeigten sich beeindruckt. Edda pinnte einen weiteren Zettel an das Flipchart.

„Nun, verehrte Kollegen“, ergriff der Profiler das Wort, „…mit solch handfesten Ergebnissen kann ich leider nicht aufwarten, aber ihr wisst ja, dass die Indizien, aus denen ich ein Gesamtbild füge, weniger greifbar sind. Es handelt sich vielmehr um fiktive Erkenntnisse, langjähriger Berufserfahrung und dem, was Tatort und Opfer über den Täter aussagen.“ Heinrich Eisenhardt räusperte sich und erhob sich von seinem Platz. „Wie Sie vielleicht wissen, hat mich Mike schon gestern in dieser Sache konsultiert, so dass ich mir bereits einige Gedanken dazu machen konnte.“

Der Profiler öffnete seine Aktentasche und entnahm einige Fotos, mit denen er dann das Flipchart ansteuerte. „Am meisten hat mich das Wort ‚Hure' auf der Stirn des Opfers beschäftigt. Es deutet auf eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung hin. Die Tatsache, dass er sich wieder eine Prostituierte als zweites Opfer aussuchte, bestätigt diese Annahme. Dass der zweite Mord in einem derart kurzen Abstand zum ersten erfolgte, hat selbst mich überrascht. Ich fürchte, meine Damen und Herren, dass es weitere Opfer geben wird. Die erfolgreiche Umsetzung beider Taten hat sämtliche Hemmschwellen wie Dämme brechen lassen.“

Eisenhardt pinnte das Foto des ersten Opfers an die Stelltafel. „Unser Mann sucht sich gezielt leichte Mädchen aus, um sie stellvertretend für etwas zu bestrafen, das ihm aller Wahrscheinlichkeit nach eine Prostituierte angetan hat. Das Wort ‚Hure' ist gleichzeitig aber auch so etwas wie ein Hilferuf.“ „Ein Hilferuf?“, unterbrach ich ihn. „So ist es, Mike. Ein Zeichen, welches er uns setzt, um ihm Einhalt zu gebieten. Er weiß im Grunde, dass er Unrecht tut, aber er steht unter dem Zwang, sich durch seine Taten zu befreien. Das gleiche gilt übrigens auch für die sonderbare Melodie, die er pfeift, wenn er den Tatort verlässt.“

„Dankeschön, Heinrich. Übrigens habe ich inzwischen herausgefunden, um welche Musik es sich dabei handelt. Unser Ohrenzeuge hat die Melodie eindeutig als einen Louisiana Blues identifiziert. Ich konnte einen Mitschnitt besagten Blues auftreiben.“ Ich drehte die Lautstärke meines Handys höher und ließ den Song abspielen. In den Gesichtern der Anwesenden zeichnete sich eine gewisse Ratlosigkeit ab. „Genau dies war die Melodie, die ich in der vergangenen Nacht bei der Verfolgung des Tatverdächtigen vernahm.“

„Dann muss auch sie eine gravierende Rolle im Leben des Mörders spielen“, schlussfolgerte der Profiler. „Leider verlief die Spur dieses speziellen Blues bislang im Sand“, musste ich einräumen. „Wenn es uns gelingt, eine Verbindung zwischen diesem Blues und dem Rotlichtmilieu herzustellen, finden wir auch diesen Verrückten“, mutmaßte Udo Löffler. „Davon bin ich überzeugt.“ „Edda und ich haben uns bereits in den einschlägigen Bars auf der Schlachte und in der Schnoor umgehört“, erklärte Aron. „Bislang fanden wir keinen Hinweis darauf, dass an dem ersten Opfer, der auf eigene Rechnung arbeitenden Ulla Brinkmann, ein Exempel statuiert wurde. Dagegen spricht auch die Tatsache, dass Neele Tänzer in einer dieser Bars als Animierdame arbeitete.“

„Wurden die Angehörigen des zweiten Opfers informiert?“, fragte ich an Edda gewandt. Sie nickte mir wortlos zu. „Wir können nach wie vor nicht gänzlich ausschließen, dass es sich bei dem zweiten Mord um eine Nachahmungstat handelt.“ „Ich schlage vor, dass meine Leute und ich uns um das Umfeld von Neele Tänzer kümmern“, brachte sich Udo Löffler ins Spiel. „Vielleicht führen die Spuren am Ende zusammen.“ „Alle Straßen führen nach Rom“, philosophierte Heinrich Eisenhardt. „Gut, dann gehen wir zunächst einmal den Anrufen bezüglich des Pantombildes nach. Da ist einiges aufgelaufen.“

 

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Während sich die Kollegen der MK 5 im Milieu umhörten und Edda und Aron damit beschäftigt waren, den Anrufen besorgter Zeitungsleser nachzugehen, die den mutmaßlichen Mörder gesehen zu haben glaubten, klapperten Eisenhardt und ich sämtliche psychiatrische Kliniken in und um Bremen ab. Es gab keine Möglichkeit, die von vornherein auszuschließen war. Die kleinste Nachlässigkeit konnte schließlich in einer weiteren Katastrophe enden.

Bis zum Abend hatten wir nicht nur den halben Tank meines Dienstwagens leer gefahren und uns die Hacken krumm gelaufen, sondern auch Duzende von Gesprächen mit Pflegern, Betreuern, Psychologen und Anstaltsärzten geführt. Alle potentiell in Frage kommenden Personen waren entweder unter Verschluss oder standen unter permanenter Beobachtung. Ich hatte im Traum nicht für möglich gehalten, was erschreckende Realität war. Es musste allein in Bremen hunderte Kranke geben, die zu meist durch persönliches Leid oder durch Unfälle in psychische Notlage geraten und somit auf professionelle Hilfe angewiesen waren. Sie waren an den Rand der Gesellschaft gedrückt, wurden totgeschwiegen, vergessen. Eine Tatsache, der man sich als Außenstehender nur allzu gern verschließt.

Als die SOKO ‚Lippenstift' am frühen Abend zu einer letzten Besprechung im Präsidium zusammensaß, waren mir die Eindrücke des Tages offenbar anzumerken. Vielleicht war es aber auch der ausbleibende Erfolg, der an meinen Nerven zerrte, denn auch die Kollegen hatten keine greifbaren Resultate vorzuweisen. Die einzige positive Nachricht kam mit dem Obduktionsbericht aus der Rechtsmedizin. Offenbar hatte sich das zweite Opfer vehement zur Wehr gesetzt. Unter den Fingernägeln der Zweiundzwanzigjährigen wurden Hautpartikel gefunden, die möglicherweise vom Täter stammten. Ein erster Lichtblick auf der Fahrt durch einen langen Tunnel.

 

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Aus den Lautsprechern der Stereoanlage klang leise Musik. Trixi wirbelte schon den ganzen Nachmittag durch die Wohnung, versuchte sich durch Putzen, Kochen und andere Hausarbeiten von den schrecklichen Ereignissen der vergangenen Nacht abzulenken. Immer wieder wanderten ihre Augen zu den großen grellen Ziffern, die von der digitalen Uhr an die Wand über dem Fernsehgerät projiziert wurden. Längst war die Dunkelheit durch die Häuserschluchten der Stadt gekrochen. Die Scheinwerfer der dahinjagenden Autos wirkten wie Glühwürmchen, die aufgeregt herumzutanzen schienen. Vor den Ampeln reihten sie sich dann wieder zu einer nicht enden wollenden, grell funkelnden Perlenkette auf.

Trixi stand gern auf dem Balkon und beobachtete das muntere Treiben tief unter ihr. Manchmal vergaß sie darüber sogar, dass sie immer noch allein zu Hause war. Heute fiel ihr das Alleinsein jedoch besonders schwer. Einen Augenblick dachte sie daran, mich anzurufen, doch ebenso schnell verwarf sie den Gedanken wieder. Trixi wusste, wie ich darüber dachte. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und legte irgendeine CD ein, drehte die Musik lauter und verschwand im Schlafzimmer.

Sie bemerkte nicht, wie vom Flachdach her ein Seil herabgelassen wurde und sich Sekunden später eine dunkel gekleidete Person lautlos daran abseilte. Als sie zurückkehrte trug sie nur noch den Hauch eines Nichts. Sie wunderte sich über die Musik, die aus den Boxen strömte. Sie gefiel ihr. Ein Blues, wenn sie sich nicht irrte. Die rhythmischen Klänge hatten schnell Besitz von ihr ergriffen, zwangen Trixi dazu, sich im Takt der Musik zu bewegen. Sie tanzte beschwingt und befreit von allen Gedanken, die sie gerade noch belastet hatten.

Die von der geöffneten Balkontür eindringende Abendkühle trieb ihr schließlich einen Schauer über den Rücken. Zielstrebig steuerte sie die Tür an und schloss sie. Wäre es still gewesen, hätte sie den Atem des Unbekannten hören müssen, der sie bei ihrem Tanz beobachtet hatte und sich nun dicht an die Hauswand presste, um nicht von ihr gesehen zu werden.

 

Froh darüber, endlich zu Hause zu sein, schloss ich hinter mir die Tür. Im ersten Moment wunderte ich mich, das Sandy nicht sofort angestürmt kam, doch schon im nächsten Augenblick fiel mir der Grund für die ungewohnte Begrüßung ein. Sandy war zusammen mit Romy für einige Tage bei Trixis Eltern. Die Art und Weise, in der ich im nächsten Moment begrüßt wurde, gefiel mir allerdings noch erheblich besser. Mein Schatz hatte sich an diesem Abend besonders fein gemacht. Sie war ja immer für eine Überraschung gut, aber damit hatte ich ganz gewiss nicht gerechnet.

