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„Die Zügel etwas lockerer lassen! Du nimmst ihr ja die Luft zum Atmen.“ Tanja reagierte sofort. Das letzte, was sie wollte, war es ihrer Diana weh zu tun. Diana war eine dreijährige Holsteiner Stute, die sie erst seit drei Monaten besaß. Tanja hatte sie zum sechzehnten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen. Bisher hatte sie sich mit einer Reitbeteiligung begnügen müssen und es deswegen mit dem richtigen Reiten, nicht so genau genommen. Doch nun, da sie ihr eigenes Pferd hatte, wollte sie alles richtig machen. Zu diesem Zweck nahm sie nun einige Reitstunden.

„Halt dich gerade im Sattel! Du musst mit dem Tier eins werden. Arbeite mit deinem Pferd zusammen und nicht dagegen.“ Der Besitzer des Reiterhofes war auch gleichzeitig Reitlehrer. Ein erfahrener, verständnisvoller Mann Mitte vierzig. Tanja schätzte ihn wegen seiner ruhigen Art und weil er ihr das Gefühl gab, erwachsen zu sein. Ganz anders als ihr Vater, der sie immer noch wie ein Kind behandelte. Dabei war sie schon lange nicht mehr sein kleines Engelchen, wie er sie noch immer nannte. Ihr letzter Freund war immerhin acht Jahre älter als sie gewesen. Klar, dass der sich nicht allein mit Händchenhalten zufrieden gab. Aber das durfte ihr Vater, der vielbeschäftigte Programmierer einer Computerfirma auf keinen Fall wissen. Dies und so manch anderer Gedanke ging Tanja im Moment durch den Kopf.
Erst vor einer Woche hatte sie sich von dem Studenten für Betriebswissenschaften getrennt. Seine Eifersuchtszenen waren ihr einfach unerträglich geworden. Anfänglich fühlte sie sich noch irgendwie geschmeichelt, aber in der letzten Zeit hatten diese Ausbrüche an Häufigkeit und Intensität zugenommen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war seine Eifersucht auf Diana. Es war ihm ein Dorn im Auge gewesen, dass sie an jedem Nachmittag ihre Stute besuchte. Sie hätte überhaupt keine Zeit mehr für ihn, hielt er ihr immer wieder vor. Mit jedem zweiten Satz spräche sie von ihrem Pferd, beschwerte er sich und überhaupt habe sie sich ihm gegenüber sehr zu ihrem Nachteil verändert.
Zu diesem Zeitpunkt wäre sie immer noch zu einem Kompromiss bereit gewesen. Sie wollte ihm vorschlagen sich nur noch an jedem zweiten Tag um das Pferd zu kümmern. Doch als er sie knallhart vor die Wahl stellte, war ihr natürlich nichts anderes übrig geblieben, als sich für Diana zu entscheiden.
„Wenn du weiterhin wie ein Stockfisch im Sattel sitzt,“ bellte Burkhard Morgentau in das Dressurviereck, „dann wirst du heute abend jeden Knochen deines Rückens einzeln spüren.“ Tanja verdrehte die Augen. Sie wusste, dass der Mann jenseits der Bande recht hatte. Aber musste er es ihr so deutlich sagen? Er winkte Tanja zu sich und sah ihr mit hoch gezogenen Brauen nachdenklich in die Augen. „Du und Diana müsst eins werden,“ erklärte er nun wieder etwas geduldiger. Er seufzte tief „Ihr müsst miteinander verschmelzen. Das Gefühl füreinander bekommen. Es ist klar, dass dies nicht von heute auf morgen geht, aber wenn du mit deinen Gedanken nicht bei der Sache bist, werdet ihr dieses Feeling auch nächstes Jahr nicht erleben.“ Tanja verzog ihr hübsches Gesicht zu einer theatralischen Maske. „Ich hätte halt von Anfang an Reitunterricht nehmen sollen. Es ist eben nicht das gleiche, wenn einem Freunde mal eben so zeigen, wie man sich auf einem Pferd halten kann.“
Burkhard lächelte mild. „Na, noch ist ja nicht alles verloren. Tanja nickte betreten. Sie lenkte ihre Stute noch einmal in den mit Sand aufgefüllten Viereck zurück und ließ Diana traben. Die Zügel hielt sie nun weniger kurz und ihr Rücken schien nicht mehr ganz so steif durchgedrückt zu sein, aber mit ihren Gedanken war sie immer noch ganz woanders.

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„Warum kommt denn das entzückende junge Mädchen nicht mehr zu dir? Wie hieß sie doch gleich? Ich vergesse immer wieder ihren Namen. Wie hieß sie doch gleich?“ Der junge Mann, an ihrer Seite sah die alte Dame genervt an. „Tanja!“, zischte er. „Sie heißt Tanja! Wie oft soll ich es dir noch sagen!“ Seine Stimme war schroff und hart. Die alte Frau ignorierte es. Sie sah ihren Enkel entschuldigend an und legte ihre Stirn in noch tiefere Falten. „Ja, ja, man wird alt.“ Der Mann mit dem Pagenschnitt und den eigentümlich langen Kotletten sprang von der kleinen Bank auf, die vor dem Haus stand und umrundete den davor stehenden Holztisch, auf dem der Aschenbecher stand. Er stellte sich so vor den Tisch, dass er der alten Frau nun genau gegenüber stand. Dann beugte er sich vor und stemmte seine Arme auf die Tischplatte, um seiner Oma in die Augen sehen zu können. „Was ist nun mit dem Geld?“, fragte er demonstrativ. „Ich brauche es noch heute - unbedingt.“
Die alte Frau sah ihn entsetzt an. Zwar war es nicht das erste mal, dass der vierundzwanzigjährige Student Geld von seiner Großmutter verlangte. Doch in der letzten Zeit war es nicht mehr so häufig vorgekommen. Um so mehr erschrak sie, mit welcher Selbstverständlichkeit er jetzt danach trachtete. Ihre kleine Rente reichte schon lange nicht mehr aus, um ihren Enkel zu unterstützen. Längst war sie an ihre Ersparnisse gegangen. Doch allmählich gingen auch diese zur Neige und sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie dem Sohn ihrer verschwundenen Tochter sagen musste, dass sie ihm nichts mehr geben konnte.
Schon damals, als Fritz, ihr Ehemann, noch lebte, hatte sie dem Jungen öfter mal etwas Geld zugesteckt. Natürlich war ihr von Anfang an klar, dass sie mit all der Liebe, die sie ihrem Enkel entgegen brachte, die Mutter nicht ersetzen konnte. Vielleicht waren es die Schuldgefühle, die sie wegen des Verschwindens ihrer Tochter plagten. Sicher war es ihre irrige Meinung, das Fehlen der Mutter auf diese Weise kompensieren zu können. Aber auch mit all ihrer Zuwendung hatte sie nicht verhindern können, dass aus dem einstmals aufgeschlossenen Teenager ein introvertierter junger Mann wurde, der auf dem besten Weg war alles weibliche zu hassen. Den Bezug zur Realität nach und nach vollends zu verlieren.
Doch dann trat jenes junge Mädchen, dessen Namen sie sich einfach nicht merken konnte, in sein Leben und der Eigenbrödler schien sich allmählich zu fangen. Einmal hatte er sie seither besucht, um ihr das Fräulein vorzustellen. Viele Wochen waren seit jenem Tag vergangen. Wochen, in denen Harald und sie nur gelegentlich miteinander telefonierten. Dass es in diesen Gesprächen nicht ein einziges mal um Geld ging, ließ sie hoffen. Ihr Sorgenkind schien sein Glück gefunden zu haben.
„Gibst du mir nun die 500 Euro – oder nicht?“, fragte der Student zunehmend ungeduldiger. „Ich würde dir das Geld ja geben, Junge, aber ich habe nicht so viel im Hause.“ Die alte Frau griff in ihre Kittelschürze und zog mit zittriger Hand das Portmonee hervor. Sie klappte es auf und wollte gerade hineinsehen, als es ihr Enkel auch schon entriss. „Nicht mal 200 Piepen,“ herrschte er sie an. „Das ist ja wohl nicht dein Ernst! Das reicht nicht mal für eine erste Rate.“ Fassungslos starrte Gerlinde Reuter ihren Enkel an. „Was um Gottes willen hast du denn dieses mal wieder für einen Blödsinn angestellt?“ Ohne auch nur ein einziges Wort zu erwidern, nahm der Student sämtliche Geldscheine aus dem Portmonee seiner Großmutter und warf die Börse achtlos auf den Tisch zurück. und ging

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Auf einer Weide im Nordwestlichen Niedersachsen.

Seit Stunden bereits hatte das Dunkel der Nacht Bäume und Sträucher am Rande der idyllisch gelegenen Weide fest umschlungen. Längst waren die Tiere der Nacht zum Leben erwacht. Ihre Laute hallten durch gespenstisch anmutende Nebelschwaden, die nur wenige Zentimeter über den am Tage zuvor von der Frühlingssonne erwärmten Lehmboden. Mit der Dunkelheit war auch die Kühle der noch frühen Jahreszeit zurückgekehrt. Die Vampire der Nacht schwebten lautlos über Erhebungen der Landschaft und den Bauten, die an dieser Stelle von Menschenhand geschaffen waren.
Es waren Zäune, die eine riesige Weidefläche umfriedeten. Auf ihr ein Holzverschlag, der den hier unter freiem Himmel befindlichen Pferden bei schlechtem Wetter als Zuflucht dienen sollte. Nur das gelegentliche Schnauben eines der in einer Gruppe äsenden Tiere und die Rufe eines Käuzchens, irgendwo in weiter Ferne, unterbrach gelegentlich die Stille. Dennoch, es war eine trügerische Ruhe.
Ab und an erhellte das Mondlicht für kurze Zeit die Weide und man konnte das friedliche Miteinander der Paarhufer beobachten. Sie standen dicht gedrängt, ganz so, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Es war das Käuzchen, dass den langsam näher kommenden Geländewagen zuerst bemerkte. Der Wagen fuhr langsam und ohne Licht. Die Kennzeichen waren mit Matsch und Erde unleserlich gemacht. Fast könnte man meinen, dass der Vogel spürte, was der Fahrer im Schilde führte, denn er begann nun häufiger zu rufen. So, als wollte er die Tiere der Umgebung vor jener dunklen Gestalt warnen. Doch davon unbeirrt setzte der Fahrer des Geländewagens seinen Weg fort.
Etwa 100 Meter vor der Weide stellte er seinen Wagen ab und stieg aus. Dabei achtete er peinlich darauf, dass die Fahrzeugtür nicht laut ins Schloss fiel. Er öffnete die Klappe zum Laderaum und nahm etwas Längliches heraus. Eine Nachteule beobachtete aus ihrem Versteck, hoch oben in einem Baumwipfel, wie sich die Gestalt eine Taschenlampe einsteckte, die Klappe wieder geräuschlos schloss und sich auf den Weg zur Weide machte.
Der Unbekannte schien sich in dieser Gegend bestens auszukennen. Zielstrebig steuerte er auf den Unterstand zu, in dem er die Pferde vermutete. Schon seit einiger Zeit, bei Tags und auch des Nachts, hatte er die Tiere, aber auch die Umgebung beobachtet. Erst als er sicher war, in dieser Nacht seinen Trieben ungestört nachgehen zu können, hielt ihn die Vorsicht nicht länger zurück. Zwanghaft zogen ihn die Tiere in seinen Bann, lechzte er danach der Herr über Leben und Tod zu sein.
Seine abnormen Phantasien suggerierten ihm tiefrote, blutige Bilder, die sich vor seinem geistigen Auge in pure Erotik verwandelten. Wollüstige Schauer durchströmten seinen zuckenden Körper, brachten ihn in Ekstase, forderten ihn auf endlich sein perfides Spiel zu beginnen. Die Gestalt kletterte über die Holzplanken des Zaunes, bückte sich unter dem, mit Gleichstrom geladenen Elektrodraht hindurch und schlich auf den Unterstand zu. Für einen kurzen Augenblick, nicht länger als ein einziger Atemzug erhellte der Mond die Szenerie. Ein Moment, der dem Unbekannten ausreichte, um festzustellen, dass die Pferde nicht wie gewohnt im Unterstand waren.
Er zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen und sah sich irritiert um. Wieder kam ihm zwischen dunklen Wolken aufblitzendes Mondlicht gelegen. Er entdeckte die kleine Herde am östlichen Ende der Weide, unter einem Baum. Auch wenn ihm die neue Situation alles andere als vorteilhaft erschien, so gab es für ihn nun aber auch kein Zurück mehr. Zu weit waren die Gefühle in ihm bereits gegoren, zu stark war das Verlangen danach, seine Lust zu befriedigen. Die Gier, seine sexuellen Phantasien endlich zu erleben, zog ihn magisch an.
Er wusste, dass ihn die Pferde längst bemerkt hatten. Aber er wusste auch wie aufgeschlossen und neugierig sie gegenüber ihrem besten Freund, dem Menschen, waren. Er hatte keine Skrupel dies schamlos auszunutzen. Er öffnete langsam das Gatter und betrat die Koppel. Langsam, jede hektische Bewegung vermeidend, ging er in normal, aufrechter Haltung auf die Tiere zu. Näher und näher. Immer dann, wenn das Mondlicht zwischen den Wolken hindurch drang und ihn zu verraten drohte, verbarg er die Waffe, die er mit sich führte hinter seinem Rücken. Er wusste, dass die intelligenten Tiere ihn ganz genau beobachteten. Er kam ihnen näher und näher, bis er schließlich den Atem der eleganten Vierbeiner hören konnte. Einen Augenblick wollte er noch an ihrem Anblick erfreuen, wollte noch diesen hoch stimulierenden Augenblick auskosten, ehe er geschehen ließ, weshalb er an diesen Ort gekommen war.
Er hatte sich eine Stute für sein martialisches Vergnügen ausgewählt. Muskeln und Sehnen spannten sich, waren kurz vor dem Zerreißen. Die Lanze in der einen, seine Machete in der anderen Hand schoss er plötzlich auf, sprang aus dem Schutz der Dunkelheit, einem Puma gleich, auf das anvisierte Pferd zu und stieß, die von ihm eigens zu diesem Zweck präparierte Lanze, dem Tier in den Hals. Er wollte sein Opfer zunächst fluchtunfähig machen. So, wie schon viele Male vorher.
Er zog die Lanze zurück. Sein wirrer Blick hielt nach dem nächsten Opfer Ausschau. Doch dieses mal hatte er Pech. Die anderen Tiere hatten früh genug panikartig die Flucht ergriffen. Der irre Pferderipper stieß einen Fluch aus und widmete sich wieder der Stute. Seine Finger umkrampften die mitgebrachte Machete, dann stach er gezielt zu und vollendete sein wahnsinniges Werk.

