-1-
„Die Zügel etwas lockerer lassen! Du nimmst ihr ja die Luft zum Atmen.“ Tanja reagierte sofort. Das letzte, was sie wollte, war es ihrer Diana weh zu tun. Diana war eine dreijährige Holsteiner Stute, die sie erst seit drei Monaten besaß. Tanja hatte sie zum sechzehnten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen. Bisher hatte sie sich mit einer Reitbeteiligung begnügen müssen und es deswegen mit dem richtigen Reiten, nicht so genau genommen. Doch nun, da sie ihr eigenes Pferd hatte, wollte sie alles richtig machen. Zu diesem Zweck nahm sie nun einige Reitstunden.
„Halt
dich gerade im Sattel! Du musst mit dem Tier eins werden. Arbeite mit deinem
Pferd zusammen und nicht dagegen.“ Der Besitzer des Reiterhofes war auch
gleichzeitig Reitlehrer. Ein erfahrener, verständnisvoller Mann Mitte vierzig.
Tanja schätzte ihn wegen seiner ruhigen Art und weil er ihr das Gefühl
gab, erwachsen zu sein. Ganz anders als ihr Vater, der sie immer noch wie ein
Kind behandelte. Dabei war sie schon lange nicht mehr sein kleines Engelchen,
wie er sie noch immer nannte. Ihr letzter Freund war immerhin acht Jahre älter
als sie gewesen. Klar, dass der sich nicht allein mit Händchenhalten zufrieden
gab. Aber das durfte ihr Vater, der vielbeschäftigte Programmierer einer
Computerfirma auf keinen Fall wissen. Dies und so manch anderer Gedanke ging
Tanja im Moment durch den Kopf.
Erst vor einer Woche hatte sie sich von dem Studenten für Betriebswissenschaften
getrennt. Seine Eifersuchtszenen waren ihr einfach unerträglich geworden.
Anfänglich fühlte sie sich noch irgendwie geschmeichelt, aber in der
letzten Zeit hatten diese Ausbrüche an Häufigkeit und Intensität
zugenommen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war seine
Eifersucht auf Diana. Es war ihm ein Dorn im Auge gewesen, dass sie an jedem
Nachmittag ihre Stute besuchte. Sie hätte überhaupt keine Zeit mehr
für ihn, hielt er ihr immer wieder vor. Mit jedem zweiten Satz spräche
sie von ihrem Pferd, beschwerte er sich und überhaupt habe sie sich ihm
gegenüber sehr zu ihrem Nachteil verändert.
Zu diesem Zeitpunkt wäre sie immer noch zu einem Kompromiss bereit gewesen.
Sie wollte ihm vorschlagen sich nur noch an jedem zweiten Tag um das Pferd zu
kümmern. Doch als er sie knallhart vor die Wahl stellte, war ihr natürlich
nichts anderes übrig geblieben, als sich für Diana zu entscheiden.
„Wenn du weiterhin wie ein Stockfisch im Sattel sitzt,“ bellte Burkhard
Morgentau in das Dressurviereck, „dann wirst du heute abend jeden Knochen
deines Rückens einzeln spüren.“ Tanja verdrehte die Augen. Sie
wusste, dass der Mann jenseits der Bande recht hatte. Aber musste er es ihr
so deutlich sagen? Er winkte Tanja zu sich und sah ihr mit hoch gezogenen Brauen
nachdenklich in die Augen. „Du und Diana müsst eins werden,“
erklärte er nun wieder etwas geduldiger. Er seufzte tief „Ihr müsst
miteinander verschmelzen. Das Gefühl füreinander bekommen. Es ist
klar, dass dies nicht von heute auf morgen geht, aber wenn du mit deinen Gedanken
nicht bei der Sache bist, werdet ihr dieses Feeling auch nächstes Jahr
nicht erleben.“ Tanja verzog ihr hübsches Gesicht zu einer theatralischen
Maske. „Ich hätte halt von Anfang an Reitunterricht nehmen sollen.