Trixi hatte uns mein Lieblingsessen zubereitet und eine Flasche Rotwein entkorkt. Auf dem festlich gedeckten Tisch brannten zwei Kerzen und aus den Lautsprecherboxen ertönte…, ich traute meinen Ohren kaum. In der Stereoanlage spielte der Louisiana Blues. Entweder wusste Trixi nicht, was sie sich da anhörte, oder aber das Erlebte hatte sie um den Verstand gebracht. „Kennst du die Musik?“, fragte ich unverfänglich. „Die ist schön, wo hast du die CD her?“ Ich atmete auf. Sie wusste also nicht, was es mit diesem Blues auf sich hatte. „Habe ich mir von Aron ausgeborgt“, log ich ziemlich einfallslos. Trixi machte ein überraschtes Gesicht. „Wusste gar nicht, dass dein Partner auf solch ausgefallene Musik steht.“

Es war nicht einfach, sich nichts anmerken zu lassen, aber wenn ich ihr erzählt hätte, woher ich die CD wirklich hatte, wäre es mit der guten Stimmung vorbei gewesen. So aber stießen wir miteinander an und ließen es uns bei einem leckeren Essen gut gehen.

Der Unbekannte auf dem Balkon beobachtete jede unserer Bewegungen. Er schien Gefallen an der jungen Frau in den leichten Dessous zu finden. Wie liebevoll sie das Essen arrangiert hatte und wie natürlich sie lächelte. In gewisser Weise erinnerte sie ihn an seine Mutter. Auch sie hatte dieses Lächeln, dieses Strahlen in ihren Augen. Bei Gott, er hatte sie geliebt. Warum nur hatte alles so kommen müssen?

Er starrte weiter durch die große Fensterscheibe und sah, wie die Frau tanzte, die ihn in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Dass sie mit dem Mann tanzte, der ihn durch den Park gehetzt hatte, interessierte ihn nur am Rande. Seine Augen waren nur auf Trixi gerichtet. Erst als das Licht im Wohnzimmer erlosch, verließ auch der Mörder den Balkon.

 

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Die Digitalanzeige meines Radioweckers zeigte 2:36 h, als ich durch das Gedudel meines Handys aus dem Schlaf gerissen wurde. Es war bereits die dritte Nacht, die ich nicht vernünftig durchschlafen konnte. Der ‚Lippenstiftmörder', wie der irrsinnige Killer inzwischen in den Gazetten genannt wurde, hatte allem Anschein nach erneut zugeschlagen. „Hat dieser Verrückte schon wieder ein Opfer gefunden?“, fragte Trixi, die ebenfalls aufgewacht war. „Es sieht ganz danach aus“, bestätigte ich ihren Verdacht. „Versprich mir, dass du auf dich aufpasst, Mike.“ „Mach dir keine Sorgen.“

Der Tatort befand sich dieses Mal am Eingang zum Bürgerpark, in Höhe Hollerallee. Es konnte kein Zufall sein, dass sich alle drei Morde in der Nähe der Altstadt ereignet hatten. Entweder war der Täter in dieser Gegend ansässig oder er hatte einen besonderen Bezug zur City.

Aron brauchte ich nicht an der sonst üblichen Ecke auflesen, da sich der Tatort in unmittelbarer Nähe zu seiner Wohnung befand. Es wunderte mich folglich nicht, dass er sich bei meinem Eintreffen schon vor Ort befand. Die Kollegen der Schutzpolizei hatten bereits großflächig abgesperrt. Aufgrund des Blaulichtgewitters hatten sich trotz fortgeschrittener Stunde bereits viele Schaulustige eingefunden. Ich parkte meinen Wagen auf einem der geteerten Parkwege. Eine Schar Reporter fiel über mich her, kaum dass ich den Wagen verlassen hatte.

„Hauptkommissar Winter“, drückte mir einer der Sensationsgeier sein Mikrophon ins Gesicht. „Was beabsichtigt die Polizei zu unternehmen, um dem Lippenstiftmörder endlich das Handwerk zu legen? Wie viele unschuldige Frauen müssen noch ihr Leben lassen, bis ihr diesen Wahnsinnigen endlich unschädlich gemacht habt?“ „Ich versichere Ihnen, wir setzen alle Hebel in Bewegung“, entgegnete ich sachlich. „Das kann ja dann wohl nicht allzu viel sein!“, rief ein anderer Reporter. „Ich bitte Sie nun, mich nicht länger von meiner Arbeit abzuhalten.“ „Stimmt es, dass Ihre Lebensgefährtin Zeuge des zweiten Mordes wurde?“ Es war mir ein Rätsel, wie diese Geier davon Wind bekommen hatten. „Kein Kommentar“, erklärte ich, während ich mir einen Weg durch die aufgebrachte Schar der Reporter bahnte.

Mit meinem Dienstausweis in der Hand überwand ich die Absperrung. Die uniformierten Kollegen sorgten dafür, dass ich endlich die Luft bekam, die ich brauchte, um mich auf meine Arbeit zu konzentrieren. Einige Schritte voraus, unter einer alten Buche, wurden bereits einige Scheinwerfer aufgebaut, um den Fundort der Leiche zur Spurensicherung auszuleuchten. Die Szene hätte ebenso gut der Dreh zu irgendeinem Horrorstreifen sein können. Kabelträger, Beleuchter, Kameraleute, alle liefen scheinbar ohne jeden Plan durcheinander und doch funktionierte dieses Chaos. Alles, was ich von meinem Standort aus erkennen konnte, war eine knapp bekleidete junge Frau, die genau wie die beiden ersten Opfer mit ihrem Rücken am Stamm eines Baumes lehnte. Und ich sah einen Nylonstrumpf, der wie eine Fahne im Wind flatterte.

„He, Mike, hier drüben“, rief mir die vertraute Stimme meines Partners zu. In der Hand, die er mir entgegenstreckte, hielt er einen Becher mit heißem Kaffee. „Bei meiner Ehre, wenn ich schwul wäre, würde ich mich glatt in dich verlieben.“ Aron reichte mir den Becher und deutete auf den RTW, an dem eine Frau mit langen roten Haaren und einer Thermoskanne in der Hand lehnte. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich in ihr Staatsanwältin Christa Ritschler. Sie sprach mit einer jungen Frau, die in der offenen Tür des Rettungswagens saß. „Wer hätte das gedacht“, zwinkerte ich meinem Partner zu, „…unsere verehrte Rechtsgelehrte zeigt ja direkt menschliche Züge.“ „Vielleicht haben wir sie ja doch verkannt“, hoffte mein Partner. Ich war mir da nicht so sicher. „Wissen wir schon, wer die Tote ist?“, erkundigte ich mich bei Aron. „Eine gewisse Carola Luther. Sie wurde übrigens von der jungen Frau gefunden, mit der sich unsere Frau Staatsanwältin gerade unterhält. Übrigens die Freundin des Opfers. Sie war bereits hier, als die Kollegen von der Streife eintrafen.“ Ich sah meinen Partner erstaunt an.

Da ich den Jungs von der Spusi am Fundort der Leiche nicht im Wege stehen wollte, begab ich mich zunächst zu den beiden Frauen hinüber. Einer der Sanitäter holte die Zeugin nochmals in den RTW und kümmerte sich um sie.

„Mein Kompliment“, lobte ich, „…der Kaffee ist wirklich gut.“ „Sie sind der Erste, der das sagt. Der Kaffee ist lausig, aber er ist zumindest heiß. Trotzdem vielen Dank, der Versuch nett zu sein, war… nett.“ Es war schon beeindruckend, wie es unsere junge Staatsanwältin immer wieder schaffte, mich vor den Kopf zu stoßen. Wir mochten uns nicht sonderlich und dennoch hatte diese Frau etwas Animalisches an sich, was meine Neugier weckte. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sich mein Partner mit dem Notarzt unterhielt. Es ging also auch ohne mein Zutun alles seinen gewohnten Gang.

 

Kurz darauf verließ auch die Zeugin wieder den Rettungswagen. Das Beruhigungsmittel schien bereits zu wirken. „Ich habe bereits gehört, dass Sie der Toten sehr nahe standen“, wandte ich mich an die junge Frau. „Ich möchte Ihnen mein herzliches Beileid aussprechen.“ Sie nickte mir gefasst zu. „Mein Kollege sagte mir, Sie hätten Ihre Bekannte gefunden?“ „Ja“, entgegnete sie kaum vernehmlich. „Fühlen Sie sich in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten?“ Die junge Frau hob den Kopf. Ihr Blick ersetzte mehr als tausend Worte. In ihrem Ausdruck lag Fassungslosigkeit und Bestürzung. „Aber ich habe doch der Frau Staatsanwältin schon alles gesagt.“ „Ich weiß, wie schwer es Ihnen fallen muss, noch einmal darüber zu sprechen, aber möglicherweise fällt Ihnen im Gespräch mit mir etwas ein, dem Sie bislang keine Bedeutung zumaßen oder das Ihnen entfallen war.“

Die junge Frau nahm noch einen Schluck von der bräunlich heißen Brühe, die wie Kaffee duftete und legte ihren Kopf in den Nacken. „Sie haben also die Kollegen mittels Notruf verständigt“, versuchte ich ihr den Einstieg zu erleichtern. Die junge Frau starrte mich irritiert an. „Nee, die kamen ja, kaum dass ich Carola gefunden hatte.“ Meine Stirn krauste sich. „Ja, aber wenn Sie nicht anriefen, wer hat denn dann die Kollegen alarmiert?“ „Na, ich war's jedenfalls nicht. Ich war ja froh, dass die Bullen… äh, ich meine, die Polizeibeamten kurz darauf da waren.“

Christa Ritschler und ich sahen uns verwundert an. „Ich kümmere mich darum“, erklärte sie und stellte sich etwas abseits, um in Ruhe zu telefonieren. Ich war mir sicher, dass sie mit der Notrufzentrale sprach. Dort wurden alle eingehenden Gespräche auf Band gespeichert.