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„Nein, nein, fahr ruhig, Trixi. Ich finde es gut, dass du deine alte Freundin Nena mal wieder besuchen willst.“ Meine Traumfrau sah mich mit diesem Augenaufschlag an, dem ich einfach nichts entgegenzusetzen habe. Es wurde mir jedes Mal ganz anders, wenn sie mich so ansah. Gottlob ahnte sie nichts davon. „Und es macht dir wirklich nichts aus, wenn ich mit Romy über Nacht weg bleibe?“ „Aber nein, die Landluft wird unserem kleinen Sonnenschein sicher gut tun. Macht euch einfach mal ein schönes Wochenende da draußen. Nur eins musst du mir fest versprechen.“ Ich machte eine bedeutungsvolle Pause. Trixi sah mich erwartungsvoll an. „Wenn du eines dieser riesigen Tierchen erklommen hast, schnallst du dich bitte an, bevor ihr losreitet.“ Genervte Blicke trafen mich. „Ha, ha!“ „Was denn, auf diesen Dingern gibt es keine Gurte?“ Funken sprühten. „Treib es nicht zu weit, Mike Winter! Als Lebensgefährtin des Chefs der Mordkommission 2 kannst du glauben, dass ich inzwischen gelernt habe, wie man mit der Gefahr umgeht.“ „Schon, aber du musst zugeben, dass ich mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Gurt anschnalle.“ Ich zwinkerte Trixi grinsend zu und erhielt postwendend einen zärtlichen Knuff in die Seite. Sie hatte natürlich sofort bemerkt, dass ich von meinem Schulterholster sprach.
„Aber nun Spaß bei Seite,“ schob ich mir mampfend den letzten Löffel mit Knuspermüsli in den Mund. „Pass bitte auf dich auf, du hast schon lange nicht mehr auf dem Rücken eines Pferdes gesessen.“ Trixi verdrehte ihre nilblauen Augen. „Ich verspreche es dir.“ Natürlich stimmte ich, großzügig, wie ich nun einmal bin Trixis kleinem Ausflug zu. Dass ich dadurch die Gelegenheit hatte mal wieder mit meinem Dienstpartner und Freund, Aron Baltus nach Dienstschluss um die Häuser zu ziehen, sei hier nur am Rande erwähnt.
Nachdem ich mich lange und ausgiebig von meiner kleinen Tochter und Trixi verabschiedet hatte, strich mir Sandy, unsere Golden Retriever Detektivin auf vier Pfoten, >Mike Winter 9. Episode „Scharade“< um die Beine herum, um sich ihre allmorgendlichen Streicheleinheiten abzuholen. Nachdem also auch der Hund zu seinem Recht gekommen war, machte ich mich auf den Weg ins Bremer Polizeipräsidium an der Ostertorstraße. Auf dem Weg dorthin hielt ich einmal mehr an der Ecke zur Faulenstraße, um meinen Dienstpartner aufzugabeln. Sein geliebter Ford Taunus 17m hing mal wieder seit einigen Tagen am Schmieröltropf.
„Man Alter, ich dachte schon, du hättest mich hier vergessen,“ maulte er mürrisch noch während er sich auf den Beifahrersitz schwang. „Hast du eigentlich eine Ahnung wie kalt es da draußen um diese Tageszeit ist?“ „Kalt?“, entgegnete ich sarkastisch. „Du hast gut reden, deine Karre steht in der warmen Tiefgarage,“ maulte Aron. „Du brauchst nicht kratzen und wenn du auf der Straße angelangt bist, bläst dir die Heizung doch schon warme Luft zwischen die Beine.“ Ich stupste ihm in die Rippen und setzte noch einen drauf. „Hauptsache bei dir kommt die warme Luft nicht zwischen den Beinen.“ Aron musterte mich vom Scheitel bis zur Sohle. „Wenn man erst einmal in festen Händen ist, soll sich dieser Zustand ja bekanntlich recht schnell einstellen. Bei mir hat sich hingegen noch keine Dame darüber beschwert,“ flachste er. Ich gebe es nur ungern zu, aber diese Runde ging eindeutig an meinen Freund.
„Was liegt heute an, Chef?“, fragte mich mein Partner auf dem Weg zum Paternoster, der uns zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk wie an jedem Morgen in den zweiten Stock des Präsidiums transportierte. „Heute ist Freitag, da wird ja wohl hoffentlich nicht schon wieder ein neuer Fall auf uns zu kommen.“ Aron nickte zustimmend. „Ein freies Wochenende wäre wirklich mal wieder sehr schön. Ich habe Svende schon lange ein paar schöne Tage versprochen.“ „Du meinst doch wohl eher Nächte,“ stichelte ich. „Du und deine kleine Polizeibeamtin kommt doch sowieso nicht aus den Federn.“ Aron zwinkerte mir lächelnd zu. „Nur kein Neid, Alter!“ Ich machte ein betretenes Gesicht. „Und ich dachte, wir würden heute abend mal wieder, ganz wie in alten Zeiten um die Häuser ziehen und so richtig die Sau rauslassen.“ Mein Dienstpartner schürzte die Lippen. „Wenn ich die Wahl zwischen einem Lada und einem Ferrari habe, ist es doch wohl klar, dass ich mich für das Pferdchen entscheide.“
Da stand ich nun mit meinem sturmfreien Abend und wusste nicht was ich mir sonst noch vornehmen konnte. Aber egal, noch war ich fest entschlossen, etwas zu unternehmen, was außer der Reihe lag. Schließlich war nicht abzusehen, wann sich mal wieder eine solche Gelegenheit ergeben würde.
„Schenken wir also unsere ganze Kraft den vielen noch ungeklärten Fällen, die nur darauf warten endlich aufgeklärt zu werden.“ Mein Dienstpartner verzog das Gesicht. „Edda muss geahnt haben, was uns an diesem Wochenende erwartet. Warum hätte sie sonst drei Tage Urlaub einreichen sollen?“ „Anstatt vor Selbstmitleid zu zerfließen, solltest du uns lieber einen vernünftigen Kaffee kochen. Außerdem sprachst du gerade davon, dass du so kurz vor dem Wochenende keinen neuen Fall bearbeiten wolltest. Da wir aber nun einmal Bereitschaft haben, müssen wir uns doch wohl mit irgend etwas die Zeit vertreiben,“ nahm ich ihm den Wind aus den Segeln.
Seitdem die neue, verbesserte DNA Technologie eingeführt wurde, reichen auch schon geringe Blutanhaftungen, die überdies auch schon älteren Datums sein können, um bislang ungeklärte Verbrechen doch noch aufzuklären. Das einstmals sichergestellte Beweismaterial, welches nach dem alten Verfahren zur Bestimmung eines genetischen Codes nicht ausreicht hatte, war getreu dem Gebot von Gründlichkeit in den Asservatenkammern des Präsidiums eingelagert worden. Wenn wir also bei der Durchsicht unaufgeklärter Morde auf einen Fall stießen, dessen charakteristische Merkmale passten, stellten wir fest, ob noch Beweismaterial vorhanden war und ließen es auswerten. Eine Bärenarbeit, die sich bislang aber schon einige male ausgezahlt hatte. „Also, dann,“ seufzte Aron. „Lassen wir die Welt des Verbrechens ein weiteres mal erzittern.“

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Wann immer es die Witterung zuließ, legte Tanja den weiten Weg zum Reiterhof in Wölpsche mit ihrem Motorroller zurück. Nur im Winter, wenn die Straßen zu glatt waren, oder wenn es in Strömen regnete, benutzte sie den Bus. Tanja liebte es unabhängig zu sein und sie wollte niemandem zur Last fallen. Seit dem Tod ihrer Mutter war dies ihr Credo und genau so und nicht anders wollte sie leben, wollte jeden Tag genießen und glücklich sein.
Doch an diesem Tag war alles anders. In der Schule hatten ihr Freunde von einem ungeheuerlichen Verbrechen erzählt. Es war schon wieder ein Pferd erstochen worden. Der wahnsinnige Ripper, wie ihn die Presse nannte, hatte nicht weit von Bremen entfernt zugeschlagen. Er hatte das arme Tier buchstäblich abgeschlachtet. Sofort keimte Angst in ihr auf. Angst um Diana, die erst seit einigen Tagen wieder auf der Weide stand. Tanja hatte sie kaum noch im Stall halten können. Zu groß war die Vorfreude des Tiers nach den langen Wintermonaten endlich wieder frisches Gras fressen zu dürfen und der Enge ihrer Box zu entfliehen. Der Klos in ihrem Hals wuchs scheinbar mit jedem ihrer Atemzüge und so war es nur all zu verständlich, dass sie sich, kaum dass sie zu Hause war, auf den Roller schwang und so schnell sie nur konnte in Richtung Reiterhof davon fuhr.
Daran hatten auch die mahnenden Worte von Frau Kruse nichts ändern können. Adelheid war die Wirtschafterin, die sich seit dem Tod der Mutter um den Haushalt und soweit es Tanja zuließ, auch um die Sechzehnjährige kümmerte. Tanja hatte einmal mehr nichts gegessen und dies, obwohl die alte Dame heute ihr Lieblingsgericht zubereitet hatte. Sie konnte nicht ahnen, was Tanja an diesem Nachmittag belastete.
Immer wieder stellte sich die junge Frau vor, wie schrecklich es sei, wenn ihre Diana das Opfer dieses Irren werden sollte. Die blutigen Bilder, die sie bei vergangenen Taten des Rippers in der Zeitung gesehen hatte, drangen immer wieder vor ihr geistiges Auge. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, die Aufnahmen der getöteten Pferde gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn. Natürlich versuchte sie sich immer wieder selbst zu beruhigen, sagte sie sich, dass sich Herr Morgentau, der Besitzer des Reiterhofes, sich längst bei ihr oder ihrem Vater gemeldet hätte, wenn irgend etwas mit Diana geschehen wäre. Aber schon in der nächsten Sekunde hielt sie dagegen, dass ihr Pferd womöglich bislang von niemandem vermisst worden war. Nein, sie würde erst wieder zur Ruhe kommen, wenn sie ihrer Stute zärtlich über die Blässe streicheln konnte.
Tanja war viel zu tief in ihren Gedanken versunken, um den Wagen zu bemerken, der ihr seit einiger Zeit in geringem Abstand folgte. Auch als sie der rotbraune Kleinwagen auf der wenig befahrenen Straße, kurz vor dem Waldstück überholte, schöpfte sie keinen Verdacht. Davon, dass der betagte Golf hinter der nächsten Kurve in einen schmalen Waldweg einbog und der Fahrer hastig ausstieg, konnte sie ebenso wenig etwas sehen. Hätte sie es bemerkt, wären ihr die nächsten Minuten sicher erspart geblieben.