Es ist eben nicht das gleiche, wenn einem Freunde mal eben so zeigen, wie man
sich auf einem Pferd halten kann.“
Burkhard lächelte mild. „Na, noch ist ja nicht alles verloren. Tanja
nickte betreten. Sie lenkte ihre Stute noch einmal in den mit Sand aufgefüllten
Viereck zurück und ließ Diana traben. Die Zügel hielt sie nun
weniger kurz und ihr Rücken schien nicht mehr ganz so steif durchgedrückt
zu sein, aber mit ihren Gedanken war sie immer noch ganz woanders.
-2-
„Warum
kommt denn das entzückende junge Mädchen nicht mehr zu dir? Wie hieß
sie doch gleich? Ich vergesse immer wieder ihren Namen. Wie hieß sie doch
gleich?“ Der junge Mann, an ihrer Seite sah die alte Dame genervt an.
„Tanja!“, zischte er. „Sie heißt Tanja! Wie oft soll
ich es dir noch sagen!“ Seine Stimme war schroff und hart. Die alte Frau
ignorierte es. Sie sah ihren Enkel entschuldigend an und legte ihre Stirn in
noch tiefere Falten. „Ja, ja, man wird alt.“ Der Mann mit dem Pagenschnitt
und den eigentümlich langen Kotletten sprang von der kleinen Bank auf,
die vor dem Haus stand und umrundete den davor stehenden Holztisch, auf dem
der Aschenbecher stand. Er stellte sich so vor den Tisch, dass er der alten
Frau nun genau gegenüber stand. Dann beugte er sich vor und stemmte seine
Arme auf die Tischplatte, um seiner Oma in die Augen sehen zu können. „Was
ist nun mit dem Geld?“, fragte er demonstrativ. „Ich brauche es
noch heute - unbedingt.“
Die alte Frau sah ihn entsetzt an. Zwar war es nicht das erste mal, dass der
vierundzwanzigjährige Student Geld von seiner Großmutter verlangte.
Doch in der letzten Zeit war es nicht mehr so häufig vorgekommen. Um so
mehr erschrak sie, mit welcher Selbstverständlichkeit er jetzt danach trachtete.
Ihre kleine Rente reichte schon lange nicht mehr aus, um ihren Enkel zu unterstützen.
Längst war sie an ihre Ersparnisse gegangen. Doch allmählich gingen
auch diese zur Neige und sie fürchtete sich vor dem Tag, an dem sie dem
Sohn ihrer verschwundenen Tochter sagen musste, dass sie ihm nichts mehr geben
konnte.
Schon damals, als Fritz, ihr Ehemann, noch lebte, hatte sie dem Jungen öfter
mal etwas Geld zugesteckt. Natürlich war ihr von Anfang an klar, dass sie
mit all der Liebe, die sie ihrem Enkel entgegen brachte, die Mutter nicht ersetzen
konnte. Vielleicht waren es die Schuldgefühle, die sie wegen des Verschwindens
ihrer Tochter plagten. Sicher war es ihre irrige Meinung, das Fehlen der Mutter
auf diese Weise kompensieren zu können. Aber auch mit all ihrer Zuwendung
hatte sie nicht verhindern können, dass aus dem einstmals aufgeschlossenen
Teenager ein introvertierter junger Mann wurde, der auf dem besten Weg war alles
weibliche zu hassen. Den Bezug zur Realität nach und nach vollends zu verlieren.
Doch dann trat jenes junge Mädchen, dessen Namen sie sich einfach nicht
merken konnte, in sein Leben und der Eigenbrödler schien sich allmählich
zu fangen. Einmal hatte er sie seither besucht, um ihr das Fräulein vorzustellen.
Viele Wochen waren seit jenem Tag vergangen. Wochen, in denen Harald und sie
nur gelegentlich miteinander telefonierten. Dass es in diesen Gesprächen
nicht ein einziges mal um Geld ging, ließ sie hoffen. Ihr Sorgenkind schien
sein Glück gefunden zu haben.