Die Frau in der Tür des RTW zog die Decke zurecht, die ihr einer der Sanitäter um die Schultern gelegt hatte. Sie leerte den Kaffeepott und stellte ihn schließlich zur Seite. Ich folgte ihrem Beispiel. „So, nun erzählen Sie mal der Reihe nach, was sich heute Abend abgespielt hat.“ „Wie jetzt?“ „Hören Sie, ich kann eins und eins zusammenzählen. Ihre Freundin läuft mitten in der Nacht allein durch die Stadt, obwohl innerhalb der letzten drei Tage ganz in der Nähe zwei Frauen ermordet wurden. Ich vermute, Sie haben sich gestritten. Kurz darauf tat es Ihnen Leid und Sie sind ihrer Freundin nach, um nach ihr zu suchen.“ Sie begann zu weinen, sah mich an und nickte. „Genauso war es.“

Ich nahm sie in den Arm und drückte sie. „Es ist nicht Ihre Schuld, so etwas nennt man Schicksal.“ Tränen tropften auf meine Schulter. „Alles nur wegen eines Kerls“, schniefte sie. „Wie viel Zeit war zwischen dem Streit und dem Auffinden Ihrer Freundin vergangen?“ „Ich weiß nicht“, stammelte sie „Ungefähr“, ließ ich nicht locker. „Vielleicht eine Stunde, oder etwas mehr.“ „Wo hatten Sie sich gestritten?“, hakte ich nach. „Wir waren mit ein paar Jungs in der ‚offen:bar'.“ „Das ist nicht gerade um die Ecke“, stellte ich erstaunt fest. „Wo um Himmels Willen wollte Ihre Freundin denn hin?“ „Carola und ich wohnen nicht weit von hier, in der Wachmannstraße. Ein paar Meter noch, dann wäre sie zu Hause gewesen.“

Das war mehr als tragisch. Umso mehr scheute ich mich, eine Frage zu stellen, die mir schon eine ganze Weile auf der Seele brannte. „Es deutet einiges darauf hin, dass Ihre Freundin das dritte Opfer des so genannten Lippenstiftmörders geworden ist. Sie wissen, dass die ersten beiden Frauen Prostituierte waren?“ Ich ließ meine Worte auf sie wirken. Die junge Frau in der Tür des Rettungswagens sah mich nachdenklich an, bis sie begriff, worauf ich hinaus wollte. „Ach, jetzt verstehe ich. Nein!“, entgegnete sie energisch. „Carola war ebenso wenig eine Nutte wie ich es bin!“ „Verzeihen Sie mir, aber ich musste diese Frage stellen.“

Der Mörder hatte sich offenbar geirrt. Gingen wir bei den beiden ersten Fällen davon aus, dass sich der Täter vornehmlich Prostituierte als Opfer ausgesucht hatte, mussten wir jetzt annehmen, dass sein drittes Opfer sterben musste, weil es der Zufall so wollte. Es war höchste Zeit, mir die Leiche genauer anzusehen. „Eine Frage noch“, wandte ich mich ihr ein letztes Mal zu. „Wie kamen Sie darauf, gerade hier nach Ihrer Freundin zu suchen? Der Fundort liegt eigentlich nicht auf dem direkten Heimweg zu Ihrer Wohnung.“ „Es war der Klingelton Ihres Handys. Ich hatte Carola immer wieder versucht anzurufen. Meinen letzten Versuch unternahm ich, als ich da vorn am Überweg zur Tankstelle warten musste. Plötzlich hörte ich den Klingelton ihres Handys. Ich ging ihm nach und fand sie.“ Sie begann hemmungslos zu weinen. „Ich wusste sofort, dass Carola tot war.“ „Haben Sie sonst noch etwas gehört?“, hakte ich nach. Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Bitte denken Sie genau nach.“ „Nein, da war nichts.“

„Also schön, das soll's fürs Erste gewesen sein. Eine Polizeistreife wird Sie jetzt nach Hause fahren. Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmern könnte?“ „Meine Nachbarin“, entgegnete sie leise. „Also gut, versuchen Sie ein wenig zur Ruhe zu kommen. Melden Sie sich dann bitte im Laufe des Vormittags im Präsidium, um Ihre Aussage zu protokollieren.“ Ich reichte ihr meine Karte. „Falls Ihnen noch etwas einfällt, können Sie mich jeder Zeit anrufen.“

 

-23-

 

Trixi hatte lange gebraucht, um wieder einzuschlafen. Der erneute Mord an einer jungen Frau hatte in ihr die Bilder der vorangegangenen Nacht wieder lebendig werden lassen. Irgendwann war sie aufgestanden und hatte eine Schlaftablette eingenommen. Kurz darauf zeigte das Medikament die erhoffte Wirkung und versetzte sie in tiefen Schlaf. So bemerkte sie nicht, wie sich bereits wenig später jemand an der Balkontür zu schaffen machte.

Der Unbekannte benutzte einen Spachtel und einen Schraubenzieher, um den einfachen Mechanismus der Absperrvorrichtung auszuhebeln. Ein leichter Druck an der richtigen Stelle reichte aus, um die Kunststofftür beinahe geräuschlos aufspringen zu lassen. Bevor er in das Innere der Wohnung trat, vergewisserte er sich, ob sein Einbruch unbemerkt geblieben war.

So lautlos wie eine Schlange schlich er durch das Wohnzimmer. Nur das schwache, bläuliche Licht einer kleinen LED Taschenlampe wies ihm den Weg ins Schlafzimmer. Ohne auch nur ein einziges Geräusch zu verursachen, öffnete er die Tür. Sein Herz schlug ihm bis an den Hals, als er das Ziel seiner Begierde direkt vor sich im Bett liegen sah. Sie war es, sie musste es einfach sein, die Reinkarnation seiner geliebten Mutter. Als er die junge Frau in der Nacht zuvor im Auto des Hauptkommissars sah, war ihm klar, dass es die Vorsehung war, die sie wieder zusammengeführt hatte. Er wusste es, wusste es die ganze Zeit, seine geliebte Mutter war nicht von ihm gegangen, hatte ihn nicht wirklich verlassen.

Lange stand er so vor dem Bett und schaute ihr beim Schlafen zu, beobachtete, wie sich ihr wohlgeformter Brustkorb hob und wieder senkte. Sah vor seinem geistigen Auge, wie sie zu seiner Lieblingsmusik tanzte und hätte darüber fast den eigentlichen Grund für seinen Besuch vergessen. Selbstzufrieden griff er in die Tasche und zog das mitgebrachte Fläschchen hervor. Dann träufelte er einige Tropfen der enthaltenen Flüssigkeit auf ein Leinentaschentuch und drückte es ihr über Mund und Nase.

Trixi erschrak fast zu Tode, als sie den Druck auf ihrem Gesicht verspürte. Sie konnte nicht sehen, wer sein perfides Spiel mit ihr trieb. Sie schlug wild um sich, kratzte und versuchte die fremde Hand mit dem Tuch wegzudrücken, doch es fehlte ihr an Kraft, um sich erfolgreich zu wehren. Nach und nach schwanden ihre Sinne und sie fiel in tiefe Bewusstlosigkeit.

Der Unbekannte griente zufrieden. Er war sich sicher genug, um sogar das Licht einzuschalten. Andererseits war er vorsichtig genug, um seine dünnen Handschuhe anzubehalten. Er ging ins Bad hinüber, griff sich einen von Trixis Lippenstiften und schrieb mit hämischen Grinsen die Worte: ‚ sie gehört jetzt mir' auf ihren Schminkspiegel. Dann begab er sich zurück an ihr Bett, schulterte sie und verschwand mit ihr.

 

-24-

 

Ich kniete bereits seit einigen Minuten stumm vor dem Opfer und betrachtete nachdenklich die Art, wie der Mörder sie gegen den Baum gelehnt zurückgelassen hatte. Fast hatte es den Anschein, er habe nur mit ihnen spielen wollen. So, als seien die Frauen Puppen gewesen. Aber dann war da das Wort ‚Hure' auf der Stirn der Toten. Hatte er wahllos nach ihr gegriffen? Oder hatte er sich nur auf Grund ihrer gewagten Kleidung für sie entschieden?

„Mein Gott, dieses Mädchen ist das dritte Opfer und wir sind keinen einzigen Schritt vorwärts gekommen. Wie viele unschuldige Frauen müssen noch sterben, bis wir diesen Verrückten endlich aus dem Verkehr gezogen haben?“ Aron legte seine Hand auf meine Schulter und sprach beruhigend auf mich ein, doch im Grunde hörte ich gar nicht, was er zu mir sagte. Ich fragte mich vielmehr, was einen Menschen zu solch schrecklicher Tat trieb. Auch wenn unsere Psychologen immer sehr schnell die Kindheit dieser Monster für ihr krankhaftes Verhalten verantwortlich machen, so sollte man nicht vergessen, dass die Opfer und deren Angehörige die Leidtragenden sind. Eine Tatsache, die man bei allen Entschuldigungen, die da für die Täter ins Feld geführt werden, nicht vergessen sollte. Ich hasse es, wenn die Schuldigen auf diese Weise zu Opfern unserer ach so feindseligen Gesellschaft gemacht werden und die eigentlichen Opfer in ihrem Schmerz allein gelassen werden.

„Wir wissen inzwischen, wer in der Notrufzentrale anrief“, riss mich Staatsanwältin Ritschler aus den Gedanken. „Der Anrufer nannte zwar nicht seinen Namen, aber die Kollegen konnten ihn mit Hilfe der Telefongesellschaft dennoch herausfinden.“ Ich erhob mich wie ein alter Mann. Nicht, weil ich müde war oder weil mir die körperliche Fitness fehlte, es war eine gewisse Resignation, eine Ratlosigkeit und die Trauer um diese drei jungen Leben, die mich lähmte. Klar war ich wütend, natürlich wusste ich, dass dieser Verrückte weiter morden würde, wenn wir ihn nicht fassten, aber diesen kurzen Moment der Schwäche musste ich mir einfach zugestehen.