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„Schön, dass ihr da seid,“ empfing Nena Wiese ihre Freundin und unsere kleine Tochter. „Meine Güte, ist die Kleine niedlich,“ überschlug sich Trixis ehemalige Studienfreundin. „Und wie groß sie schon geworden ist.“ „Findest du?“, betrachtete Trixi unsere Tochter skeptisch, während sie Romy aus der Babytasche nahm. „Aber ja,“ entgegnete Nena bestimmt. „Ich habe das Gefühl, sie wächst im Moment gar nicht.“ Quatsch!“, beruhigte Nena ihre Freundin. „Das glaubst du nur, weil du sie jeden Tag siehst.“ Trixi schöpfte Hoffnung. „Meinst du wirklich?“ „Aber ja, deine Kleine ist ganz schön proper.“ Trixi seufzte. „Mike meint, dass ihr die Landluft gut tun wird.“ „Na, dann sollten wir zusehen, dass wir uns allmählich auf den Weg machen.“
Nena schnappte sich ihre Reitsachen und die Frauen begaben sich hinunter auf den kleinen Parkplatz vor dem Haus. Trixi hatte ihren neuen Skoda Fabia direkt neben Nenas Wagen geparkt. „Bist du sicher, dass wir mit deinem Wagen fahren wollen?“, fragte Nena ihre Freundin. „Es ist mir lieber, wenn Sandy in meinem Auto mitfährt. Der Ärmsten geht es beim Autofahren manchmal schlecht,“ grinste Trixi verlegen. „Außerdem wirst du mir schon sagen, wo lang ich fahren muss.“ „Worauf du dich verlassen kannst. Aber Wölpsche liegt auch nicht aus der Welt.“ „Es hört sich aber so an,“ versetzte Trixi. „Du wirst ja sehen, der Reiterhof liegt wirklich idyllisch und die Fremdenzimmer sind mit allem Komfort ausgestattet.“ „Du meinst mit fließendem Wasser und so?“, witzelte Trixi. Nena rollte mit den Augen. „Fahr endlich los, du alte Giftspritze! Du wirst schon sehen.“
Es dauerte erheblich länger als erwartet, bis die Freundinnen die Stadt hinter sich gelassen hatten. Ein schwerer Verkehrsunfall auf der E234 in Höhe Gröpelingen war der Grund dafür. Die Blechschlange staute sich mehrere Kilometer weit. Aber wie es fast immer der Fall ist, wenn sich gute Freunde längere Zeit nicht gesehen haben, sie haben sich viel zu erzählen. Als sich der Stau endlich wieder auflöste, waren aus dem Fond des Autos eigenartige Würgegeräusche zu vernehmen. „Oh nein, ich habe ihr extra nichts zu fressen gegeben,“ haderte Trixi im Unterton der Verzweifelung. Sandy hatte sich im Fußraum der Rücksitzbank allem Überflüssigem entledigt. Ein herber Geruch verbreitete sich im Wageninneren und verursachte auf den vorderen Plätzen ein gewisses Unbehagen. „Soviel zum Thema gute Landluft,“ feixte Trixi. „Passiert so etwas öfter?“, wollte Nena wissen. „Auf Kurzstrecken weniger. Aber zumindest weißt du nun, warum ich mit meinem Wagen fahren wollte.“ Nena drehte sich nach hinten und tat einen Blick in die Babytasche. „Wenigstens hat Romy von alle dem nichts mitbekommen. Sie schnarcht immer noch friedlich vor sich hin.“ „So bald es möglich ist, fahre ich rechts ran und mache hinten klar Schiff,“ versprach Trixi. „Zumindest hat sich der Stau aufgelöst.“
Doch der starke Verkehr ließ auch weiterhin kein Anhalten zu. Erst als die Freundinnen Vegesack hinter sich gelassen hatten und in die weniger stark befahrene Landstraße nach Wölpsche einbogen, ergab sich eine Möglichkeit. „Schau mal, da vorn ist ein kleines Wäldchen. Da zweigt sicherlich irgendwo ein Weg ab, auf dem wir halten können.“ Doch, kaum dass Trixi den Blinker gesetzt hatte und die Geschwindigkeit des Autos verringerte, um auf den erst besten Weg einzufahren, musste sie das Steuer auch schon herumreißen. Direkt vor ihnen lag ein Motorroller.
„Das gibt es ja wohl nicht!“, entrüstete sich Nena. Erst jetzt entdeckten die Frauen in einiger Entfernung einen jungen Mann und ein Mädchen, die sich allem Anschein nach lauthals miteinander stritten. Offenbar hatten die beiden Streithähne noch nicht bemerkt, dass sie nicht mehr allein waren. Trixi und Nena beobachteten aus dem Wagen heraus, wie sich die Auseinandersetzung allmählich zuspitzte und schließlich eskalierte. Der Kerl wurde plötzlich handgreiflich, packte das Mädchen am Arm und versuchte es mit sich in den Wald zu zerren. „Jetzt reicht es aber!“, fauchte Trixi und sprang aus dem Wagen. „Hau auf die Hupe, Nena. Ich hetze den Hund auf den Kerl.“ Laut bellend tobte Sandy los. Erschrocken ließ der Mann von dem Mädchen ab und rannte wutschnaubend zu seinem Auto. Er hatte nicht erkannt, dass Sandys Interesse eigentlich dem Wildkaninchen galt, die sich noch ein Stück weiter im Wald zu verstecken suchten.
Sekunden später kurvte der Mann in seinem Golf mit durchdrehenden Rädern am Skoda vorbei, hinauf auf die Straße. Dabei beachtete er nicht einmal den fließenden Verkehr, schlingerte auf die Straße und raste davon. „Hast du den Kerl gesehen?“, fragte Trixi ihre Freundin. „Wenn du wissen willst, ob ich ihn wiedererkennen würde. Da kannst du deinen Hintern drauf verwetten.“
Nun war natürlich auch Romy wach geworden. Das laute Hupen und Sandys Gekläffe hätten selbst einen Ötzi zu neuem Leben erweckt. Während sich Trixi um unsere Tochter kümmerte, nahm sich Nena dem völlig verstörten Mädchen an. Die Kleine hatte sich auf einen gefällten Baumstamm gesetzt und ihre Beine dicht an den Oberkörper gezogen. Erst als sich Nena neben sie setzte, erkannte sie das Mädchen. „Mensch, Tanja, du bist es ja.“ „Nena,“ stammelte die Sechzehnjährige und schluchzte dicke Tränen in die Arme ihrer Bekannten. „Wer war der Typ und was wollte er von dir?“ Nena reichte ihr ein Taschentuch. „Das war, Harald, mein Exfreund,“ schniefte sie. „Er kapiert einfach nicht, dass es mit uns vorbei ist.“ „Nachdem, wie sich der Typ gerade benommen hat, kann ich dich zu diesem Entschluss nur beglückwünschen. Wenn du den Kerl anzeigen willst, kannst du auf uns zählen,“ versprach Nena. „Der Lebensgefährte meiner Freundin ist bei der Polizei. Er kann sich bestimmt um die Sache kümmern.“ Tanja schüttelte den Kopf. „Das wird sicher nicht nötig sein. Ich schätze, er hat es jetzt begriffen.“ Nena machte dicke Backen. „Es hat zwar nicht gerade danach ausgesehen, aber du musst schließlich selber wissen, was du machst.“
Wenig später hatte sich die junge Frau wieder so weit beruhigt, dass sie ihren Weg fortsetzen wollte. „Der Idiot hat sich einfach auf die Straße gestellt und mich an der Vorbeifahrt gehindert. Als ich ihm auswich, kam der Roller ins Rutschen. Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht stürzte.“ Die Frauen richteten den schweren Motorroller auf und Tanja versuchte ihn zu starten. Doch der Elektroanlasser versagte seinen Dienst. „Du wolltest doch sicher zum Reiterhof,“ überlegte Nena. Tanja nickte, während sie das Fußpedal für den mechanischen Anlasser herausklappte. „Wenn du möchtest, kannst du bei uns mitfahren,“ bot Trixi an. Im selben Augenblick trat Tanja mit aller Kraft das Pedal nach unten und der Roller begann loszutuckern. Zunächst noch verhalten, aber zunehmend lauter und gleichmäßiger. „Ich schätze, das hat sich erledigt,“ freute sich die Sechzehnjährige und setzte den Sturzhelm auf. „Aber trotzdem, vielen Dank für das Angebot.“ Nena reckte den Daumen in die Höhe. „Na gut, dann werden wir zumindest das kurze Stück bis zum Reiterhof hinter dir herfahren.“ Tanja lächelte dankbar. „Das ist echt lieb von euch.“ Dann knatterte der Roller davon.
„Was hältst du von der Geschichte?“, fragte Trixi ihre Freundin nachdenklich, nachdem alle eingestiegen waren und sich der Skoda langsam in Bewegung setzte. „Ein bisschen merkwürdig kam mir der Knabe schon vor.“ „Ein bisschen?“, echote Trixi. „Scheint mal wieder einer von diesen unerträglichen Machos zu sein, der es einfach nicht verwinden kann, wenn er von einer Frau abserviert wird.“ Nena stimmte ihrer Freundin zu.

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„Verdammte Sauerei!“, schimpfte Hauptkommissar Klemens von der Sonderermittlungsgruppe Pferd. Schon am Vortag hatten die Beamten der Kripo Nienburg die Umrisse des Kadavers mit roter Farbe markiert. Anschließend wurde das dahingemetzelte Pferd in die Tierärztliche Hochschule nach Hannover transportiert. Erst seit einigen Stunden war klar, dass die Verletzungen, die das Tier davongetragen hatte, die Handschrift jenes Serientäters trug, dem ein Großteil der tödlichen Attacken auf Pferde zugeschrieben wird.
Dies wiederum gab den Anlass, die Ermittlungsgruppe, der Klemens vorstand, hinzuzuziehen. Die SOKO Pferd ging 1999 aus der Landeskriminalpolizei Niedersachsen hervor. Bei ihr liefen alle Rippermorde und Übergriffe an Pferden zusammen, die seit 1995 geschehen waren.
50 Beamte der Bereitschaftspolizei hatten bereits jeden Grashalm auf der abgelegenen Weide umgedreht. Doch einen ähnlich spektakulären Fund, wie ihn der Schlächter zu Beginn der Mordserie hinterlassen hatte, war nicht gefunden worden. Damals war es eine selbstgebaute Lanze, die der Ripper am Tatort zurückgelassen hatte. Leider führte die gefundene Waffe bis heute nicht zum Täter.
„Wer ist nur zu einer solch barbarischen Tat im Stande?“, fragte der Verpächter der Weide immer wieder den Kopf schüttelnd. „Wir haben zusammen mit Psychologen und Veterinärmedizinern ein Täterprofil erarbeitet. Inzwischen gehen wir davon aus, dass es sich bei dem Täter um einen Mann handelt, der sich gut mit Pferden und speziell mit dessen Anatomie auskennt,“ erläuterte Klemens. „Offenbar gelingt es ihm die Tiere mit einem gezielten Lanzenstich fluchtunfähig zu machen. Wahrscheinlich lebt er sehr zurückgezogen. Wir schließen ein sexuelles Tatmotiv nicht aus.“ Der Mann in der grünen Arbeitskluft zog seine Mütze vom Kopf und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. „Sexuell? Sie meinen...“ Klemens zuckte mit den Schultern und sah zu dem mit roter Farbe umrandeten Fleckchen Erde, auf dem die bedauernswerte Kreatur einen qualvollen Tod gestorben war. „Verdammte Schweinerei!“, schimpfte der Mann mit der grünen Mütze, dessen Augen den Blicken des Hauptkommissars gefolgt waren. „So einen Verrückten muss man doch das Handwerk legen können.“ „Verrückt vielleicht – aber dennoch gerissen,“ relativierte Klemens. „Wir gehen davon aus, dass der Täter jeden neuen Tatort über einen längeren Zeitraum beobachtet. Diese, der Tat vorausgehenden Erkundungen ziehen sich wahrscheinlich über Wochen hin und gehören möglicherweise schon zu seinem gestörten Sexualverhalten.“ Der Landwirt starrte den Beamten ungläubig an. „Sie meinen so eine Art Vorspiel?“ Klemens nickte betreten. „So könnte man es wohl auch nennen. Erst wenn der Kerl sich sicher ist, von keiner Menschenseele gestört zu werden, führt er sein perfides Spiel mit dem Tod aus.“
Der Verpächter schlug die Faust in die offene Handfläche. „Die Leute vom Reiterhof können hier doch nicht Tag und Nacht Wache schieben. Nur gut, dass ich heute Morgen zufällig hier vorbei kam. Sie können sich gar nicht vorstellen, was hier kurz darauf los war, nachdem ich den Pächter von meinem Fund informiert hatte.“ „Oh, doch. Ich habe zwar bislang weder mit dem Besitzer des Reiterhofes, noch mit den Haltern der Pferde gesprochen, weil ich mir erst einmal ein Bild vom Tatort machen wollte, aber glauben Sie mir, es ist jedes Mal das gleiche. Wohin ich auch komme, überall da, wo diese unsägliche Bestie gewütet hat, sind die Menschen mehr als betroffen. Für viele der Geschädigten waren ihre Pferde der Inbegriff ihres Lebens. Für sie war es, als wäre die Welt zusammen gebrochen.“
„Nun, ich selber mache mir nicht viel aus Pferden,“ erklärte der Bauer. „Außer einem Hund haben wir keine Tiere mehr auf dem Hof. Lohnt sich heutzutage ja auch kaum noch. Aber nichtsdestotrotz bin ich mit Tieren aufgewachsen und weiß, wie sehr man an ihnen hängt. Ich habe natürlich schon von diesem Verrückten gelesen. Aber wer denkt schon ernsthaft daran, einmal selbst von einer solchen Tat betroffen zu sein.“ Hauptkommissar Klemens tat einen tiefen Seufzer. „Ja, so ist es mit jedem Verbrechen, von dem wir hören. Wir sind schockiert darüber, aber gleichzeitig froh, dass es uns nicht selbst getroffen hat. Meistens schieben wir es mit dieser Begründung weit von uns und verdrängen es aus unserem Bewusstsein. Und dennoch setzt sich diese Angst tief in unserem Innersten fest, staut sich dort und bricht um so heftiger aus uns heraus, wenn wir tatsächlich eines Tages mit einem Verbrechen konfrontiert werden.“
„Wir sind jetzt fertig, Herr Hauptkommissar,“ unterbrach eine ganz in weiß gekleidete Frau von der Spurensicherung das Gespräch der beiden Männer. „Leider wird es so gut wie unmöglich sein, die gefundenen Schuhabdrucke zuordnen zu können. Wir wissen weder wie alt sie sind, noch sind die meisten ohnehin in einem derart schlechten Zustand, dass wir sie nicht verwenden können. Die Leute von der Bereitschaftspolizei haben buchstäblich jeden Millimeter nach Hinweisen abgesucht. Der Ripper war einmal mehr vorsichtig genug, um keine Spuren zu hinterlassen.“ Klemens nickte resignierend. „Ich habe es fast befürchtet.“

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Auf einer kleinen Anhöhe, ganz in der Nähe des Reitstalls, stand bereits seit einer ganzen Weile ein breitschultriger Mann und beobachtete mit seinem Fernglas, was in etwa 200 Meter Entfernung auf dem Hof der Anlage vor sich ging. Seine Haare waren vom Wind zerzaust und die Ellenbogen, mit denen er das Fernglas auf einer Astgabel abstützte, schmerzten ihm bereits. Aber dies ignorierte der Mann, denn seine Gedanken liefen ebenso wirr auseinander wie seine Haare. Seine Augen starrten angespannt, nur auf das Eine fixiert - nämlich auf die wunderschönen Stuten, die von ihren Besitzern gerade vor dem Stall gehegt und gepflegt wurden.
Er schwenkte das Fernglas zum großen Tor mit dem steinernen Rundbogen darüber und bemerkte, wie ein Motorroller, dicht gefolgt von einem Pkw, auf den Parkplatz fuhr. Zwei junge Frauen und ein Hund verließen den Wagen und gingen auf den Motorroller zu. Der Hund folgte ihnen angeleint. Der Fahrer des Motorrollers zog den Helm vom Kopf und der Mann auf dem Hügel erkannte, dass es sich ebenfalls um eine junge Frau handelte. Er sah, wie sie miteinander sprachen und wie sie sich nach nur wenigen Augenblicken von einander verabschiedeten.
Das Fernglas folgte der Frau mit dem Motorradhelm. Sie ging geradewegs in den Stall. Als der Unbekannte sein Glas zurückschwenkte, um wieder nach den beiden anderen Frauen Ausschau zu halten, sah er gerade noch, wie sie mit dem Hund und einigem Gepäck in der Tür des dem Reiterhof angeschlossenen Hotelleriebetriebes verschwanden.
Plötzlich horchte der Mann hinter dem Baum auf und wandte den Kopf. Er hatte nicht weit hinter sich das Geräusch einer zuklappenden Autotür vernommen. Reflexartig duckte er sich hinter dem Brombeerbusch ab und verharrte.
Es dauerte eine Weile, bis er eine Gestalt ausmachte, die eilig näher kam. Ein Mann. Er kam direkt auf ihn zu, ließ ihm keine Möglichkeit mehr noch unerkannt das Weite zu suchen. Keine zehn Meter waren die Männer nun noch von einander entfernt. Der mit dem Fernglas kauerte still in seinem Versteck und grübelte bereits nach einer Ausrede, die seine Anwesenheit erklären konnte. Doch dem, der da keine fünf Meter von ihm entfernt vorbei stakste, stand der Sinn nach etwas anderem. Den Blick starr nach vorn gerichtet, schäumte der Typ offensichtlich vor Wut. Er hätte ihn wahrscheinlich nicht einmal dann gesehen, wenn er neben dem Baum stehen geblieben wäre.
Nichtsdestotrotz verblieb der Mann auch weiterhin in seiner Haltung. Er registrierte, wie sich der Störenfried weiter und weiter von ihm entfernte. Gerade, als er meinte, dass der Unbekannte nun weit genug von ihm entfernt wäre, und er sich erheben wollte, blieb der Fremde plötzlich stehen und beobachtete etwas. Zu seiner Verwunderung schien der Mann mit dem Pagenschnitt und den eigentümlich langen Kotletten, ebenso wie er, ein besonderes Interesse an dem Reiterhof zu haben.
Anscheinend war seine Sicht auf die Anlage jedoch ungenügend, denn schon nach wenigen Augenblicken ging der Typ weiter auf den Reiterhof zu. Der Mann mit dem Fernglas erhob sich endlich aus seinem Versteck. Er hatte seine Sehhilfe längst in einer Ledertasche verstaut. Er wollte auf jeden Fall unerkannt bleiben, deshalb zog er es vor, erst einmal seinen Beobachtungspunkt zu verlassen. Das, was er gesehen hatte, reichte ihm. Einige prächtige Tiere standen dort unten in den Paddocks. Nun musste er nur noch herausfinden, auf welche Weide die Tiere demnächst gebracht werden. Sicherlich würde es auch hier nicht mehr lange dauern, bis die Besitzer die Freiluftsaison für gekommen hielten.