 

„Können wir die Tote jetzt in die Rechtsmedizin bringen?“, hörte ich Doktor Schnippler fragen. Der Pathologe war mir keine Antwort schuldig geblieben. Er hatte sich mit dem Todeszeitpunkt auf 1:30 h festgelegt. Mehr konnte ich für den Moment nicht erwarten. „Alles Weitere, wie gewohnt, nach der Obduktion.“ Ich nickte ihm zu und wandte mich an die Staatsanwältin. „Wieder einer dieser stummen Zeugen, die sich lieber aus allen Unannehmlichkeiten heraushalten?“, fragte ich die Rothaarige voreingenommen. „Keine Ahnung, der Mann heißt Nette und wohnt in der Hollerallee 3.“ „Das müsste dort drüben sein“, deutete Aron auf eines der Mehrfamilienhäuser, die dem Fundort vis-a-vis lagen. „Hm, na gut, dann wollen wir den Herren doch mal fragen, warum er anonym bleiben wollte.“

Da die Kollegen von der Spusi noch immer nicht mit der Beweissicherung fertig waren, verpasste ich vor Ort nichts, wenn ich den Zeugen selbst aufsuchte. Ich verließ also den Park, überquerte die Hollerallee und steuerte das Gebäude mit der Nummer 3 an. Das zweistöckige Mehrfamilienhaus war von einigen Bäumen verdeckt. Ich fragte mich, wie von hier aus überhaupt jemand etwas hatte sehen können. Hinter einem der Fenster im Obergeschoss brannte noch Licht. Ich wettete mit mir selbst, dass der ominöse Zeuge die Tat genau von dort aus beobachtet hatte. Wahrscheinlich schämte er sich, weil er nicht selbst eingeschritten war, um das Verbrechen zu verhindern. Es geht vielen Zeugen so, doch ihre Scham ist unbegründet. Die Tatsache, dass sie die Polizei verständigten, war mehr als viele andere taten. Niemand erwartet von einem Zeugen, dass er sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Auch ich nicht.

Ich läutete also und wartete auf eine Reaktion. Die stellte sich quasi noch mit dem Klingeln in Form einer Stimme ein, die aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage zu vernehmen war. „Nette.“ „Hauptkommissar Winter, Mordkommission 2. Ich hätte Sie gern gesprochen, Herr Nette.“ „Kommen Sie hoch!“, vernahm ich die kräftige Stimme eines vermeintlich älteren Herrn. Mit dem Summen des Türöffners trat ich ein.

„Kommen Sie herein, hörte ich die Stimme wieder, kaum dass ich vor der einen Spalt breit geöffneten Wohnungstür angelangt war. Ich kam der Aufforderung mit einiger Verwunderung nach. Als ich den Zeugen sah, wurde mir einiges klar. „Sie trinken sicher einen Kaffee mit?“, fragte der Mann im Rollstuhl. Ich nickte beschämt. Mein schlechtes Gewissen schnürte mir für einen Moment lang die Kehle zu. „Ich habe Sie bereits erwartet“, gab er mir zu verstehen. Wie konnte er , fragte ich mich. „Sie fragen sich, weshalb ich meinen Namen nicht nannte?“ Er lächelte schelmisch. „Nun, ich wollte sehen, was die Polizei so drauf hat.“ Jetzt musste selbst ich lachen. Der Mann hatte sich zumindest seinen Humor bewahrt.

„Also schön, Sie haben also die Notrufnummer gewählt. Darf ich fragen, was Ihrem Anruf vorweg gegangen war?“ „Aber sicher, deswegen sind Sie ja hier.“ Der rüstige ältere Herr steuerte seinen Rollstuhl gekonnt zwischen Tisch und Schränken hindurch und schenkte uns einen Kaffe ein. „Milch und Zucker?“, fragte er höflich. „Danke, ich trinke ihn schwarz“, entgegnete ich zunehmend ungeduldiger werdend. „Junger Mann“, sagte er plötzlich mit fester Stimme. „Wenn ich eines in meinem bewegten Leben gelernt habe, dann ist es stets die nötige Geduld aufbringen zu müssen. Denn wahre Kraft ergibt sich aus der Ruhe.“

Langsam wurde mir der alte Mann unheimlich. „Nehmen Sie sich Ihre Tasse und folgen Sie mir.“ Ehe ich irgendetwas sagen konnte, war er auch schon wieder verschwunden. Mir blieb nichts anderes, als wie ein Schoßhündchen hinter ihm herzutrotten. Was ich kurz darauf sah, erübrigte allerdings viele meiner Fragen. Vor dem Fenster, welches ich von unten bereits bemerkt hatte, stand ein Teleskop. Kein Wunder, dass er trotz der Bäume etwas gesehen haben konnte. Gleich neben dem Stativ befand sich ein Schreibtisch, auf dem allerhand Notizen lagen.

„Mein Hobby ist das Einzige, was mir nach dem Tod meiner Frau geblieben ist“, erklärte er. „Ich konnte mal wieder nicht schlafen. Wenn's auf Vollmond zugeht, schmerzen die Beine, die nicht mehr da sind. Ich bin also wie immer in solchen Nächten ans Fenster und habe die Sterne beobachtet, als mein Interesse plötzlich auf die Hilferufe einer jungen Frau gelenkt wurde. Zunächst konnte ich den Ursprung der Rufe nicht deuten. Es war ja auch nichts mehr zu hören. Fast wollte ich mich wieder den Sternen zuwenden, als ich durch die Bäume hindurch etwas aufblitzen sah. Zunächst dachte ich an ein Messer, welches sich im Mondlicht spiegelte, aber dann sah ich, dass sich das Licht in mehrere Farben brach.“

Ich hörte ihm aufmerksam zu, doch ich fragte mich, auf was dieser Mann hinauswollte. „Das Mädchen muss Schmuck getragen haben. Irgendeinen großen Schmuck! Ein Amulett, ein Collier oder so etwas.“ „Konnten Sie das Gesicht des Mannes erkennen?“, fragte ich flehentlich. „Leider nicht, dafür war es zu dunkel, aber er hatte exakt dieselbe Größe wie das Mädchen. Es ging alles furchtbar schnell. Im ersten Schrecken wusste ich gar nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Ich saß einfach nur da und sah hinüber. Wenn ich nur etwas früher den Notruf gewählt hätte, könnte die Frau vielleicht noch leben.“

Zwei große braune Augen starrten mich verzweifelt an. „Sie haben alles richtig gemacht“, beruhigte ich ihn. „Fiel Ihnen sonst noch etwas auf?“, fragte ich hoffnungsvoll weiter. „Der Kerl pfiff“, schüttelte der alte Mann fassungslos den Kopf. „Stellen Sie sich vor, Herr Hauptkommissar, dieser Mensch begeht einen Mord und zieht fröhlich pfeifend von dannen.“ Genau darauf hatte ich gewartet. Ich zog mein Handy aus der Tasche und spielte ihm ohne irgendetwas zu sagen den Blues vor. „Das ist sie!“, rief der Mann im Rollstuhl mit zweifelloser Stimme. „Genau diese Melodie war es!“ „Kein Zweifel?“, hakte ich nach. „Die würde ich unter tausend anderen wieder erkennen. Da läuft es einem ja kalt den Rücken hinunter.“

Damit stand spätestens jetzt zweifelsfrei fest, dass dieser Song in irgendeiner Weise auf den Mörder Einfluss nahm. Um dies zu erkennen, brauchte man nicht mal ein Psychologe sein. „Konnten Sie sehen, in welche Richtung der Täter verschwand?“, befragte ich den Zeugen weiter. „Soweit ich erkennen konnte, verschwand er zu Fuß über den Kreisel in Richtung Tankstelle. Gleich danach informierte ich die Polizei.“ Mir fiel die Freundin der Ermordeten wieder ein. „Beobachteten Sie anschließend weiter?“ „Sie wollen wissen, ob ich die andere junge Frau bemerkt habe?“ Ich nickte, ohne mich zu wundern. „Sie kam, kurz bevor der erste Streifenwagen eintraf.“ Ich trank meinen Kaffee aus und trat an das Teleskop, um einen Blick zu riskieren. „Ist noch genau auf die Position eingestellt“, erklärte der Zeuge. „Nur dass die Scheinwerfer jetzt natürlich eine ganz andere Sicht auf die Stelle ermöglichen“, fügte er erklärend hinzu.

Angesichts dessen, was ich durch das Objektiv erkennen konnte, war ich ziemlich beeindruckt. So konnte der alte Mann trotz seiner Behinderung zumindest passiv am Leben im Park teilnehmen. „Ein schönes Hobby“, befand ich fasziniert. „Da bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher“, entgegnete er betrübt. Ich seufzte, bedankte mich bei ihm und kehrte an den Fund und Tatort zurück, wie wir jetzt sicher sagen konnten. Immer in der Gewissheit, dass die Augen des Zeugen auch weiterhin über uns wachten.

-25-

 

Einige Male wäre er fast mit der schweren Last über seinen Schultern entdeckt worden, doch das Glück der Unverfrorenheit schien auf seiner Seite. Das kleine Siedlungshäuschen stand abseits genug, um sicher zu sein, dass ihn zumindest jetzt niemand dabei beobachten würde, wie er die junge Frau aus dem Kofferraum seines Wagens lud. Die Wirkung des Betäubungsmittels musste bald nachlassen. Er musste sich also beeilen, wenn er seine kostbare Fracht an ihren Bestimmungsort bringen wollte, bevor sie erwachte.

Lange Zeit hatte er vergeblich nach einem geeigneten Ersatz gesucht. Dass er diesen nun ausgerechnet in der Freundin des Mannes gefunden hatte, der ihn verfolgte, musste ein Wink des Schicksals sein. Er legte Trixi auf das Bett, welches er eigens für sie vorbereitet hatte und zog ihre Kleider aus. Stumm betrachtete er ihren nackten Körper, bevor er ihr das Nachthemd seiner Mutter überstreifte und mit ihrer eigenen Wäsche unter dem Arm den Raum verließ.

 

Es vergingen Stunden, ehe Trixi erwachte. Der Kopf dröhnte ihr, als sei sie am Vorabend mit einem Vollrausch zu Bett gegangen. Was war das nur für ein böser Traum gewesen , erinnerte sie sich dunkel, ehe sie zögerlich die Augen öffnete. Als sie ihre Umgebung wahrnahm, schreckte sie hoch. Befand sie sich auch jetzt noch in diesem Traum? , fragte sie sich verstört. Und was für ein Nachthemd trug sie da eigentlich? Wer hatte es ihr angezogen? Sie zwickte sich selbst, verspürte den Schmerz und glaubte dennoch nicht, was sie sah.

Wo war sie hier und wie um alles in der Welt war sie an diesen Ort gekommen? Trixi schaute sich um. Ein Krankenhaus konnte das nicht sein. Ein kleines vergittertes Fenster befand sich unter der Zimmerdecke. Ein Kellerraum , schoss es ihr durch den Kopf. Noch etwas benommen erhob sie sich aus dem Bett und suchte nach ihren Sachen. Nichts. Raus, ich muss hier raus! , sagte sie sich entschlossen, auf die einzige Tür des Raumes zugehend. Sie war verschlossen! Fast hatte sie es erwartet. Panik kam in ihr auf. Wütend trommelte sie mit beiden Fäusten gegen die Tür und rief um Hilfe, doch niemand schien sie zu hören. Es hilft alles nichts , besann sie sich und zwang sich zur Ruhe. Jetzt galt es erst einmal kühlen Kopf zu bewahren. Offensichtlich hatte sie irgendjemand entführt. Warum und weshalb wusste sie nicht, aber wenn sie heil aus der Sache herauskommen wollte, musste sie sich zusammenreißen.

Trixi sah sich genauer im Raum um. Da war das Bett, auf dem sie gelegen hatte, gleich daneben stand ein Kleiderschrank und an der Wand befand sich ein Wachbecken. Alles sehr einfach gehalten und so alt, als stamme es aus einer anderen Zeit, aber dennoch sauber. Wahrscheinlich war der Raum irgendwann einmal als Gästezimmer genutzt worden. Trixi öffnete eine der Schranktüren. Röcke und Kleider, zwei, drei Hosen. Alles Klamotten, die längst aus der Mode waren. Kleidung, wie sie vor etlichen Jahren von ihrer Mutter getragen wurden , entsann sich Trixi. Sie zog einen Stapel Unterwäsche hervor. Der Gedanke daran, etwas davon anzuziehen, war ihr unangenehm, doch die Gewissheit, in der vergangenen Nacht von irgendjemandem nackt gesehen worden zu sein, machte sie wütend.

 

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Ich war ziemlich down, als ich meinen Wagen auf dem Stellplatz vor dem Haus abstellte und meinen Haustürschlüssel hervorkramte. Der Morgen graute bereits und genau deshalb hatte ich nicht mehr als zwei Stunden, um mich noch ein wenig hinzulegen, mich frisch zu machen, zu frühstücken und wieder ins Präsidium zu fahren. Es war höchste Zeit, um diesen Verrückten dingfest zu machen, damit ich wieder in Ruhe schlafen konnte.

Nur die dezente Flurbeleuchtung schaltete sich ein, als ich die Wohnungstür öffnete. Der Rest der Wohnung lag im Dunkeln. Trixi schlief also noch. Ich bemühte mich leise zu sein, schlich zunächst ins Bad und machte mich dort etwas frisch, um mich dann im Wohnzimmer auf die Couch zu legen. Ich stellte die Weckvorrichtung meines Handys ein, zog mir die Wolldecke über den Kopf und schlief ein.

Exakt um 7:30 h wurde ich durch ein ‚guten Morgen, liebe Sorgen' Klingelton zu neuem Leben erweckt. Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren, aber dann war ich wieder fit wie ein Turnschuh. Wer's glaubt. Ohne eine kalte Dusche würde ich mich wahrscheinlich den gesamten Tag lang wie ein Schlafwandler bewegen. Ich schlurfte also ins Bad, um meinem ermatteten Körper neues Leben einzuhauchen. Auch zwanzig Minuten später hatte ich nicht gerade das Gefühl, Bäume ausreißen zu können, aber wenigstens wusste ich wieder, wie ich hieß.

Selbst das eklatant laute Brummen unserer Capuccinomaschine schien meinem Schatz nichts auszumachen. Sie schlief offensichtlich immer noch den Schlaf des Gerechten. Eine schöne Gelegenheit, um ihr mal wieder ein gepflegtes Frühstück ans Bett zu bringen. Ich stellte also alles auf ein Tablett und trug es nach oben.

„Morgen, Schatz!“, rief ich, noch während ich die letzten Stufen der Wendeltreppe hinter mir ließ. Nur gut, dass ich mein Gesicht nicht sah, als ich Trixis leeres Bett bemerkte. Ich strengte meine letzten Gehirnzellen an und überlegte, ob sie heute früher in die Uni wollte, doch irgendwie wollte mir nichts einfallen. Als ich das Tablett absetzte, fiel mir ein Tuch auf, von dem aus ein mir nicht unbekannter Geruch ausging. Ich hatte mich nicht getäuscht, das Tuch roch nach Chloroform. Hier stimmte etwas nicht, so viel war sicher.

„Trixi!“, rief ich, schlimmeres erahnend. „Trixi, wo bist du, was ist mit dir?“ Ich stürmte die Treppe hinunter, sah mich verzweifelt in der ganzen Wohnung um, und entdeckte schließlich im Badezimmer ihren mit rotem Lippenstift beschmierten Schminkspiegel . ‚Sie gehört jetzt mir', las ich darauf und mein Herz verkrampfte sich. Warum hatte ich nicht schon früher auf den Spiegel geschaut? , haderte ich mit mir, während ich die Kurzwahltaste von Arons Handy drückte. Für einen Hauptkommissar der Mordkommission reichlich aufgeregt, schilderte ich meinem Freund und Partner, was geschehen war. Bereits zwanzig Minuten später waren er und die Kollegen zur Stelle.

„Ich hab's eben erst bemerkt“, deutete ich auf den kreisrunden Schminkspiegel, der sich durch einen Klappmechanismus in Position bringen ließ. „Es muss dieser Irre gewesen sein!“, zeigte ich mich überzeugt. „Hast du schon versucht, Trixi über ihr Handy zu erreichen?“ „Das war natürlich das Erste. Sie hat es nicht bei sich, es liegt im Wohnzimmer.“ „Was macht dich so sicher, dass ausgerechnet der Lippenstiftmörder der Entführer ist?“ „Wer sonst sollte mir eine solche Botschaft hinterlassen?“ Ich schlug verzweifelt mit der Faust gegen den Türrahmen. „Ich hätte es wissen müssen. Trixi ist die Einzige, die ihn gesehen hat und ihm somit gefährlich werden kann.“

Aron zeigte sich betroffen. „Er muss euch gefolgt sein. Möglicherweise musste sein drittes Opfer nur deshalb sterben, weil er dich aus der Wohnung locken wollte.“ „Mike, kommst du mal rüber!“, hörte ich die Stimme von Hans Stockmeier aus dem Wohnzimmer herüberschallen. Während Ingo Klee und Lutz Degenhardt mit dem Sichern der Fingerabdrücke beschäftigt waren, kniete der Leiter der Spusi an der Balkontür. Er deutete auf eine kaum sichtbare Abschürfung im Türrahmen.

„Offensichtlich ist der Entführer vom Balkon her eingedrungen. Das ist die Arbeit eines Profis.“ Hans bedeutete mir, ihm auf den Balkon zu folgen. Er zeigte auf ein Seil, welches vom Dach aus herabhing. „Ich nehme nicht an, dass ihr eure Wäsche daran aufhängt.“ „So ein verdammter Mistkerl!“, fluchte ich. Hans legte mir seine Hand auf die Schulter. „Wir werden diesen Kerl kriegen und Trixi wohlbehalten nach Hause bringen.“ Ich sah meinen alten Wegbegleiter erschüttert an. „Was will dieser Wahnsinnige von ihr? Sie hat doch nichts getan.“ Sie hat ihn gesehen! Das wäre die einzige Erklärung.“

„Wo ist Edda?“, fragte ich Aron, der zu uns herauskam. „Sie wollte eure Nachbarn befragen.“ „Gut.“ „Hast du ein aktuelles Foto von Trixi?“, bat mich mein Partner. „Ja, ja natürlich“, stammelte ich mit meinen Gedanken ganz woanders. „Moment, ich hole dir eins.“ Kaum dass ich das Wohnzimmer wieder betrat, kam mir auch schon Gerd Kretzer entgegen. Mein väterlicher Freund hatte sich sofort nach Erhalt der Nachricht von Trixis Entführung auf den Weg gemacht. Die Bestürzung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Er hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf. „Wir werden diesen Kerl erwischen, das verspreche ich dir, und wenn ich selbst wieder in den aktiven Dienst zurückkehren müsste.“ „Wir zwei, so wie früher, Seite an Seite?“ fragte ich ungläubig.“ „Daraus wird wohl nichts. Du weißt, dass ich dir den Fall wegnehmen muss.“ „Was willst du?“, entgegnete ich in bitterem Unterton. „Du weißt so gut wie ich, dass du emotional viel zu sehr in die Sache involviert bist.“ „Das kannst du doch nicht machen, Gerd!“ „Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als dir den Fall zu entziehen.“ „Ich dachte, du wärst mein Freund“, wetterte ich uneinsichtig. „Genau aus diesem Grund, wirst du dich ab sofort aus der Sache heraushalten!“ „Glaubst du allen Ernstes, ich könnte mich hinter irgendeinen Schreibtisch vergraben und tatenlos dabei zusehen, wie sich die Kollegen den Arsch aufreißen, um Trixi zu befreien?“ „Du bist ein hervorragender Kriminalist, ich brauche dich, um im Präsidium die Fäden zu ziehen.“ „Spar dir das, Gerd! Entweder bin ich voll und ganz dabei oder gar nicht!“ Die Miene des Kriminalrats verfinsterte sich. „Wie meinst du das?“ „Ganz einfach, wenn du mich von dem Fall abziehst, nehme ich Urlaub.“ Mein väterlicher Freund nahm mich zur Seite. „Glaub nicht, dass ich nicht genau wüsste, was du vorhast. Ich kann dich nur warnen, Mike. Wenn du auf eigene Faust etwas unternehmen willst, geht der Schuss nach hinten los.“ „Wer sagt das denn? Ich will meine kranke Großmutter in der Lüneburger Heide besuchen.“ Gerd schüttelte den Kopf. „Also schön, ich kann dir den Urlaub nicht versagen. Vielleicht ist es ja wirklich am besten so, aber wenn du Bockmist baust, kann ich mich nicht schützend vor dich stellen. Ich habe dich gewarnt!“ „Schon klar“, entgegnete ich gereizt. „Du weißt, wo deine Waffe in der Zwischenzeit hingehört?“ Ich sah meinen Freund wütend an. „Wenn du so scharf drauf bist, kannst du sie gleich haben!“