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„Du hast nicht zu viel versprochen, Nena. Die Zimmer sind wirklich ein Traum,“ schwärmte Trixi, als ihre Freundin ihr Apartment betrat, um sie abzuholen. „Na, sag ich doch. Aber du musst ja immer erst alles mit eigenen Augen sehen, bevor du mir etwas glaubst.“ Trixi schürzte die Lippen. „Hast ja recht, aber nun könntest du mir erst einmal dein halbes Pferd zeigen. Welche Hälfte gehört eigentlich dir?“ „Wotan ist ein Wallach! Da erübrigt sich deine Frage jawohl, oder?“ Die Frauen brachen in herzliches Gelächter aus und begaben sich mit Babytasche und einer verkniffen dreinschauenden Hundedame zu den Ställen.
„Du musst leider hier draußen warten,“ verkündete Trixi unserer Golden Retriever, als sie die Hündin vor dem Eingang zum Stall anleinte. Sandy schien es ihr nicht weiter übel zu nehmen. Sie legte sich auf eine, von der Frühlingssonne beschienenen Stellen und genoss ihre wärmenden Strahlen. „Ist sie immer so lieb?“, erkundigte sich Nena anerkennend. „Wenn sie nicht gerade einen Floh im Pelz hat, geht es,“ lobte Trixi, während sich die Frauen der Box näherten, in der Wotan stand.
„Meine Güte, ist das ein Prachtbursche,“ verschlug es Trixi fast den Atem, als sie den Wallach erblickte. „Ein Friese eben. Zäh, robust, gutmütig, aber eben auch nicht klein,“ erklärte Nena mit einem gewissen Schmunzeln auf ihren Lippen. „Und das Beste ist, dass der Kleine an diesem Wochenende ausschließlich uns zur Verfügung steht. Du wirst sehen, Reiten verlernt man nicht. Auch wenn es schon Jahre her ist, wirst du schneller wieder klar kommen als du es dir vorstellst.“ Trixi sah dem Friesen skeptisch in die Augen. Mutig tätschelte sie den Kopf des Tieres. „Dein Wort in Gottes Ohr.“
„Doch wie immer im Leben kommt eben auch in diesem Fall die Arbeit vor dem Vergnügen. Wenn du magst, kannst du zusehen, wie ich Wotan für den Ausritt fertig mache. Du kannst dir aber auch gern den Hof etwas genauer ansehen.“ Trixi wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich denke, ich werde mich erst einmal ein wenig umsehen und danach oben auf die Terrasse setzen. Wenn ich richtig gesehen habe, gibt es dort sogar Cappuccino.“ Nena grinste. „Das Leben an der Seite eines Kommissars scheint abzufärben. Kaum da und schon weißt du mehr, als ich nach einer Woche.“ Trixi zuckte mit den Achseln. „Tja, so ist das eben – jeder nach seinen Fähigkeiten.“
„Ich hole dich dann nachher zusammen mit Wotan ab.“ Trixi sah noch einmal ehrfurchtsvoll an dem riesigen Friesen empor. „Meinst du wirklich, dass ich mich da oben drauf halten kann?“ „Das haben schon ganz andere Greenhorne geschafft.“ Trixi warf ihrer Freundin mit gespielter Empörung einen funken- sprühenden Blick hinüber. „Danke schön!“ Nena zog den Kopf zwischen ihre Schultern. „Oh, entschuldige. Aber so hatte ich es natürlich nicht gemeint.“ Die beiden Frauen waren lange genug befreundet, um nur zu gut zu wissen, wann sich die andere einen Spaß erlaubte. Wenn dann noch jemand in ihrer Nähe war, der sie nicht kannte und den verbalen Schlagabtausch mitbekam, liefen die beiden Freundinnen zu wahrer Höchstform auf.
Trixi schleppte sich nun schon eine ganze Weile mit der schweren Babytasche ab. Sie wagte es nicht, Sandy von der Leine zu lassen und dieser Umstand begann sie allmählich zu nerven. An jeder Ecke blieb sie stehen und verweigerte, bockig wie ein alter Maulesel, mit Frauchen Schritt zu halten. Es waren die neuen Gerüche, die sie immer wieder dazu verleitete, sich hinzusetzen. „Nun hör schon endlich auf!“, schimpfte Trixi. „Da kommt doch schon längst kein Tropfen mehr.“ Doch die Golden Retriever Hündin lies sich nicht beirren. Während Sandy ihr neues Revier kenntlich machte, lies Trixi also genervte Blicke in die Umgebung wandern.
Plötzlich hielt sie inne. Da war doch etwas, dachte sie. Sie spähte einen nahen Hügel hinauf und tatsächlich, hinter einem dicken, am Boden liegenden Baumstamm entdeckte sie einen Mann. Er kniete und schien den Reiterhof zu beobachten. Obwohl die Entfernung nicht gerade gering war, glaubte sie, anhand der Kleidung, in dem Mann den Kerl wiederzuerkennen, der auf ihrer Herfahrt das Mädchen mit dem Motorroller belästigt hatte. Sein Blick schien in eine bestimmte Richtung zu gehen. Kurz darauf, wurde ihr klar, worauf seine Aufmerksamkeit gerichtet war.
Eben jenes Mädchen ritt nun auf einem Pferd, direkt auf ihn zu. Der schmale Pfad, auf dem sie sich befand, würde sie dicht an ihm vorbeiführen. Es war abzusehen, was in wenigen Augenblicken geschehen würde. Doch wie sollte sie das Mädchen warnen. Genau in diesem Moment fuhr ein stattlicher Bursche mit einem Kleintraktor auf die Wiese, die zwischen ihr und dem Geschehen lag. Ihre Rufe würden unweigerlich durch das laute Knattern des Rasenmähers geschluckt werden. Selbst wenn sie jetzt losrannte, würde sie zu spät kommen, um das, was sie befürchtete, verhindern zu können. Trixi beruhigte sich, vielleicht würde gar nichts geschehen. Vielleicht handelte es sich bei dem Mann gar nicht um den ominösen Exfreund des Mädchens, sondern nur um einen harmlosen Spaziergänger, der sich auf dem Baumstamm ausruhte?
Trixi beschloss die Szenerie weiterhin aufmerksam zu beobachten. In diesem Augenblick erreichte das Mädchen auf ihrem Pferd die Stelle, an der sich der Mann verbarg. Trixi hatte ihn seit einigen Sekunden aus den Augen verloren. Verbarg er sich oder war er weiter gegangen. Bereits der nächste Wimpernschlag enthob sie ihren Überlegungen. Einem Sprinter gleich schnellte der Wahnsinnige aus seinem Versteck und versperrte Ross und Reiterin den Weg. Seine Arme wedelten dabei wie zwei riesige Paddel. Das erschrockene Tier scheute, bäumte sich auf und galoppierte in rasendem Tempo davon.
Erst jetzt konnte Trixi erkennen, dass der Mann am Boden lag. Das durchgegangene Pferd hatte ihn möglicherweise umgerissen, während es davon stob. Was für ein Idiot, dachte sich Trixi.
Beinahe gleichzeitig vernahm sie ein kräftiges Schreien aus der Babytasche, die sie zwischenzeitlich neben sich abgesetzt hatte. Trixi bückte sich zu Romy hinunter. „Ja, mein Schatz, Mami weiß, dass du Hunger hast. Du bekommst gleich deine Pülli.“ Sandy tat einen verstohlenen Blick in die Tasche, schnüffelte und rümpfte die Nase. Dann erhob sich die Hündin und trat einige Schritte zur Seite, um sich an anderer Stelle erneut niederzulassen. „Oder bist du am Ende schon wieder nass?“ Das prüfende Tasten mit ihrer Hand brachte Gewissheit. „Dann müssen wir halt noch einmal auf unser Hotelzimmer.“ Trixi hob die Tasche und forderte den Hund mit einem kräftigen Ruck an der Leine zum Aufstehen auf. Bevor sie ging, warf sie einen letzten Blick auf die Stelle, an der gerade noch der Mann gelegen hatte. Er war verschwunden.
Plötzlich kamen ihr Bedenken, dass dem Mädchen etwas zugestoßen sein konnte. Schließlich wusste sie nicht wie geübt sie mit dem Tier war. Trixi ging so schnell es ihr mit dem Anhang möglich war hinüber zur Wiese, auf der nach wie vor der knackige Bursche damit beschäftigt war den Rasen zu mähen. Wild gestikulierend machte sie ihn auf sich aufmerksam. Es dauerte eine Weile, bis er den Trecker abgestellt und begriffen hatte, was Trixi von ihm wollte. Doch dann ging alles sehr schnell.
Der smarte Jüngling nahm die Beine in die Hand und hastete in den Stall. Nur Sekunden später ritt er auf Wotan über den Hof und schließlich in einem Affentempo über den schmalen Pfad den Hügel hinauf. Gleich darauf kam Nena auf sie zugelaufen. „Was ist denn hier los?“, schnaufte sie. „Das wollte ich dich auch gerade fragen,“ entgegnete ihr Trixi. „Gibt es hier immer so viel Action?“ Nena hob verwundert die Schultern. „Ich hatte Wotan gerade aufgezäumt als Tommy hereinstürmte, mir irgend etwas unverständliches zurief und sich, als sei der leibhaftige Teufel hinter ihm her, in den Sattel meines Pferdes schwang.“ „Deines halben Pferdes,“ unterbrach Trixi. „Aber Spaß bei Seite. Ich habe beobachtet, wie der Kerl von vorhin wieder die kleine Rollerfahrerin bedrängte. Er hat das Pferd von der Kleinen da oben erschreckt.“ Trixi wies mit dem ausgestreckten Arm auf die besagte Stelle. „Die Kleine hielt sich zwar im Sattel, konnte aber das Pferd nicht unter Kontrolle halten.“ Nena zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen. „Das darf ja wohl nicht wahr sein! Jetzt wird mir Tommys Eile natürlich klar. Hoffentlich kann Tanja ihr Pferd vom Wölpscher Moor fernhalten, sonst gibt es womöglich doch noch ein Unglück.“

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„Meine Güte, Junge! Wie siehst du denn aus?“ „Lass mich in Ruhe!“ Harald humpelte ins Bad und lies die Tür hinter sich ins Schloss krachen. Er schäumte mal wieder vor Wut. Gerlinde Reuter hatte kein gutes Gefühl, als sie ihrem Enkel nachblickte. Seine gesamte Kleidung war verschmutzt. Kopfschüttelnd sah sie auf die Dreckspur, die er auf dem Flur hinterlassen hatte. Sie hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, ihn nach seinen Problemen zu fragen. Denn es waren stets die gleichen, unwirschen Antworten, die sie zu hören bekam.
Ihr war längst klar geworden, dass sie bei seiner Erziehung etwas falsch gemacht hatte. Wie sollte sie auch Vater und Mutter ersetzen können? Nachdem seine Mutter bei Nacht und Nebel mit einem anderen durchgebrannt war, hatte der Junge vollends jeglichen Halt verloren. Auf seinen Vater, ihrem Schwiegersohn war schon vorher nicht zu zählen. Zu sehr hatte der Alkohol sein Hirn zerfressen. So gesehen konnte sie sogar so etwas wie Verständnis für die Flucht ihrer Tochter aufbringen. Doch dass sie sich seit jenem Tag nicht einmal bei ihr gemeldet hatte, nahm sie ihrer Tochter übel.
Klaglos ging die alte Frau in die Küche, holte sich Besen und Kehrblech und machte sich daran, den Schmutz zu beseitigen. Sie war gerade mit der Arbeit fertig, als Harald die Tür zum Bad öffnete. Wortlos starrte Gerlinde ihn an. Ihre Augen ruhten in tiefen Höhlen. Ihre Stirn war von tiefen Falten zerfurcht und das graue Haar klebte ihr in wirren Strähnen auf dem Kopf. Einen Friseur hatte sie sich schon lange nicht mehr geleistet. Zu groß war die Angst davor Harald kein Geld geben zu können, wenn er es von ihr forderte. „Was glotzt du mich denn so an?“, herrschte er ihr entgegen. Gerlindes Blick irrte in eine andere Richtung. „Entschuldige.“ „Geh mir endlich aus dem Weg! Du siehst doch, dass es mir nicht gut geht.“ Die alte Frau gehorchte, wie sie es immer tat. „Bring mir lieber ein Bier in die Stube,“ verlangte ihr Enkel, während er halbnackt an ihr vorbei ins Wohnzimmer humpelte.
„Habe ich eigentlich noch ein paar Klamotten hier?“, fragte er, als ihm seine Großmutter die Flasche brachte. „Nein, du hast alles mitgenommen, als du damals bei mir ausgezogen bist.“ Harald lehnte sich bequem zurück. „Tja, liebste Omi, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als so lange bei dir zu bleiben, bis meine Wäsche sauber ist.“ Gerlinde Reuter schluckte. Das war das Letzte, was sie wollte. Lieber lebte sie zurückgezogen wie eine Einsiedlerin, als noch eine Nacht lang mit ihrem missratenen Enkel unter einem Dach zu verbringen. Die alte Frau hatte Angst. Angst vor ihrem eigenen Fleisch und Blut. Dies wurde ihr in diesem Augenblick mehr als bewusst.
„Ich habe noch ein paar Sachen von Fritz. Die könnten dir vielleicht passen,“ schlug Gerlinde halblaut vor. „Bist du bescheuert? Ich renne doch nicht in den alten Lumpen meines Opas durch die Gegend. Außerdem denke ich, dass ich heute hier bleiben sollte. Wie du wohl unschwer erkennen kannst, bin ich gestürzt. Ich habe höllische Schmerzen. Da ist es sicher nicht verkehrt, wenn ich mich ein wenig von dir verwöhnen lasse.“ Die alte Dame wagte es nicht, ihrem Enkel zu widersprechen.