 

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Wenig begeistert sah Trixi an sich herab. Sie sah aus, wie eine abgetakelte Operndiva, aber immer noch besser, als das altertümliche Nachthemd, in dem sie aufgewacht war. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich unter Kontrolle hatte. Ihre Fäuste waren vom Trommeln gegen die massive Tür ganz wund geworden. Irgendwann hatte sie es aufgegeben, war zu der Überzeugung gelangt, dass es vernünftiger sei, sich ihre Kräfte einzuteilen. Einzig der Gedanke der Ungewissheit brachte sie an den Rand der Verzweiflung .

Seit Stunden befand sie sich nun schon in diesem Kellerraum. Die mit Raufaser tapezierten Wände waren weiß gestrichen, kahl und schlicht. Kein Bild, kein Stoff, kein Farbtupfer, der zumindest einen Hauch von Gemütlichkeit verbreitet hätte.

Trixi setzte sich wieder auf das Bett und starrte gedankenverloren an die gegenüberliegende Wand. Würde Mike schon nach ihr suchen? Ob er ihre Eltern anrufen würde, damit sie Romy noch ein paar Tage länger bei sich behielten? Aber wie viel waren ‚ein paar Tage'? Was hatte der Entführer überhaupt mit ihr vor? Geld war bei ihnen doch gar keines zu holen, überlegte sie. Wenn die Entführer Lösegeld wollten, dann konnten sie es auf das Geld ihrer Eltern abgesehen haben.

Trixi schreckte auf. Ein Schlüssel klapperte im Türschloss. Die Klinke wurde heruntergedrückt. Sie starrte auf den Eingang, hielt den Atem an und zuckte zusammen, als sie ihren Entführer erkannte. Heiß und kalt rann es ihr über den Rücken. Obwohl der Mann nicht den schwarzen Umhang trug, hinter dem er sich in der Mordnacht zu verbergen suchte, erkannte sie in ihm sofort den Lippenstiftmörder. Derart erschrocken wich sie zurück und presste sich mit dem Rücken gegen die Wand.

„Schön, dass du Mutters Kleider angelegt hast“, sagte er hocherfreut näher tretend. „Kommen Sie mir ja nicht zu nahe!“, drohte Trixi. „Hui, an deinen schlechten Manieren müssen wir allem Anschein nach noch arbeiten, aber ich bin sicher, dass wir uns recht schnell aneinander gewöhnen werden.“ Trixi traute ihren Ohren nicht. Hatte dieser Irre gerade etwas von aneinander gewöhnen gefaselt? „Ich habe dir eine Kleinigkeit zu essen mitgebracht“, erklärte er von sich überzeugt und von dem, was er sagte.

„Nichts, aber auch rein gar nichts werde ich davon anrühren, bevor Sie mir nicht gesagt haben, was diese verrückte Aktion hier eigentlich soll.“ Das knabenhafte Gesicht des Mannes verzog sich zu einer zornigen Fratze. Seine Augen schienen ein Stück weit aus ihren Höhlen hervorzutreten und der Blick, den er ihr postwendend zuwarf, trug blanken Hass in sich. Er trat direkt bis an das Bett heran, auf dem die Frau seines Herzens noch immer zusammengekauert an der Wand hockte und sagte mit ruhiger, aber drohender Stimme: „Sag nie wieder, ich sei verrückt.“ Dann setzte er wortlos das Tablett ab und drehte sich herum, um den Raum zu verlassen.

War dies ihre Chance? fragte sich Trixi. Ohne lange nach einer Antwort zu suchen, schnellte sie nach vorn, griff sich den Teller, auf dem zwei Scheiben Brot lagen und schlug ihn ihrem Entführer an den Kopf. Ein Reflex bewahrte ihn davor, richtig getroffen zu werden. Er tauchte ab, wich zurück, geriet für einen Moment ins Taumeln, fing sich aber rasch wieder und erwischte die an ihm Vorbeihastende am Arm, noch ehe sie die Tür aufreißen konnte.

„Bis jetzt war ich nett zu dir!“, schrie er sie an, während er sie zurückzerrte und wieder aufs Bett warf. „...aber ich kann auch anders!“ Blut rann an seinem Kopf herab. Es sickerte aus einer schmalen Platzwunde oberhalb des linken Ohres. Er hob drohend den Finger. „Wenn du mir nicht gefügig sein willst, zwingst du mich, dich zu bestrafen. Du gehörst jetzt zu mir, daran wirst du auch durch deine Aufsässigkeit nichts ändern.“ „Niemals!“, schrie ihn Trixi an. „Niemals, eher will ich tot sein!“ „Das wäre ausgesprochen schade, aber wenn es dein Wusch ist, wird es nicht an mir scheitern“, entgegnete er ungerührt.

 

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„Mein Gott, Mike, sei doch vernünftig“, flehte ihn Aron an. „Du musst doch auch den Chef verstehen. Es gibt Vorschriften, an die auch er sich halten muss.“ „Kann ja sein, aber hier geht es nicht um irgendwelche lausigen Verfügungen, hier geht es um Trixis Leben. Keine Macht der Welt wird mich daran hindern, zu tun, was zu tun ist. Ich kriege diesen Verrückten und wenn es das Letzte ist, was ich erledige.“ Aron tat einen tiefen Seufzer. „Meine Güte, Mike, komm zu dir. Wir werden Trixi finden. Du musst jetzt vernünftig sein.“ Ich legte meine Hand auf den Arm meines Partners. „Ich weiß, dass ihr alles daran setzen werdet, sie heile nach Hause zu bringen, aber ich kann euch doch nicht einfach nur dabei zusehen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihr etwas zustößt, während ich Däumchen drehend hinter einem Schreibtisch hocke. Du hast ja keine Ahnung, wie beschissen es mir ging, als ich Rene verlor. Damals habe ich mir geschworen, dass mir so etwas kein zweites Mal passiert.“

Aron sah mich lange an, bevor er antwortete. „Ich kann dich verstehen und ich würde es nicht anders machen. Wenn du mich brauchst, werde ich an deiner Seite stehen. Und das meine ich in jeder Hinsicht.“ „Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“ Gleiches galt auch für Edda, da war ich mir sicher. Wenn's drauf ankam, konnte ich mich bislang immer voll auf sie verlassen.

„Was hat eigentlich die Auswertung der Hinweise ergeben, die bezüglich des in der Zeitung veröffentlich-ten Phantomfotos hereinkamen?“, fragte ich meinen Freund. „Wir haben längst noch nicht alle abgearbeitet, aber bislang hat sich alles als heiße Luft erwiesen.“ Aron machte ein betrübtes Gesicht. „Was hast du jetzt vor?“, erkundigte er sich nachdenklich. „Mir klingen die Worte des Profilers noch im Ohr. Er ist nach wie vor der Ansicht, dass alles in irgendeiner Weise mit diesem Blues zusammenhängt.“ Die Geschichte des alten Archivars kam mir wieder in den Sinn. „Vielleicht bin ich ja schon dichter dran, als ich bislang glaubte?“, sinnierte ich hoffnungsvoll. „Hältst du mich auf dem Laufenden?“, fragte ich Aron tief in die Augen schauend. „Kannst dich drauf verlassen.“

„Hier ist meine Waffe“, sagte ich sauer, während ich ihm meine Walther und das Reservemagazin zureichte. „Sei so lieb und gib sie an den Herrn Kriminalrat weiter. So lange ich Urlaub mache, brauche ich sie ja nicht“, fügte ich sarkastisch hinzu. „Nimm's ihm nicht übel, du weißt, wir machen alle nur unseren Job.“ Ich winkte enttäuscht ab.

In diesem Moment stieß Edda zu uns. „Und?“, fragte ich erwartungsvoll. „Hat die Befragung meiner Nachbarn irgendetwas ergeben?“ „Die ältere Dame unter dir ist sich nicht ganz sicher, aber sie hat die Haustür unten zuschlagen hören. Kurz darauf ist vor dem Haus ein grüner Kombi weggefahren.“ „Die gute Thekla hat ihre Ohren überall.“ Sollte die penetrante Neugier der alten Tratsche tatsächlich die einzig greifbare Spur hervorgebracht haben? „Hat sie das Kennzeichen sehen können?“ „Hat sie, aber leider konnte sie sich nur an die ersten beiden Buchstaben erinnern.“ „Lass mich raten. Ein ‚H' und ein ‚B' für Bremen“, riet ich. Edda machte ein betrübtes Gesicht. „So ist es.“ Ich juckte mich nachdenklich hinter dem Ohr. „Hm, so viele grüne Kombis können in Bremen doch nicht zugelassen sein.“ „Mir schwant Fürchterliches“, sprach Edda aus, was Aron längst dachte. „Das könnten Hunderte werden.“ „Bevor ihr euch nicht schlau macht, werden wir es nicht wissen.“ „Na dann mal los!“, klatschte Aron voller Tatendrang in die Hände. „Je eher wir anfangen, desto eher sind wir fertig!“

Kurz nachdem meine Partner gegangen waren, verließ auch ich die Wohnung. Die Leute von der Spurensicherung hatten noch eine ganze Weile zu tun. Hans Stockmeier und ich verabredeten, dass er mir sofort Nachricht gab, wenn die Auswertung der sichergestellten Spuren etwas ergab.

Es war bereits später Vormittag, als ich meinen Wagen vor dem ‚Donnerschlag', einer Bar am Philosophenweg parkte. Hier oder in einer der anderen damals nahe gelegenen Bars hatte der Erzählung von Gustaf Schimmelreiter zufolge, besagter Archivar der Crosscut Records, zusammen mit den Bluesgrößen jener Zeit, so manchen feuchtfröhlichen Abend verlebt. Hier war es möglicherweise auch, wo jenes unglückliche Mädchen von einem der Musiker vergewaltigt worden war. Der alte Mann hatte mir weder den Namen des Mädchens sagen können noch in welcher Bar sich das Drama abgespielt hatte, demnach war mein Besuch in der Bar nicht mehr, als der hilflose Versuch, mit einem Stock im trüben Wasser zu fischen.

Als ich die Bar betrat, konnte ich mich an einige Besuche während meiner Sturm und Drangzeit erinnern. In diesem fernen Leben hatte ich des Öfteren im ‚Donnerschlag' verkehrt, aber das lag, wie gesagt, mittlerweile auch schon wieder einige Jährchen zurück. Damals als ich noch versuchte, meine Probleme auf einfache Art zu lösen und mir erst Trixi zeigte, dass das Schicksal auch für mich noch Überraschungen barg.

Das ‚Donnerschlag' galt sowohl bei den Kollegen der Sitte als auch bei der Drogenfahndung als saubere Bar. Diesbezüglich hatte ich also keinen Ansatzpunkt, um den nötigen Druck aufzubauen. Folglich musste ich also sehen, dass ich auf andere Art an Informationen gelangte. Ich wählte einen Platz aus, der sich etwa in der Mitte der gut und gern fünfzehn Meter langen Bar befand und bestellte eine Cola.

„Mit Geschmack?“, erkundigte sich der muskulöse Kerl mit dem Kaiser Wilhelm Bart. „Ist mir noch zu früh“, entgegnete ich mild lächelnd. Er machte ein missmutiges Gesicht, warf einige Stückchen Eis ins Glas, hielt es unter einen Zapfhahn und füllte das spritzig braune Kultgetränk langsam ein. Dann setzte er mir das Glas vor die Nase und schob ein Schälchen Nüsse dazu. „Noch nicht sonderlich viel los hier“, stellte ich mich umsehend fest. „Haben Sie schon auf die Uhr gesehen? Sie sind einige Stunden zu früh. Hier geht erst abends die Post ab.“ „Ich denke, jetzt ist die richtige Zeit“, widersprach ich. „Wozu?“, durchschaute der Mann hinter dem Tresen mein Wortspiel.

Ich beugte mich etwas nach vorn, um nicht so laut sprechen zu müssen. „Ich komme vom Bremer Kurier. Es geht um eine Reportage, in der ich über die Anfänge der Bremer Bluesgeschichte berichten will.“ „Ja und, was geht mich das Ganze an?“, entgegnete der Mann mit dem außergewöhnlichen Bart. „Wie Sie wahrscheinlich wissen, spielte diese Bar eine besondere Rolle in der Musikszene. Die Reportage ist folglich auch eine prima Werbung für Sie.“ „Für mich?“, stutzte er. „Was habe ich damit zu tun?“ „Ich würde zunächst ein Interview mit Ihnen machen und Sie abschließend für den Kurier ablichten.“ Der Barkeeper kam ins Grübeln, kniff argwöhnisch ein Auge zusammen und strich sich über die hochglanzpolierte Glatze. „Sie bringen ein Foto von mir in der Zeitung?“ „Wenn es Ihnen recht wäre?“

Locke überlegte einen Augenblick, bevor er schließlich einwilligte. Da die Bar zu dieser Zeit von nur wenigen Gästen frequentiert wurde, erklärte er sich bereit, mir das Interview an Ort und Stelle zu geben. „Ein bisschen Werbung kann schließlich nicht schaden“, lächelte er dünn. Wenn er geahnt hätte, dass ich ihn einfach nur aushorchen wollte, wäre es mir sicher schlecht ergangen.

„Na, dann schießen Sie mal los“, forderte er mich auf, nachdem er seine Gäste versorgt hatte. „Schön, beginnen wir also zunächst mit einigen allgemeinen Fragen.“ „Moment mal, wollen Sie sich denn gar nichts notieren?“, fragte er verwundert. „Ich verfüge zwar über ein recht gutes Gedächtnis“, versuchte ich mich herauszureden, „aber schaden kann's eigentlich nicht.“ Ich kramte also den Notizblock heraus und stellte meine Fragen.

Wenig später hatte ich einen ersten Eindruck von den privat genutzten Räumlichkeiten, die sich an die Bar anschlossen. Offensichtlich traf ich bereits mit meinem ersten Schuss ins Schwarze. Die Beschreibungen des Archivars der Crosscut Records passten mit dem überein, was mir der Barkeeper verriet. Natürlich hatte er nicht den geringsten Schimmer von dem, was über zwanzig Jahre zuvor in diesen Räumen geschah, aber das hatte ich auch gar nicht erwartet. Fürs Erste reichte es mir, dass er mir den Namen und die Adresse des Vorbesitzers nennen konnte.

„Und was ist jetzt mit dem Foto?“, fragte er perplex, während ich meine Schreibsachen zusammenpackte. „Das macht dann der Kollege“, erklärte ich bestimmt.“ „Auch gut, da kann ich mich ja noch ein wenig schick machen“, grinste er zufrieden. „Ihre Getränke gehen selbstverständlich aufs Haus.“ Ich bedankte mich und verschwand, so schnell die Beine trugen.

 

-29-

 

„Wie Sie sicher bereits wissen, meine Damen und Herren, hat sich die Lage in der vergangenen Nacht dramatisch zugespitzt. Der von der Boulevardpresse mittlerweile als Lippenstiftmörder betitelte Täter hat allem Anschein nach in der einundzwanzigjährigen Carola Luther sein drittes Opfer gefunden. Wie uns inzwischen bekannt ist, handelt es sich bei der jungen Frau nicht um eine Prostituierte. Der Täter weicht somit von seinen bisherigen Auswahlkriterien ab, was es uns noch schwerer machen wird, ihn zu überführen.“ „Wer sagt uns denn, dass es sich nicht um einen anderen Täter handelt, der die günstige Gelegenheit einfach nur nutzte?“, wandte Lothar Emmerich von der MK 5 ein. Sein Vorgesetzter, Hauptkommissar Udo Löffler, dem Kriminalrat Kretzer die Leitung der Soko ‚Lippenstift' übertragen hatte, konnte mit ersten Ermittlungserfolgen aufwarten, die diese These eindeutig widerlegten.

„Wie Sie wissen, wurde bei allen drei Morden ein Nylonstrumpf verwendet. Der Kollegin Reiter ist es inzwischen gelungen, den Hersteller besagter Nylons ausfindig zu machen. Aber bitte, Frau Kommissarin, erläutern Sie uns doch bitte selbst die Hintergründe.“ Sonja Reiter ließ die in Plastiktüten eingeschweißten Beweismittel durch die Hände ihrer Kollegen gehen. „Wie Sie sehen, handelt es sich bei allen drei Strümpfen um das gleiche Fabrikat. Ein Produkt aus dem Hause ‚Fashion'. Die Besonderheit dieser Marke liegt darin, dass sie seit über sieben Jahren nicht mehr existiert.“

Ein unüberhörbares Raunen ging durch den kleinen Konferenzraum. „Da hat wohl jemand im großen Stil eingekauft“, warf Lothar Emmerich amüsiert ein. „Die Analyse der Strümpfe im forensischen Labor ergab, dass sie bereits getragen waren. Bei den Nylons des ersten Falles konnten unsere Experten auf Grund der darin gefundenen DNS inzwischen nachweisen, dass sie etwa vor sechs Jahren getragen wurden. Also eher kein Grosseinkauf, der bis heute reichte“, belehrte Sonja Reiter ihrem Dienstpartner. „Und noch etwas ist bezeichnend“, fuhr die Kommissarin in ihren Ausführungen fort. „Die Marke ‚Fashion' wurde ausschließlich in den USA vertrieben.“

Die Anwesenden sahen sich verwundert an. Der Fall schien immer mysteriöser zu werden. „Was die Tatwerkzeuge aus dem zweiten und dritten Mordfall betrifft, müssen wir uns wegen der Auswertung der DNS noch einige Tage gedulden.“

„Vielen Dank, Kollegin, gute Arbeit“, lobte Udo Löffler. „Kommen wir jetzt zu den Reaktionen auf das Phantombild in der Zeitung.“ „Tja, wir hatten zwar eine Flut von Anrufen, der Edda und ich bereits zum Teil nachgegangen sind, aber bislang war leider nichts dabei, was uns weiter gebracht hätte“, erklärte Aron betreten. „Bleiben Sie und Frau Blache bitte weiter am Ball, Herr Baltus“, bat der Hauptkommissar und fuhr in seinen Ausführungen fort. „Beim Mord an der Schlachte ankerte direkt vor dem Platz, an dem das erste Opfer, die Prostituierte Ulla Brinkmann, auf Kundschaft wartete, ein Ausflugsdampfer der WSG . Wie ich inzwischen in Erfahrung brachte, feierte dort eine Softwarefirma aus Bremen Brinkum ihr Betriebs-jubiläum.“ Löffler sah zu seiner Kollegin Sonja Reiter hinüber. „Ich denke, Sie sollten sich ein wenig bei der Firma umhören, Frau Reiter. Vielleicht hat einer der Betriebsangehörigen etwas beobachtet.“ Die vollschlanke Kommissarin quittierte mit einem Kopfnicken.