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„Hast du es dir auch wirklich gut überlegt, Alter. Ein solches Angebot bekommst du so schnell nicht wieder.“ Aron schürzte die Lippen. „Keine Chance, Mike. Dieses Wochenende gehört Swende. Wenn du meine Süße näher kennen würdest, könntest du verstehen. warum mir ihre warmen, weichen Kurven lieber sind, als mit dir von einer Kneipe in die nächste zu tingeln.“ „Sei froh, dass ich deine Kleine nicht näher kenne, denn sonst wüsstest du jetzt nicht, was du mit dem freien Abend anfangen solltest,“ flachste ich zurück. „Was hier zählt ist eindeutig Klasse und nicht Masse,“ witzelte er. „Wenn du damit auf die paar Pfunde anspielst, die ich zugelegt habe, seit ich mit Trixi zusammen bin, dann hört man den Neid, der aus dir spricht aber überaus deutlich heraus.“ Aron rieb sich den Bauch. „Ja, ja, Liebe geht eben doch durch den Magen.“
Das war, abgesehen von einem ironischen „Tschüsschen“, das letzte, was ich an diesem Nachmittag von meinem Partner zu hören bekam. Denn in diesem Augenblick hatten wir die Faulenstraße und somit seine Adresse erreicht. Er hüpfte aus dem Wagen und verschwand in der Haustür. Voller Melancholie dachte ich an die guten alten Zeiten zurück, in denen wir so manche Nacht zum Tag erklärten. Aber diese Zeiten waren wohl doch unwiederbringlich verloren. So ist das eben im Leben, du musst dich für eines entscheiden. Bevor du ein neues Kapitel deines Lebens beginnst, musst du das alte erst beenden. Und ehrlich gesagt, bin ich froh, dass ich es beendet habe.
Was lag also näher, als meinen alten Freund Angelo zu besuchen. Angelo war der stolze Besitzer des italienischen Restaurants „Venezia“. Zu Zeiten, in denen Kriminalrat Gerd Kretzer noch Hauptkommissar und mein direkter Vorgesetzter war, nutzten wir dieses Restaurant als unser Stammlokal. Eigentümer des Venezia war Angelo Brodi, doch alle nannten ihn bloß den Sizilianer. Er und seine Familie führten das Restaurant schon seit vielen Jahren. Angelos Antennen waren in einschlägigen Kreisen stets auf Empfang geschaltet. Schon oft hatte er uns mit heißen Tipps auf die richtige Spur gebracht.
Aber heute war ich endlich mal wieder ganz privat bei ihm. Dementsprechend groß, ja beinahe überschwänglich war seine Freude, als ich sein Speiselokal betrat. Als er mich hereinkommen sah, lies er sofort alles stehen und liegen und eilte um seine Theke herum. „Buongiorno, Mike!“ Seine wild gestikulierenden Hände grapschten nach mir, zogen mich ungestüm an seine Brust. „Mama Mia, wie lange warst du schon nicht mehr in meinem Restaurante. Wie geht es dir? Komm, setz dich an deinen alten Tisch.“ Ich kam kaum dazu, meine Jacke auszuziehen.
Sekunden später stand bereits ein Frascati auf dem Tisch. Angelo schenkte uns ein und setzte sich zu mir. „Erzähle mir, mein Amigo, warum warst du so lange nicht hier? Schmeckt dir meine Küche nicht mehr?“, fragte er beleidigt. Ich verzog das Gesicht. „Du weist, dass es nicht so ist! Trixi und ich haben ein Baby bekommen.“ Ich holte meine Brieftasche hervor und zeigte ihm ein Foto von Romy. „Die beiden sind aufs Land gefahren. Trixi wollte nach den letzten Wochen einfach mal wieder raus. Etwas anderes sehen, wie sie sagte.“
Angelo schien sich an dem Foto nicht satt sehen zu können. „Oh, multo bravissimo. Was für eine süße Bambina! Sieht gar nicht aus wie der Papa.“ Er sprang auf und eilte, mit dem Foto in der Hand, laut rufend in die Küche. Kurz darauf standen seine Frau und die Tochter voller Verzückung vor meinem Tisch und schlugen mir immer wieder anerkennend auf die Schultern. Ich verstand zwar kein Wort von dem, was sie sagten, aber es amüsierte mich trotzdem.
Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend. Wir sprachen von alten Zeiten, erzählten und lachten. Als ich im Taxi nach Hause fuhr, dachte ich daran, wie schön dieser Abend erst gewesen wäre, wenn Trixi dabei gewesen wäre. Etwas war mir dabei deutlich geworden, ich vermisste sie und Romy schon jetzt, obwohl ich sie noch am Morgen gesehen hatte.

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Die Aufregung hatte sich nur sehr zögerlich gelegt. Zu groß war die Empörung, die durch das wahnsinnige Verhalten von Tanjas Exfreund bei den anderen Reitern hervorgerufen wurde. Tommy, der auf dem Hof als Stallbursche und als eine Art Platzwart beschäftigt war, hatte das durchgegangene Pferd von Tanja eingefangen und beruhigt. Die Holsteiner Stute war ihrer Besitzerin völlig aus der Kontrolle geraten und geradewegs auf das Wölpscher Moor zugelaufen. Es war klar, dass Nena die ersten Reitstunden für Trixi auf den nächsten Tag verschieben musste. Wotan war nach dieser Anstrengung natürlich völlig erledigt. Trixi war’s recht. Auch wenn sie mir gegenüber am Morgen noch getönt hatte, dass Reiten wie Fahrradfahren sei, so war ihr bei dem Gedanken nach solch langer Zeit gleich auf einem derart großen Pferd zu reiten, doch etwas mulmig zumute gewesen.
Vor allem, als sie sah, in welch bemitleidenswerten Zustand die kleine Tanja Rehbein war, als sie von ihrem Vater abgeholt wurde. Sie hoffte, dass er dem Exfreund seiner Tochter gehörig den Marsch blasen würde. Denn obwohl Trixi ihr dazu geraten hatte, wollte Tanja ihren Verflossenen auch jetzt noch nicht anzeigen.
Das Babyfon hatte Trixi auf den Tisch gestellt. Während sie sich zu Nena in das ganz im Westernstiel eingerichtete Lokal setzte, machte es sich Sandy zwischen den massiven Tischbeinen gemütlich. „Endlich Ruhe,“ schnaufte sie erledigt. „Jetzt habe ich Kohldampf! Was gibt es denn hier?“ Nena lächelte. „Lass dich überraschen. Ich habe uns schon etwas Leckeres bestellt. Ich hoffe, es war dir recht?“ Trixi nickte eifrig. „Mir ist alles recht. Hauptsache ich bekomme endlich etwas zwischen die Zähne.“
Die Bestellung ließ nicht lange auf sich warten. „Bist du verrückt, Nena, wer soll denn das alles essen?“, staunte Trixi, als die Bedienung die riesige Fleischplatte auf den Tisch setzte. „Ich denke, du hast so einen gewaltigen Hunger?“ „Ja, aber...“ „Quatsch nicht, iss!“ „Wenn ich auch nur die Hälfte der Hälfte in mich hineinstopfe, werde ich morgen noch immer so vollgefressen sein, dass ich noch nicht einmal auf dein Pferd hinauf, geschweige denn meinen Hintern beim Reiten hochbekomme.“
Nena verdrehte die Augen. „Das wirst du dir morgen früh beim Jogging alles wieder ablaufen.“ „Beim Jogging?“, ächzte Trixi. „Ach ja, ich vergaß dir zu sagen, dass wir uns um acht Uhr zum Laufen treffen.“ „Ach ja, machen wir das?“ Nena starrte auf den Bauch ihrer Freundin. „Wird Zeit, dass dein Babyspeck wieder runter kommt. Meinst du nicht?“ Trixi ließ ihre Gabel fallen und schnappte nach Luft. „Also, nun reicht es aber!“ „Nena verzog ihr Gesicht zu einer grinsenden Fratze. Plötzlich prustete sie vor Lachen. „Reg dich ab, mein Schatz. Wir müssen nur Wotan von der Weide holen. Er steht heute Nacht zum ersten Mal in diesem Jahr wieder draußen.“
Trixi sah ihre Freundin besorgt an. „Ist das nicht riskant? Ich habe gerade erst vor ein paar Tagen etwas über einen Verrückten in der Zeitung gelesen, der bei Nienburg ein Pferd auf der Weide getötet hat.“ „Ja, eine wirklich schlimme Sache. Glaube mir, es kostet mich jedes Mal einiges an Überwindung, wenn es wieder soweit ist, dass die Pferde auf die Koppel gehen. Aber Pferde sind keine Haustiere. Man kann sie nicht ständig im Stall belassen. Manche haben Asthma oder eine Allergie gegen Stroh. Nein, nein, die Tiere brauchen einfach den Wind, der ihnen um die Nüster weht. Frisches Gras und den Platz, sich auszutoben.“ Trixi seufzte. „Na, wenn du meinst.“ „Außerdem haben wir uns vorgestern getroffen und wegen genau dieser Geschichte beschlossen, dass Tommy in der ersten Woche draußen bei den Pferden schläft. Im Unterstand gibt es einen Heuboden. Da ist er sofort da, falls die Herde unruhig ist und kann Alarm schlagen.“ Trixi verzog das Gesicht. „Nicht gerade ungefährlich für eine einzelne Person.“ Nena winkte ab. „Das haben wir uns natürlich auch überlegt. Aber der Pferderipper hat noch niemals gegen einen Menschen Gewalt ausgeübt. Sobald er gestört wird, sucht er das Weite.“ „Na, wenn das so ist... Aber trotzdem wird das nichts mit dem Jogging. Ich kann mir Romy ja nicht auf den Rücken schnallen.“ „Das brauchst du auch gar nicht, liebste Freundin. Ich habe schon mit Katja gesprochen. Sie wird sich so lange um deine Kleine kümmern. Wie du siehst, habe ich an alles gedacht.“ „Aha.“ Trixis Gesicht sprach Bände. „Wer zum Kuckuck ist Katja?“ „Sie ist hier Küchenhilfe. Eine ganz Liebe, ehrlich.“

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„Sag mir endlich, wer der Kerl ist, der dir das angetan hat! Herr Morgentau hat davon gesprochen, dass er den Kerl schon öfter auf dem Reiterhof gesehen hat. Dabei soll er stets in deiner Begleitung gewesen sein. Unterhältst du mit dem Typ eine Beziehung?“ Robert Rehbein hatte während des Gesprächs mit seiner Tochter merklich die Stimme erhoben. Eigentlich wollte er es gar nicht, aber dies war, wann immer er sich über etwas aufregte, eben so seine Art.
Tanja druckste herum. Sie fühlte sich plötzlich von ihrem Vater in die Enge getrieben. Sollte sie ihm beichten, dass sie mit einem acht Jahre älteren Mann ein Verhältnis hatte? Es war klar, welche Schlüsse er daraus ziehen würde. „Nun, lassen Sie das Kind doch erst einmal zur Besinnung kommen,“ kam ihr Adelheid, langjährige Haushälterin und gute Seele der Familie, genau im richtigen Moment zu Hilfe. „Sie sehen doch, wie durcheinander sie noch ist.“ Tanja schmiegte sich an die Schulter der alten Dame, um deren Worte zu unterstreichen.
Doch der Programmierer ließ nicht locker. „Meine Güte, ist Ihnen denn wirklich noch nicht der Gedanke gekommen, dass dieser Typ Tanja ohne weiteres wieder auflauern könnte? Irgendwo, vielleicht an einer noch abgelegenen Stelle. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn dieser Stallbursche nicht derart geistesgegenwärtig gehandelt hätte.“ Adelheid Kruse wurde zusehends blasser um die Nase. Selbst ihr nicht gerade spärlich aufgetragenes Rouge konnte dies nicht vertuschen. „Meinen Sie wirklich?“ Sie wandte sich an Tanja. „Hat dein Vater recht, Kind? Hat dich dieser Mann absichtlich erschreckt?“
Tanja versuchte ihrem Vater das Geschehen im Reiterhof auch weiterhin als einem Unfall dazustellen. „Warum sollte mir Harald so etwas antun?“ „Also, Harald heißt der Kerl!“, unterbrach ihr Vater sie schroff. „Ihr wart also zusammen?“ Tanja nickte kleinlaut. Robert Rehbein verlor allmählich die Geduld. „Nun rede endlich! Lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!“ Tanja brach in Tränen aus. „Ja, ja, ja! Wir waren miteinander befreundet. Ja, wir haben auch miteinander geschlafen! Damit du es ganz genau weißt!“ Nun verlor auch Robert Rehbein stark an Gesichtsfarbe. „Und jetzt hast du mit ihm Schluss gemacht, nicht wahr?“ Tanja vermochte ihrem Vater nicht in die Augen zu sehen. Sie nickte kaum merklich. „Aber er bedrängt dich weiterhin. Akzeptiert nicht, dass du nichts mehr mit ihm zu tun haben willst. Ist es so?“ Herausfordernd beobachtete er seine Tochter. Sie lag in Adelheids Armen und schluchzte.
Nur ganz allmählich fasste sie sich wieder. „Er hatte mich schon auf dem Weg zum Reiterhof abgepasst.“ Die Worte quälten sich nur sehr zögerlich über ihre Lippen. „Er hielt mich fest und redete eine Menge wirres Zeug. Seine Hände umklammerten meine Arme wie Schraubzwingen. Harald verlangte, dass ich zu ihm zurückkomme. Als ich ihm wieder und wieder klar zu machen versuchte, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen, drehte er durch. Ich hatte ihn nie zuvor so in Rage erlebt. Er schüttelte mich und zerrte mich vom Weg. Ich hatte panische Angst. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn in diesem Moment nicht gerade Nena und ihre Freundin hinzugekommen wären.“
Robert Rehbein und seine Haushälterin sahen sich fassungslos an. „Aber Kind, warum hast du uns das nicht schon viel früher gesagt. Du hättest doch deinen Vater oder mich sofort anrufen müssen.“ So sehr, wie in diesem Moment hatte Tanja ihre Mutter schon seit Jahren nicht mehr vermisst. Adelheid machte eine beschwichtigende Handbewegung in die Richtung, in der Robert Rehbein das Wohnzimmer zum wiederholten Male durchmaß. Er hatte gerade tief Luft geholt, um seiner Tochter einige, seiner Meinung nach passende Worte, zu sagen. Er schluckte sie herunter. „Aber dann hätte Papa doch von Harald erfahren.“
„Das habe ich so auch! Trotzdem ist dein Kopf noch dran. Du bist 16! Ein Alter, in dem die meisten Mädchen bereits erste sexuelle Erfahrungen gesammelt haben. Ich müsste mir Sorgen machen, wenn es bei dir anders wäre.“ Tanja sah erstaunt auf. Alles hatte sie von ihrem Vater erwartet, doch mit so viel Verständnis hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Selbst Adelheid sah den Hausherren abwartend an. So, als würde sie auf einen Zusatz warten. Doch der kam nicht. Statt dessen strich Robert seiner Tochter zärtlich durch das Haar und tröstete sie.
„Trotzdem muss der junge Mann kapieren, wann er dich in Ruhe zu lassen hat. Wenn du dich von ihm getrennt hast, warum auch immer, dann hat er dies zu akzeptieren. Wenn er um dich kämpfen will, ist auch das in Ordnung, aber dann soll er es bitte schön in einer angemessenen Weise tun.“ Robert ließ sich in den Sessel nieder, der dem Sofa gegenüberstand, auf dem die beiden Frauen saßen. „Nachdem, was du uns nun erzählt hast, kann wohl tatsächlich davon ausgegangen werden, dass es sich bei dem Vorfall am Reiterhof nicht um eine vorsätzliche Tat, sondern um einen Unfall handelte.“ Tanja atmete erleichtert auf. „Nichtsdestotrotz möchte ich jetzt den Nachnamen und die Adresse deines Exfreundes. Wenn du wirklich nichts mehr mit dem jungen Mann zu tun haben möchtest, halte ich es für angebracht, wenn ich ihm dies in einem vernünftigen Vieraugengespräch mitteile.“ Noch immer etwas skeptisch, aber dennoch erleichtert, tat Tanja schließlich um was sie ihr Vater gebeten hatte.
Das in Roberts Innerem eigentlich ein Vulkan brodelte und dass er sich nur mit Mühe zurückhalten konnte, dem Typ vielmehr gehörig die Leviten lesen wollte, band er seiner Tochter natürlich nicht auf die Nase. In diesem Augenblick war er so ziemlich zu allem bereit, um seine Tochter vor einem weiteren Übergriff zu schützen. Solche Kerle hatte der Programmierer zuhauf kennen gelernt. Typen wie der, konnten es nicht ertragen, wenn sie eine Abfuhr bekamen. Sie fühlten sich in ihrer zweifelhaften Ehre gekrängt. Ihr dürftig ausgeprägtes Selbstwertgefühl kam mit einer derartigen Abfuhr nicht zurecht. Deshalb gab es nur eine einzige Möglichkeit, dem Kerl den Willen seiner Tochter verständlich zu machen, die einzige, die er verstehen würde - mit Gewalt.


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Trixi hatte nach einem feucht fröhlichen Abend gut geschlafen. Nur ein einziges mal hatte Romy sie aus den Träumen gerissen. Es hätte ein so perfekter Morgen werden können und nun dies. Nie im Leben hatte Trixi so früh mit ihrer Freundin gerechnet. Doch die Stimme, die jenseits der Tür Einlass begehrte, gehörte eindeutig zu Nena. Selbst die Morgensonne blinzelte nur sehr zögerlich zwischen den schmalen Schlitzen hindurch, die das Rollo warf. Trixi drehte sich auf die Seite und drückte sich das Kissen über den Kopf. Doch das Pochen an der Tür wurde lauter und eindringlicher. „Hau ab!“, rief Trixi unter dem Kissen hervor. „Es ist noch mitten in der Nacht. Normale Menschen schlafen noch.“ „Hast du unsere Verabredung zum Jogging vergessen?“, schallte es zurück. „Mach endlich auf, du Langschläferin.“ Trixi tat einen vorsichtigen Blick auf ihre Armbanduhr. „Halb acht! Bist du verrückt? Ich wollte ausschlafen,“ wetterte sie und drehte sich auf die andere Seite. Doch so leicht ließ sich ihre Freundin nicht vertreiben. „Nun gib dir einen Ruck und öffne endlich die Tür.“
Trixi walzte sich nur sehr widerwillig aus dem Bett. Auf dem Weg zur Tür stolperte sie über Sandy, die ebenfalls keine Anstallten machte, sich zu erheben. „Du bist eine alte Nervensäge, weißt du das?“, warf Trixi ihrer Freundin entgegen, als sie die Tür schließlich doch aufzog. „Da lässt mich Romy schon mal ausschlafen und dann das.“ Nena stürmte an ihr vorbei, ans Fenster und ließ das Rollo nach oben schnellen. Schlagartig war der Raum hell erleuchtet. „Was du hier treibst, ist Nötigung,“ flachste Trixi. „Nenn es wie du willst, meine Liebe. Fest steht, dass wir Wotan von der Weide holen wollen. Schließlich sind wir zum Reiten hier und nicht zum Schlafen.“ „Und ich dachte, dies wird ein erholsames Wochenende,“ seufzte Trixi und verschwand im Bad.
Viel später, als Nena es eigentlich geplant hatte, joggten die beiden Frauen mit Sandy in Richtung Pferdekoppel. „Wie weit ist es denn noch,“ jappte Trixi neben ihrer Freundin herlaufend. „Jetzt machst du aber Witze, oder?“, gab Nena verblüfft zurück. „Wir sind doch gerade erst losgelaufen.“ „Ist ja schon gut, ich frage ja auch nur interessehalber.“ In Wirklichkeit begannen sie bereits leichte Seitenstiche zu piesacken. Nena grinste schelmisch. „Ich dachte schon, du wolltest schlapp machen.“ „Das hättest du wohl gern,“ riss sich Trixi zusammen und verschärfte ihr Tempo.
Sandy war’s recht. Die Golden Retriever Hündin konnte sich endlich mal wieder so richtig austoben. Sie trabte den beiden Frauen genüsslich voraus und ließ keinen Baum, der am Wegrand stand ohne ihre Duftmarke zurück.
Trixi hatte sich während der letzten Minuten immer häufiger an die Seite gegriffen. Nena war dies nicht verborgen geblieben. Sie kannte ihre Freundin ganz genau. Um nichts in der Welt hätte sie es zugegeben, wenn sie nicht mehr konnte. Schließlich war es noch nicht einmal ein Jahr her, dass sie im Sport auf der Uni eine der Besten war. Nena stoppte plötzlich ab. „Lass uns ein Stückchen gehen,“ keuchte sie übertrieben. Trixi lächelte gequält. „Du kannst wohl schon nicht mehr.“ „Tja, sieht so aus, als sei ich etwas aus dem Training.“ „Ehrlich gesagt, hätte ich auch keinen Meter weiter laufen können,“ schnaubte Trixi. „Wir sind sowieso gleich an der Weide. Ich bin gespannt, ob Tommy schon wach ist.“
Kurz darauf standen die Frauen vor dem Unterstand. Die Pferde waren sofort auf sie zugekommen. Bisher hatten sie den jungen Mann noch nicht gesehen. Wahrscheinlich hatte er sie auch noch nicht bemerkt. Nena legte den Finger über die Lippen und deutete Trixi an, leise zu sein. Dann stieg sie über den alten Weidezaun und bückte sich unter dem Schwachstromdraht hindurch, der die Koppel umspannte. Die Stuten folgten ihr neugierig. Wotan wurde ungeduldig. Er stand auf der Nachbarkoppel und sah ihr interessiert zu. Nena hatte den Unterstand erreicht, wo sie nach einigen Schritten für Trixi nicht mehr zu sehen war. Es war ihr von Anfang an klar, was ihre Freundin vor hatte. Wenn sie an die Streiche dachte, die Nena während ihrer gemeinsamen Schulzeit auf der Pfanne hatte, tat ihr der arme Tommy jetzt schon leid.
Nicht einmal zwei Minuten später hörte sie den spitzen Schrei eines Erschrockenen und das schadenfrohe Lachen ihrer Freundin. Seinen Worten nach schien der Stallbursche über die Art wie er geweckt wurde, alles andere als erfreut zu sein. Es waren nur Wortfetzen, die Trixi aus dem Inneren des Unterstandes vernahm. Das sie nicht zu einer Dankesrede passten, wurde schon anhand der Tonart klar, in der die Silben zu ihr nach draußen drangen. Sie musste den armen Kerl eiskalt erwischt haben.
Es dauerte geraume Zeit, bis sich der junge Mann wieder einigermaßen gefangen hatte. Der Grund dafür lag in Nenas Hand und war nicht mehr als ein Radkappengroßes Stück Baumrinde, das im Halbdunkel des Heubodens vor ihrem Kopf wie eine mystische Fratze wirkte. „Das kriegst du wieder,“ schimpfte Tommy mit gequältem Lächeln. „Verlass dich drauf.“ Nena hatte ihren makaberen Streich nicht für eine einzige Sekunde bedauert. Im Gegenteil, es bereitete ihr sichtliches Vergnügen, den immer noch blassen jungen Mann mit lockeren Sprüchen hoch zu nehmen. „Das zahle ich dir bei Gelegenheit heim. Darauf gebe ich dir mein Wort.“ „Ach, das schaffst du doch sowieso nicht. Eher führe ich dich noch zwei mal an der Nase herum, als das du mich einmal dabei erwischst.“ Tommy stutzte. „Die Wette gilt!“
Trixi warf Sandys Stöckchen einmal mehr gelangweilt den mit Schotter befestigten Weg hinunter. Wieder apportierte die Hündin das Holz und legte es ihrem Frauchen vor die Füße. „Ich will euch beiden Turteltauben ja nicht stören, aber so langsam bekomme ich Hunger. Schließlich sind wir ja auch zum Reiten hier - oder?“, sagte sie Nenas eigene Worte mit spitzer Zunge wiederholend. „Ja, du hast recht. Es wird Zeit.“ „Wenn es den Damen beliebt, werde ich euch zurück begleiten. Hier passiert jetzt sowieso nichts mehr. Außerdem habe ich auch Kohldampf und eine heiße Dusche könnte ich jetzt allemal vertragen.“
Während Nena Wotan das Halfter anlegte und den Wallach von der Weide holte, packte Tommy seinen Schlafsack zusammen. „Hast du keine Angst so allein da draußen?“, fragte Trixi den Blondschopf auf dem Weg zum Reiterhof. „I wo, erstens weiß ja keiner, dass ich auf dem Heuschober Wache halte und zweitens werden die Pferde unruhig, wenn sich ein Unbekannter nähert.“ „Wache halten ist gut,“ stichelte Nena.

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Der Mann hinter dem Steuer war zornig und voller Wut. Er fuhr schneller als gewöhnlich. Seine Gedanken waren nur von einer einzigen Idee beseelt. Er wollte dem Kerl, der seiner Tochter nachstellte, gehörig auf die Füße treten. Egal wie, er wollte diesem Spinner ein für allemal klar machen, dass er seine schmutzigen Pfoten von Tanja lassen sollte.
Nur mit äußerster Mühe hatte sich der erfolgreiche Programmierer zurückhalten können, während ihm seine Tochter von der Affäre mit diesem Wahnsinnigen berichtete. Am Sterbebett hatte er seiner geliebten Frau versprochen, sich intensiv um die gemeinsame Tochter zu kümmern. Sie von allem Bösen fern zu halten und sie zu einem anständigen, charakterstarken Menschen zu erziehen. Dieses Versprechen war ihm mehr als eine Aufgabe geworden.
Robert Rehbein bog in die Straße, in der, nach Auskunft seiner Tochter, ihr Exfreund wohnte. Die Reifen seines Wagens quietschten, als er ihn ungebremst um die Kurve lenkte. Hastig tasteten seine Blicke die Hauswände beiderseits der Straße nach ihren Hausnummern ab. Da - endlich hatte er das richtige Haus gefunden. Er bremste unvermittelt. Hinter ihm hupte ein Autofahrer. Viel hatte nicht gefehlt und der hinter ihm fahrende Wagen wäre aufgefahren. Wild gestikulierend überholte ihn der wütende Fahrer. Robert achtete nicht darauf. Es interessierte ihn schlicht nicht. Statt dessen verglich er sicherheitshalber noch einmal die Hausnummer mit der, die auf seinem Zettel stand. Sie waren identisch.
Er querte die Straße und parkte den Wagen direkt vor dem Haus. Dass dort ein Halteverbotsschild stand, war ihm gleichgültig. Er nahm sich nicht einmal die Zeit, seinen Wagen mit der Fernbedienung seines Autoschlüssels zu verriegeln. Das Mehrfamilienhaus aus den frühen Siebzigern hatte sicherlich auch schon bessere Zeiten gesehen. An seiner Fassade blätterte bereits großflächig der Putz und hinter einigen Fenstern hingen die Gardinen nur noch in Fetzen von der Stange. Aber auch dafür hatte der wütende Mann, der die kleine Treppe vor der Eingangstür gerade zu empor sprang, keinerlei Blicke übrig. Sein Daumen betätigte den Taster, der das Flurlicht im Inneren des Hauses anschaltete. Der matte Schein, der durch die trübe Fensterscheibe auf das seitlich angebrachte Klingeltableau fiel, reichte nicht aus, um die Namen darauf zu entziffern. Schließlich nahm er sein Feuerzeug zur Hilfe. Während er nach dem Namen suchte, ging er ein letztes Mal die Worte durch, mit denen er den Kerl zur Ordnung rufen wollte. Sein Pulsschlag erhöhte sich, als er den Klingelknopf betätigte. Seine Hand presste sich gegen die Tür. Er wartete gebannt auf den Summton, der die Türverriegelung öffnen würde. Doch das Summen blieb aus. Robert drückte ein weiteres Mal und noch einmal auf den weißen Knopf neben dem Namen, der auch auf seinem Zettel stand. Aber auch jetzt tat sich nichts. Robert ging die Stufen der Steintreppe unentschlossen herunter. Sein Blick war nach oben gerichtet. Er beobachtete die Fenster des Hauses. Vielleicht würde sich hinter einer der Glasscheiben etwas regen. Möglicherweise würde auf sein Klingeln ein weiteres Licht angeschaltet. Der zornige Mann auf der Straße wurde immer wütender. Er bildete sich ein, aus einem der Fenster beobachtet zu werden. Er spürte förmlich, wie man sich über ihn lustig machte und das machte ihn rasend. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, die er drohend in den Himmel hob und seine Stimme entlud donnernd, was sich in seinem Innersten angestaut hatte. „Ich kriege dich, du Saukerl! Früher oder später kriege ich dich und dann wirst du für das bezahlen, was du meiner Tochter angetan hast!“