„Kommen wir zur zweiten Tat. Dem Mord an Neele Tänzer. Unsere Recherchen haben ergeben, dass es sich wiederum um eine Prostituierte handelte. Der Täter wurde, wie hinreichend bekannt ist, von Hauptkom-missar Winter verfolgt. Der Zeugenaussage eines Taxifahrers nach, entkam der Mörder über die Fußgängerbrücke an der Spitzkehre und weiter in Richtung Fedelhören. Wie sie wissen, wurde die Lebensgefährtin des Hauptkommissars unfreiwillige Zeugin, als der Täter an den Ort seines Verbrechens zurückkehrte und sein Werk vollendete. Ihr und dem Zeugen Poldini haben wir das Phantombild zu verdanken. Es ist gut möglich, dass der Täter durch die Entführung von Frau Bernburg verhindern wollte, dass sie ihm durch weitere Aussagen gefährlich werden könnte. Herr Eisenhardt hat dazu eine, wie ich meine recht interessante These aufgestellt.“

Der Profiler erhob sich von seinem Platz. „Ich gehe davon aus, dass der Täter Angst hat, von Frau Bernburg wieder erkannt zu werden. Meiner Meinung nach kennt die Entführte den Mörder. Sie war sich dessen nur nicht bewusst. Aufgrund des Profils, welches ich von dem Täter erstellt habe, glaube ich nicht, dass er Frau Bernburg ebenfalls erdrosseln wird. Sie passt einfach nicht in sein Opferschema.“ „Das tat Carola Luther auch nicht“, wandte Aron ein, „…und trotzdem ist sie jetzt tot!“ „Was sicherlich ein bedauerlicher Irrtum war“, wischte Eisenhardt den Einwand zur Seite. „Das erklären Sie mal den Eltern des Mädchens.“

„Der Fall ist sicherlich mehr als tragisch, da gebe ich Ihnen vollkommen Recht, aber lassen Sie uns nach vorne schauen. Jetzt gilt es, diesen Verrückten so schnell wie irgend möglich aus dem Verkehr zu ziehen, damit nicht noch mehr Unschuldige sterben müssen. Leider steht uns Herr Winter bis auf weiteres nicht mit seinem Wissen zur Verfügung. Wir müssen uns also anderweitig die Informationen holen, die wir brauchen, um eine Verbindung zwischen Frau Bernburg und dem Täter herzustellen. Einziger Ansatzpunkt dabei ist das Phantombild. Ich setze große Hoffnung in Sie und Herrn Baltus“, verkündete Udo Löffler, während er Edda hoffnungsfroh ansah.

„Was ist mit dem Zeugen aus dem Fast Food Restaurant ? Müssen wir uns nicht auch um ihn Gedanken machen?“, gab Aron zu bedenken. „Schließlich hat auch er den mutmaßlichen Täter gesehen.“ „So lange der Mörder nichts von der Existenz des Zeugen weiß, ist er doch sicher“, entgegnete der Leiter der Sonderkommission. „So lange wir nicht wissen, wer dieser Irre ist, könnte er theoretisch sogar aus den eigenen Reihen kommen. Ist es da nicht ein wenig blauäugig, darauf zu vertrauen, dass dem Zeugen schon nichts passieren wird?“

Hauptkommissar Udo Löffler schluckte trocken. Es war ihm von vornherein klar gewesen, dass er als neuer Leiter der Soko ‚Lippenstift' vor allem bei Edda und Aron einen schweren Stand haben würde, aber wie sollte er in dieser Situation, in der Arons Einwand begründet war, sein Gesicht wahren?

„Stimmt“, entschied sich Löffler für die Flucht nach vorn, „...in diesem Fall ist alles möglich. Einen Fehler dürfen wir uns angesichts des großen öffentlichen Interesses nicht erlauben. Ich werde mich selbst darum kümmern. Vielen Dank, Herr Baltus.“

Wieder ging ein leises Raunen durch den kleinen Konferenzraum. Der Hauptkommissar hatte genau richtig reagiert. Oder frei nach ‚Lootze': Andere zu beherrschen erfordert Kraft, sich selbst zu beherrschen erfordert Stärke.

 

-30-

 

Es war noch früh am Morgen, als ich Trixis Eltern aus dem Bett klingelte. Ich muss wohl ziemlich besch… ausgesehen haben, als mir August Bernburg die Haustür öffnete. Zumindest sah er mir sofort an, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. „Um Himmels Willen, Mike, was ist los? Komm herein.“ Natürlich konnte ich nichts für Trixis Entführung, aber allein das Gefühl, ihrem Vater als der Mann entgegenzutreten, dem er seine Tochter anvertraut hatte und der sie nicht schützen konnte, war eine der schlimmsten Situationen, der ich mich bislang ausgesetzt sah.

Ich holte ein letztes Mal tief Luft und gestand ihm die bittere Wahrheit. „Trixi ist heute Nacht entführt worden.“ Der Mann, der mit allen Wassern gewaschen war, dem niemand ein X für ein O vormachen konnte, sackte wie von einem Dumdumgeschoss getroffen auf dem Sofa zusammen. In einem Nachrichtenmagazin über eine solche Story zu berichten ist eine Sache, doch selbst das Opfer eines solchen Verbrechens zu werden, ist etwas völlig anderes. August brauchte eine Weile, bis er sich von dem Schreck erholt hatte.

„Haben sich die Entführer schon gemeldet? Was wollen Sie?“ „Es ist kein normales Kidnapping“, musste ich eingestehen. „Trixi ist aus unserer Wohnung heraus entführt worden. Es deutet alles darauf hin, dass es sich bei dem Kidnapper um den ‚Lippenstiftmörder' handelt. Eine Unschuldige musste sterben, um mich aus dem Haus zu locken“, erklärte ich fassungslos und mit belegter Zunge. „Dieses verdammte Schwein hat irgendeine junge Frau getötet, um freie Bahn zu haben.“ „Aufgeschreckt durch meine impulsiven Worte, kam nun auch meine Schwiegermutter in spe die Treppe herunter.

„Was ist geschehen?“, kam sie mit fester Stimme auf den Punkt. „Trixi wurde vergangene Nacht entführt“, erklärte August. „Mike glaubt, dass es sich bei dem Kidnapper um den mysteriösen Prostituiertenmörder handelt. Lore drehte sich zu mir um. „Was veranlasst dich zu dieser Annahme?“ Ich schluckte trocken. „Er hat eine Nachricht hinterlassen, die er mit Lippenstift auf Trixis Schminkspiegel schrieb.“ Lore sah mich ungeduldig an. „Was war das für eine Nachricht?“ Ich wagte kaum, jene Worte zu wiederholen. „Sie gehört jetzt mir“, zitierte ich mit bewegter Stimme. Trixis Eltern sahen sich entsetzt an. „Was um alles in der Welt will uns dieser Kerl damit sagen?“

Da ich mir ebenso wenig einen Reim auf seine Worte machen konnte, schwieg ich lieber. „Trixi hatte mich am Nachmittag im Verlag angerufen“, berichtete August nachdenklich. „Davon hast du mir gar nichts erzählt“, wunderte sich seine Frau. „Ach, Liebes, du warst so beschäftigt. Außerdem wollte ich dich nicht beunruhigen. Jedenfalls sprach sie von eurer Begegnung mit dem Mörder. Sie machte einen sehr aufgewühlten Eindruck auf mich.“ Das konnte ich nur bestätigen. Wer Trixi wirklich kannte, wusste, wie sehr sie ein solches Erlebnis mitnehmen würde.

Ist diese Nachricht das Einzige, was auf diesen ominösen Lippenstiftmörder hindeutet?“, erkundigte sich Lore gewohnt faktisch. „Nein, unsere Experten fanden Reste von Erde auf dem Balkon. Erde, wie sie am Fundort der dritten Leiche zu finden ist.“ Stocki hatte mich noch während der Surensicherung darauf aufmerksam gemacht. „Ich verstehe nicht, wie er Trixi ohne Aufsehen zu verursachen aus der Wohnung bringen konnte“, versuchte Lore einen kühlen Kopf zu bewahren. Diese Art, das Bestreben, stets alles unter Kontrolle zu behalten, das hatte Trixi von Ihrer Mama in die Wiege gelegt bekommen. Eine Eigenschaft, die auf Außenstehende eher kühl oder berechnend wirkt.

„Ich fand ein Tuch mit Resten eines Betäubungsmittels. Dieser Mistkerl muss sie im Schlaf überrumpelt haben. Zumindest wurden keine Spuren von Gewaltanwendung gefunden.“ „Ich verstehe einfach nicht, was Trixi mit der ganzen Sache zu tun hat“, ereiferte sich mein Schwiegervater in spe. „Er muss sich doch darüber im Klaren sein, dass Trixi zu diesem Zeitpunkt längst eine Täterbeschreibung gemacht hat.“ „Sehr richtig“, stimmte ich ihm zu. Wenn ihr mich fragt, kann es nur einen Grund für ein solches Verhalten geben. Der Täter hat Angst, bei einer Gegenüberstellung von Trixi wieder erkannt zu werden. Was wiederum voraussetzt, dass sich beide bereits irgendwo begegnet sind.“ Lore Bernburg raufte sich die Haare. „Es ist so gut wie unmöglich, alle Menschen zu überprüfen, mit denen Trixi zu tun hatte.“ „Das brauchen wir ja auch gar nicht. Du vergisst das Phantombild.“ Ich zog das Bild aus der Tasche, welches Rudi Tusch nach Trixis Angaben und denen des Italieners angefertigt worden war. „Seht es euch genau an und dann überlegt, ob ihr diesen Mann jemals zuvor gesehen habt. Lasst euch mit der Antwort Zeit.“

Der Killer aus Marseille

Weserschifffahrtsgesellschaft

Rettungswagen

Mike Winter 2 ‚der Killer aus Marseile'

elektronische Verbrecherkartei