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Ich kannte den Mann auf dem Barhocker. Noch wusste ich nicht woher, aber alles an ihm kam mir irgendwie vertraut vor. Jede seiner Bewegungen, seine Eigenheiten und die Konturen seines Körpers. Noch hatte ich ihn nicht von vorn gesehen, aber ich war mir trotzdem sicher ihn zu kennen. Von meinem Platz aus konnte ich ihn gut beobachten. Er hatte getrunken, viel getrunken, soviel, dass er sich kaum noch auf dem Hocker halten konnte. Seine Arme umschlangen die beiden abgetakelten Fregatten, die sich links und rechts an ihn lehnten. Zum dritten Mal hatte er ihnen nun schon, in kurzer Folge, Drinks spendiert. Sie kreischten und lachten, ohne eigentlich zu wissen warum sie es taten. Zu dumm waren die Sprüche, mit denen der Mann auf dem Hocker um ihre Aufmerksamkeit buhlte.
Ich hoffte darauf, dass sich der Typ endlich herumdrehte, damit ich sein Gesicht sah. Doch er tat mir den Gefallen nicht. Statt dessen pöbelte er nun einen anderen Gast an, der nicht weniger Alkohol intus hatte, als er selber. Die beiden Streithähne sprangen auf und gerieten schnell aneinander. Der Hocker meines vermeintlich Bekannten kippte nach hinten und krachte scheppernd zu Boden. Mir war klar, dass sich die Beiden jeden Moment an den Kragen gehen würden. Die beiden Bordsteinschwalben kicherten nicht mehr und suchten das Weite. Ich erhob mich von meinem Platz und ging auf die Streithähne zu. Doch noch ehe ich sie erreicht hatte, wurde der Mann, den ich zu kennen glaubte, von einem Schwinger schwer getroffen. Er stolperte mir, mit dem Rücken voraus, genau in die Arme. Als er laut schimpfend seinen Kopf drehte und ich ihn endlich von vorn sah, erschrak ich fast zu Tode. Ich blickte in mein eigenes Gesicht.
Ich hatte den Mann gesehen, der wahrscheinlich aus mir geworden wäre, wenn ich Trixi nicht getroffen hätte. Schweißgebadet, mit einem gehörigen Schreck in den Gliedern erwachte ich aus meinem Traum und sah mich irritiert in der Wohnung um. Ich war allein. Klar, Trixi war nicht da und sie hatte Romy und Sandy mitgenommen. Aber es war unsere Wohnung und vor dem großen Panoramafenster am Fußende des Bettes tauchte die aufgehende Frühlingssonne die allmählich erwachende Wesermetropole in ein goldenes Licht. Ein neuer Tag hatte begonnen und ich war immer noch der Alte.
Ich schob mein schockierendes Erlebnis auf das reichhaltige Essen, welches mir am Abend zuvor von meinem italienischen Freund Angelo serviert worden war. Die Möglichkeit, dass der dabei genossene Alkohol eine Mitschuld an meinen Fantasien gehabt haben könnte, schob ich weit von mir. Immer noch etwas benommen, schielte ich auf die Ziffern des neben dem Bett stehenden Radioweckers. Es war 8 Uhr. In zwei Stunden begann mein Bereitschaftsdienst. Ich hatte also noch genügend Zeit, um mich in aller Ruhe fertig zu machen.
Auf dem Weg zum Präsidium dachte ich für einen Moment lang neidisch an meine Kollegen, die sich ein schönes Wochenende machen konnten. Aber dann musste ich der Fairness halber eingestehen, dass mir beide den Rücken frei gehalten hatten, damit ich mich während der letzten Wochen meiner bevorstehenden Vaterschaft mehr um Trixi kümmern konnte. Sie hatten sich dieses freie Wochenende wahrlich verdient.
Wie immer stellte ich meinen Wagen auf dem Parkplatz des Innenhofes ab. Bevor ich ausstieg, fiel mein Blick auf die Fotos von Romy und Trixi. Sie lächelten mir aus einem Rahmen, der am Armaturenbrett klebte, freundlich zu. Ich atmete noch einmal tief und quälte mich schließlich aus der Blechkarosse ins Freie. Erst jetzt bemerkte ich, wer inzwischen neben meinem Wagen geparkt hatte. „Hallo, Mike,“ begrüßte mich mein alter Freund, der Leiter der Spurensicherung, Kommissar Hans Stockmeier. Genau wie ich war der Kollege an diesem Wochenende zum Bereitschaftsdienst eingeteilt.
Ich war erfreut ihn zu sehen, denn falls es Arbeit gab, konnte ich mir keinen besseren Kriminaltechniker an meiner Seite wünschen. Hans und ich hatten bereits eine Vielzahl von Verbrechen gelöst. Ich schätzte seine solide und zuverlässige Arbeit ganz besonders. Der bereits ergraute Mann von Mitte fünfzig Jahren, war eine stattliche Erscheinung. Mit seinem akkurat gepflegten Schnurrbart hatte er etwas von einem schottischen Schlossherrn.
„Willst dir wohl auch mal wieder das Wochenende um die Ohren schlagen,“ seufzte er, während er eine Aktentasche von der Rücksitzbank seines Daimlers angelte. „Vielleicht wird es halb so schlimm,“ hoffte ich. „Edda und Aron haben Urlaub. Ich muss also allein die Stellung halten.“ Hans legte seine Hand auf meine Schulter. „Notfalls hast du ja auch noch Lutz und mich.“ Ich lächelte gequält zurück.
Auf meinem Schreibtisch stapelten sich immer noch ein ganzes Teil von ungeklärten Mordfällen, die wir in den vergangenen Tagen auf eine mögliche Aufklärung durch neue Methoden bei der Genforschung überprüften. Ein Berg von verstaubten Akten, der den meisten Platz auf meinem Schreibtisch ausfüllte. Fürs erste versuchte ich ihn zu ignorieren und kochte mir stattdessen einen Kaffee. Irgendwann klemmte ich mich dann doch hinter den Aktenberg und zog mir wahllos einen der Fälle heraus.
Es ging um einen Fall, der inzwischen schon acht Jahre zurück lag. Gerd Kretzer, damals noch mein Chef und Leiter der Mordkommission 2, musste einen sehr tragischen Fall bearbeiten. Ein neunjähriges Mädchen war das Opfer eines Mordes wurden. Der Täter hatte das arme Ding vor ihrem Tode brutal missbraucht und schließlich in einem Waldstück bei Vegesack verscharrt. Da das Opfer erst Wochen später von Spaziergängern entdeckt wurde, gab es durch Wildfrass, und Witterungseinflüsse keinerlei verwertbare Spuren mehr. Bei der Obduktion des Mädchens konnte allerdings ein Abstrich aus dem Vaginalbereich sichergestellt und konserviert werden. Mit der neuen DNA Technik würde es selbst nach einer derart langen Zeit noch möglich sein, einen genetischen Fingerabdruck zu erstellen. All jene Personen, die damals mit dem Mädchen in Berührung kamen, können dann zu einem freiwilligen Speicheltest herangezogen werden. Die Erfolgsaussichten den Täter in diesem Umfeld zu ermitteln, liegt bei erschreckenden 80 Prozent.
Ich studierte also die Akte der kleinen Jasmin Gruber, machte mir Notizen und erfasste all jene, die meiner Ansicht nach für einen solchen Test in Frage kamen. Gottlob hatte Gerd den damaligen Fall in allen Einzelheiten zu Papier gebracht. Aber etwas anderes hatte ich ohnehin nicht erwartet. Stundenlang saß ich über der Akte, trank meinen Kaffee und bemerkte dabei überhaupt nicht wie die Zeit verging. Als ich aufsah, dämmerte es draußen bereits wieder. Mit einem Blick auf das Telefon vergewisserte ich mich noch einmal, dass der Hörer tatsächlich korrekt aufgelegt war. Ich hatte wirklich keinen einzigen Anruf erhalten.

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Es war Nachmittag, als sich Harald Wendland von dem völlig verwühlten Sofa wälzte. Die Gardinen waren immer noch zugezogen und die Luft in dem kleinen Wohnzimmer stank nach abgestandenem Bier und Zigarettenqualm. Bis tief in die Nacht hatte er in die Flimmerkiste geglotzt und es sich gut gehen lassen. Dabei war es ihm ziemlich egal, was seine Oma von ihm dachte. Im Gegenteil, es war ihm ein besonders Vergnügen, sie wie eine Dienstmagd zu behandeln. Sie mit immer neuen Wünschen zu gängeln. Irgendwann konnte und wollte die alte Dame nicht mehr. Sie verschwand still und leise in ihrem Schlafzimmer, ohne sich weiter um ihren missratenen Enkel zu kümmern. Es war das erste Mal, dass sie sich wieder einschloss. Das erste Mal, seitdem Harald bei ihr ausgezogen war.
Der ungepflegte Mann mit dem Pagenschnitt und den eigentümlich langen Koteletten stieß beim Aufstehen an den Wohnzimmertisch. Scheppernd kippten einige Flaschen um. Er achtete nicht weiter darauf. Selbst das nur spärlich, durch den geschlossenen Vorhang, eindringende Tageslicht blendete ihn. Er blinzelte aus schmalen Sehschlitzen und tastete sich denn mehr zur Tür hin, als dass er sie wirklich gesehen hätte. Es war seine Blase, die ihn dazu trieb, seine Bettstadt zu verlassen.
Gerlinde saß starr vor sich hinschweigend am Küchentisch. Obwohl psychisch am Ende, hatte sie während der Nacht kein Auge zugetan. Nicht einmal als sie hörte, wie im Nebenraum die Flaschen klirrten, schreckte sie auf. Durch die geriffelte Glasscheibe im oberen Teil der Tür, sah sie ihn vorbeihumpeln, doch ihr Blick blieb starr, so, als nehme sie gar nicht wahr, was sie sah.
Minuten später - an der Haltung der alten Dame hatte sich zwischenzeitlich nichts geändert - flog unvermittelt die Küchentür auf und krachte scheppernd gegen die Wand. Gerlinde schreckte hoch. „Was ist, gibt es nichts zu essen?“ Harald stand, nur mit seiner Unterhose bekleidet, im Rahmen der Tür und glotzte seine Oma herausfordernd an. „Ich muss sagen, der Service war hier früher besser.“ Die alte Dame antwortete ihm nicht. „Sind meine Klamotten wenigstens fertig?“, fragte er vorwurfsvoll weiter.
Gerlinde deutete wortlos auf einen Küchenstuhl, der vor dem bullernden Beistellherd stand. Über der Rückenlehne hing seine noch feuchte Hose zum Trocknen. Auf einer Zeitung, neben dem Stuhl, standen seine Stiefel. Auch sie waren wieder blitzblank gewienert. Sein Hemd hing über einem Bügel, den die alte Frau an einen Haken über den Herd gehängt hatte. Erst jetzt fiel sein Blick auf die Sitzfläche des Stuhles und seine schroffen Züge bekamen eine weiche Nuance. Er grinste und in seinen gierigen Augen funkelte es, denn er sah einige Geldscheine, die wie ein bunter Fächer übereinander lagen. Es waren die letzten Ersparnisse einer gezeichneten Frau. Ihr Notgroschen für schlechte Zeiten.
„Deine Sachen sind trocken. Nimm das Geld hin und verschwinde. Ich bete zu Gott, dass ich dich niemals wieder sehe.“ Haralds Finger grapschten hastig nach den Scheinen. Er warf einen abschätzenden Blick darauf, knickte das Bündel einmal in der Mitte und stopfte es in eine der Gesäßtaschen seiner Hose. „Ich wusste doch, dass du noch nicht pleite bist, Omilein.“ Dann stieg er in die Hose und riss das Hemd vom Bügel. Als er sich bückte, um die Stiefel von der Zeitung zu nehmen, fiel sein Blick auf die Schlagzeile, der darunter liegenden Zeitung. „Der unheimliche Pferderipper schlug wieder zu “.
Es war wie ein Geistesblitz, der ihn in diesem Moment durchzuckte. Er stellte die Stiefel bei Seite und nahm die Zeitung auf. Interessiert faltete er sie weiter auseinander und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Dann las er eifrig, was unter den fett gedruckten Lettern geschrieben stand. Gerlinde ertrug es nicht länger, sich mit ihrem Enkel in einem Raum aufhalten zu müssen. Angewidert wandte sie sich ab und ließ ihn allein. Sie ging hinüber in ihr Wohnzimmer. Zog die Gardinen auf und öffnete das Fenster. Der Gestank war noch immer unerträglich. Sie hob die leeren Flaschen vom Fußboden auf und räumte auch den Tisch ab. Irgendwann vernahm sie erleichtert, wie die Haustür zuklappte.

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Trixi und ihre Freundin hatten einen ereignisreichen Tag hinter sich gebracht. Nachdem Trixi ihre anfängliche Angst vor Nenas Friesen überwunden hatte, klappte es mit jeder Minute, in der sie im Sattel saß, besser und besser. Am Nachmittag kam es ihr fast schon so vor, als hätte sie nie mit dem Reiten aufgehört. Natürlich konnte sie sich längst nicht mit Nenas Reitkünsten messen, dafür fehlte es ihr noch an der nötigen Sicherheit und dem Gleichklang der Bewegung, einer Harmonie die Pferd und Reiter nach einer gewissen Zeit verbinden. Aber wie sollte sie auch, wo ihr nicht einmal ein halbes Pferd gehörte.
Für den nächsten Tag hatten sie bei Burghardt Morgentau, dem Besitzer des Reiterhofes, ein besonders liebenswertes Pferd für einen gemeinsamen Ausritt bestellt. Zu diesem Zweck hatten sie sich auch mit Tommy verabredet, der den Mädchen die schönsten Flecken der Umgebung zeigen wollte. Trixis Reitunterricht war nur deshalb in diesem Umfang möglich, weil sich Katja, die Küchenhilfe, rührend um unsere Tochter kümmerte. Auch Sandy war auf ihre Kosten gekommen. Die drei jungen Terrierhunde des Besitzers hatten sie den ganzen Tag lang unter Beschlag genommen.
Während Nena den geduldigen Wotan nach seinem arbeitsreichen Tag gefüttert, abgerieben, gestriegelt und mit Streicheleinheiten verwöhnt hatte, kümmerte sich Trixi um unsere Tochter.
„Na, alles in Ordnung?“, fragte Nena ihre Freundin, als sie sich zum Abendessen im Westernrestaurant trafen. Trixi deutete auf das mitgebrachte Babyfon. „Hörst du etwas?“ Nena schüttelte den Kopf. „Romy war so fertig, dass sie mir direkt beim Windeln einschlief.“ „Sicher die gute Landluft,“ mutmaßte Nena. „Das kann schon sein,“ gab ihr Trixi recht. „Wenn man bedenkt, wo Katja die Kleine auch überall herumgefahren hat. War schon eine prima Idee von dir, Nena.“ „Ja, ohne die Gute hätten wir sicher halb so viel Zeit zum Reiten gehabt. Du hattest Glück, dass sie an diesem Wochenende frei hat.“ „Warum wohnt sie eigentlich hier auf dem Reiterhof?“, erkundigte sich Trixi. „Soviel ich weiß, war sie vor ein paar Jahren als Aupair Mädchen in die Familie des Besitzers gekommen und ist geblieben. Sie stammt eigentlich aus Belgien.“ „Das hätte ich nicht gedacht. Ihr Deutsch ist nicht schlechter als unseres,“ lobte Trixi anerkennend.
Draußen, auf dem großen Hof des Anwesens gingen bereits die Laternen an. Graue Wolken verdunkelten den Himmel. Der Abend hielt Einzug in Wölpsche. Die letzten Reiter kehrten von ihren Ausritten zurück und versorgten ihre Pferde. Die Frauen unterhielten sich über die am nächsten Tag bevorstehende Exkursion in die Umgebung. Gerade als Nena aus dem Fenster sah, führte Tommy Wotan über den Hof. Er hatte sich angeboten, das Pferd über Nacht mit auf die Weide und am nächsten Morgen wieder mit zurück zu bringen. Als er die beiden Frauen hinter der Fensterscheibe entdeckte, winkte er ihnen lächelnd zu. Sie sahen dem jungen Mann nach, bis er mit dem Pferd hinter den Bäumen und Sträuchern verschwand, die den Weg zur Weide säumten.
„Was ist eigentlich mit Tommy? Wohnt der auch hier auf dem Reiterhof?“, fragte Trixi interessiert, während sie ihnen nachschauten. Nena verzog ihre Nase. „Tja, weißt du, mit Tommy ist das so eine Sache. Ich habe mal gehört, dass er Drogen genommen haben soll, bevor er durch eine Sozialarbeiterin eine Therapie machte und dann zu den Morgentaus kam.“ Trixi wog nachdenklich den Kopf. „Ein netter Junge. Hoffentlich bleibt er clean.“ „Stimmt,“ pflichtete ihr Nena bei. „Um den wäre es wirklich Schade.“ „Er scheint ein gutes Händchen für Pferde zu haben.“
Sandy schnellte unvermittelt hoch und sah sich hektisch um. „Was ist denn mit deinem Hund los?“ Trixi streichelte die Hündin abwartend zwischen den Ohren und folgte ihren Blicken. „Keine Ahnung, aber sie scheint unruhig zu sein. Vielleicht spürt sie irgend etwas.“ „Tiere haben den siebten Sinn,“ merkte Nena an. „Die wittern es, wenn etwas schreckliches bevorsteht.“ Trixi sah ihre Freundin verwundert an. „Meine Güte, du kannst einem ja richtig Angst machen.“ Nena zog die Stirn in Falten. „Das ist noch gar nichts. Du hättest mal hören sollen, was mir meine Oma für haarsträubende Geschichten erzählt hat, wenn ich sie in den Winterferien besucht habe.“ „Du hast mir nie von einer Oma erzählt,“ wandte Trixi augenzwinkernd ein. „Na ja, sie wurde zum Schluss etwas wunderlich. Aber fest steht, dass, wann immer ein Familienmitglied stirbt, fällt eine Topfblume aus der Fensterbank der Hinterbliebenen.“ „Aber jetzt willst du mich eindeutig auf den Arm nehmen.“ Trixi sah ihrer Freundin tief in die Augen. Doch die blieb ernst und von einer inneren Besorgnis erfüllt, die nun auch von meiner Lebenspartnerin Besitz ergriff.“
Obwohl sich Sandy inzwischen beruhigt hatte und sie es sich wieder zwischen den Tischbeinen bequem gemacht hatte, war es jetzt Trixi, die sich nervös umblickte. „Irgendwie läuft mir eben ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. Ich habe einfach keine Ruhe mehr. Bitte nimm den Hund für einen Moment. Ich gehe erst einmal hinauf und sehe nach Romy.“ Nena nickte stumm. Es lag plötzlich eine seltsam bedrückende Atmosphäre in der Luft.

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Der Friese schien irgend etwas gehört zu haben, was nicht an diesen Ort passte. Wotan scheute etwas und hielt dann aufmerksam den Kopf in den Wind. Tommy stoppte ebenfalls und zog das Halfter etwas straffer zu sich heran. „Ist ja gut, mein Junge.“ Dann klopfte und streichelte er dem Friesen beruhigend den Hals. „Braver Junge. Aber da ist nichts.“ Doch Tommy lebte lange genug mit den intelligenten Vierbeinern zusammen, um zu wissen, dass sie nicht umsonst scheuten. Immer wieder sah er sich nach etwas außergewöhnlichem um, doch er konnte nicht erkennen, was Wotan aufhorchen ließ. Tommy dachte an einen ausgewilderten Hund oder an einen tollwütigen Fuchs. Diese Tiere verhielten sich alles andere als normal, sie liefen nicht vor größeren Tieren oder dem Menschen davon, sondern waren, sofern sie der Hunger trieb, schlicht auf Beute aus.
Einen Moment lang blieben sie noch stehen. Wotans Halfter immer noch straff gespannt, verharrten Pferd und Reiter in absoluter Ruhe. Tommy lauschte angespannt in den kleinen Wald hinein und beobachtete das auf der anderen Seite des Weges gelegene Sumpfgebiet, welches direkt in das sogenannte Wölpscher Moor überging. „Na, Junge, ich glaube, du hörst schon das Gras wachsen.“ Mit diesen Worten zog er das Halfter mit sich und das ungleiche Paar setzte seinen Weg in Richtung Weide fort.
Sie hatten die Koppeln beinahe erreicht, als Tommy monotones Hämmern von Discomusik hörte. „Also, das hast du vorhin gehört,“ schlussfolgerte er erstaunt. „Aber die Musik kennst du doch. Das ist sicher der Player von Corinna. Du weißt doch, dass die pubertäre Ziege nicht ohne ihre Mucke ausreitet. Aber ich verstehe dich schon, mein Junge, mein Geschmack ist sie auch nicht - und damit meine ich sowohl die Musik als auch die Kleine. Aber das bleibt unter uns Männern - okay?“ Wotan wieherte nicht, aber für Tommy war es klar, dass der Wallach ihn verstanden hatte.
„Ich schätze, du möchtest der Lady auch nicht begegnen,“ sagte der genervte Stallbursche und zog das Pferd, ohne die Antwort seines vierbeinigen Begleiters abzuwarten, vom Weg herunter. Etwas Abseits verharrten sie im Dickicht und warteten, bis der Teenager an ihnen vorbei gegangen war. Es waren nicht mehr als 400 Meter, die Weide und Reiterhof von einander trennten, aber vor allem in der Dämmerung war der Gang von den Weideflächen zurück zum Hof, besonders für die weiblichen Reiter nicht ungefährlich. Vielleicht hatte Corinna auch deshalb immer ihren Musik Player dabei.
Endlich angekommen, band Tommy den Wallach am Zaun an und öffnete das Gatter. Wieder tippelte Wotan unruhig von den Vorder- auf die Hinterläufe. Diesmal waren es jedoch die Stuten auf der Nachbarkoppel, die ihn in Aufregung versetzten. „Tja, mein Junge, ich kann dich ja gut verstehen,“ sagte Tommy mitfühlend, als er Wotans begehrliche Blicke bemerkte. „Aber so leid es mir tut, diese Weide ist für dich tabu.“ Es schien, als habe der Friese die Worte des Stallburschen verstanden. Er senkte seinen Kopf und stupste Tommy an der Schulter. So, als wolle er den Jungen damit auffordern, beide Augen zuzudrücken. Tommy lachte und rieb dem Wallach zärtlich zwischen den Augen. „Ne, ne, mein Alter, daraus wird nichts. Ich komme in Teufels Küche, wenn ich dich zu den Stuten lasse.“ Unbeirrt zog er das Halfter an und führte Wotan auf die Nachbarkoppel zu den anderen Pferden.

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Seit etwa einer Stunde lag die dunkel gekleidete Person auf der Isomatte und beobachtete durch ein Fernglas was auf der, etwa 100 Meter vor ihr, in nordöstlicher Richtung, gelegenen Weide, vor sich ging. Zunächst hatte sie eine junge Frau bemerkt, die, zu ihr ungeliebten Klängen, ein Pferd auf der Koppel abstellte. Zumindest handelte es sich um eine besonders schöne Stute.
Es würde die erste Nacht sein, die jene Gestalt an dieser abgelegenen Weide verbrachte. Sie war für ihre Zwecke wie geschaffen. Soweit sie es bereits nach so kurzer Zeit beurteilen konnte, hielten sich die Tiere meistens im vorderen Teil der Koppel auf. Dies schlussfolgerte sie aus den vielen Hufabdrucken, die an dieser Stelle zu sehen waren. Es gab einen großen Unterstand, in dem ausreichend Platz für alle Pferde war.
Die Person setzte für einen kurzen Moment das Fernglas ab, rollte sich auf den Rücken und schüttelte ihre müden Arme aus. Sie schmerzten bereits ein wenig. Schließlich goss sie sich einen Schluck heißen Tee aus der mitgebrachten Thermoskanne in den Becher und trank genüsslich. Sofort darauf setzte sie das Fernglas erneut an. Sie sah, wie sich die junge Frau wieder von der Weide entfernte. Kurz darauf beobachtete die Gestalt einen Mann, der seinen Wallach auf der Nachbarkoppel abstellte. Zu ihrer Verwunderung verschwand der Mann in dem Unterstand. Die unbekannte Person stellte das Glas schärfer ein und lies dass anvisierte Ziel nicht mehr aus den Augen, bis die einsetzende Nacht jegliche Konturen verschluckte.
Der Mann hatte den Unterstand immer noch nicht wieder verlassen. Auch dies erlebte die unbekannte Person nicht zum ersten Mal. Es war die Angst vor dem Pferderipper, die einige Besitzer zu diesem Schritt veranlasste. Nichts ungewöhnliches und auch nicht weiter störend. Bereits nach einigen Nächten waren die Tiere wieder allein auf der Weide. Man konnte sie nicht ewig bewachen. Die dunkle Gestalt packte ihre Sachen zusammen, um den recht gut versteckten Beobachtungsposten zu verlassen. In dieser Nacht würde sie in ihrem Vorhaben ohnehin nicht näher kommen.
Gerade als die Person ihre Matte zusammenrollte, vernahm sie in nur kurzer Entfernung das Knacken eines Astes. Die Gestalt sah sich nach allen Seiten um. Doch es war bereits zu dunkel, um noch etwas zu erkennen. Irgend etwas war nur wenige Meter hinter ihr und was immer da auch war, es kam näher und näher. Die Gestalt warf sich auf den Boden und verharrte so geräuschlos wie möglich.
Der Schein einer Taschenlampe flackerte zwischen den Bäumen hindurch. Jetzt konnte die am Boden kauernde Person einen Mann mit Parka erkennen. Der Mann geriet ins Straucheln. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe traf für den Bruchteil einer Sekunde das eigene Gesicht. Trotz der, bis weit über die Stirn gezogen Kapuze, konnte die am Boden liegende Gestalt seine Züge deutlich erkennen. Sie presste sich noch tiefer in den Mondschatten. Der Lampenschein streifte sie fast und entfernte sich sogleich wieder. Die Schritte des Mannes bebten über den mit Moos bewachsenen Waldboden. Sie kamen näher, waren jetzt direkt neben ihr. Die Person hielt den Atem an. Ihre Finger umklammerten den Griff einer Machete, deren Klinge noch in einer Lederhülle steckte. Keine zwei Hand breit neben ihr blieb der Kapuzenmann stehen und leuchtete die Umgebung ab. Sekunden wurden scheinbar zu Stunden. Muskeln und Sehnen der am Boden Kauernden spannten sich mehr und mehr an. Mit jedem Wimpernschlag konnte die Situation eskalieren. Endlich setzte der Mann seinen Weg fort. Das Leuchten seiner Lampe zog eine gerade Linie, hinüber zu den Pferdekoppeln.
Die unbekannte Gestalt erhob sich zögernd. Die Neugier veranlasste sie, dem Mann mit dem Licht zu folgen. Den Lederriemen, der die Machete in dessen Schaft sicherte, hatte sie inzwischen gelöst. Nur das dürftige Mondlicht, welches hin und wieder zwischen den Baumwipfeln hindurch auf den Waldboden traf, wies ihr den Weg. Immer wieder peitschten ihr, die mit spitzen Nadeln besetzten Zweige der Tannen ins Gesicht. Aber hier konnte sie einigermaßen sicher sein, nicht entdeckt zu werden.
Plötzlich hatte sie den Kapuzenmann direkt vor sich. Sie duckte sich hinter eine noch kleine Tanne und beobachtete, was keine zehn Meter von ihr entfernt vor sich ging. Der Mann hatte die Weide erreicht. Erst jetzt bemerkte die Gestalt die Lanze, die der Mann mit sich trug. Sie konnte kaum glauben, was sie sah. Der Mann öffnete das Gatter der Koppel. Selbsttätig schloss es sich hinter ihm wieder. Dann ging er ohne sich weiter darum zu kümmern, auf den Unterstand zu, in dem einige Stuten Schutz suchten.
Von seinem Standort aus konnte die unbekannte Person genau in das Innere des Holzverschlages sehen. Wollte sich der Typ mit der Lanze hier mit dem anderen Kerl treffen, den die Gestalt hinter der Tanne bereits zuvor beobachtet hatte? Sekunden später erhielt sie die Antwort auf ihre Frage. „Wenn du glaubst, dass du mich mit einer derart albernen Kostümierung erschrecken kannst, Nena, dann hast du unsere kleine Wette schon verloren,“ rief einer der Männer aus dem Unterstand. Im selben Augenblick gellte ein markerschütternder Schrei durch die Dunkelheit des Waldes. Die Pferde verließen panisch den Unterstand. Der Mann im Parka hatte blitzschnell die Lanze herumgerissen und ohne Vorwarnung zugestoßen. Der Andere griff sich an den Bauch, starrte ungläubig mit schmerzverzerrtem Gesicht in das Licht der Taschenlampe und sackte in sich zusammen.
Der Kapuzenmann beugte sich zu seinem Opfer herab. Er sagte etwas zu ihm und suchte das Weite. Am Gatter jaulte er unvermittelt auf, besah sich fluchend seine Hand und wickelte ein Taschentuch darum. Dann eilte er auf dem Weg davon, der zum Reiterhof führte.