„Gibst du mir nun die 500 Euro – oder nicht?“, fragte der
Student zunehmend ungeduldiger. „Ich würde dir das Geld ja geben,
Junge, aber ich habe nicht so viel im Hause.“ Die alte Frau griff in ihre
Kittelschürze und zog mit zittriger Hand das Portmonee hervor. Sie klappte
es auf und wollte gerade hineinsehen, als es ihr Enkel auch schon entriss. „Nicht
mal 200 Piepen,“ herrschte er sie an. „Das ist ja wohl nicht dein
Ernst! Das reicht nicht mal für eine erste Rate.“ Fassungslos starrte
Gerlinde Reuter ihren Enkel an. „Was um Gottes willen hast du denn dieses
mal wieder für einen Blödsinn angestellt?“ Ohne auch nur ein
einziges Wort zu erwidern, nahm der Student sämtliche Geldscheine aus dem
Portmonee seiner Großmutter und warf die Börse achtlos auf den Tisch
zurück. und ging
-3-
Auf einer Weide im Nordwestlichen Niedersachsen.
Seit Stunden
bereits hatte das Dunkel der Nacht Bäume und Sträucher am Rande der
idyllisch gelegenen Weide fest umschlungen. Längst waren die Tiere der
Nacht zum Leben erwacht. Ihre Laute hallten durch gespenstisch anmutende Nebelschwaden,
die nur wenige Zentimeter über den am Tage zuvor von der Frühlingssonne
erwärmten Lehmboden. Mit der Dunkelheit war auch die Kühle der noch
frühen Jahreszeit zurückgekehrt. Die Vampire der Nacht schwebten lautlos
über Erhebungen der Landschaft und den Bauten, die an dieser Stelle von
Menschenhand geschaffen waren.
Es waren Zäune, die eine riesige Weidefläche umfriedeten. Auf ihr
ein Holzverschlag, der den hier unter freiem Himmel befindlichen Pferden bei
schlechtem Wetter als Zuflucht dienen sollte. Nur das gelegentliche Schnauben
eines der in einer Gruppe äsenden Tiere und die Rufe eines Käuzchens,
irgendwo in weiter Ferne, unterbrach gelegentlich die Stille. Dennoch, es war
eine trügerische Ruhe.
Ab und an erhellte das Mondlicht für kurze Zeit die Weide und man konnte
das friedliche Miteinander der Paarhufer beobachten. Sie standen dicht gedrängt,
ganz so, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Es war das Käuzchen,
dass den langsam näher kommenden Geländewagen zuerst bemerkte. Der
Wagen fuhr langsam und ohne Licht. Die Kennzeichen waren mit Matsch und Erde
unleserlich gemacht. Fast könnte man meinen, dass der Vogel spürte,
was der Fahrer im Schilde führte, denn er begann nun häufiger zu rufen.
So, als wollte er die Tiere der Umgebung vor jener dunklen Gestalt warnen. Doch
davon unbeirrt setzte der Fahrer des Geländewagens seinen Weg fort.
Etwa 100 Meter vor der Weide stellte er seinen Wagen ab und stieg aus. Dabei
achtete er peinlich darauf, dass die Fahrzeugtür nicht laut ins Schloss
fiel. Er öffnete die Klappe zum Laderaum und nahm etwas Längliches
heraus. Eine Nachteule beobachtete aus ihrem Versteck, hoch oben in einem Baumwipfel,
wie sich die Gestalt eine Taschenlampe einsteckte, die Klappe wieder geräuschlos
schloss und sich auf den Weg zur Weide machte.
Der Unbekannte schien sich in dieser Gegend bestens auszukennen. Zielstrebig
steuerte er auf den Unterstand zu, in dem er die Pferde vermutete. Schon seit
einiger Zeit, bei Tags und auch des Nachts, hatte er die Tiere, aber auch die
Umgebung beobachtet. Erst als er sicher war, in dieser Nacht seinen Trieben
ungestört nachgehen zu können, hielt ihn die Vorsicht nicht länger
zurück. Zwanghaft zogen ihn die Tiere in seinen Bann, lechzte er danach
der Herr über Leben und Tod zu sein.
Seine abnormen Phantasien suggerierten ihm tiefrote, blutige Bilder, die sich
vor seinem geistigen Auge in pure Erotik verwandelten. Wollüstige Schauer
durchströmten seinen zuckenden Körper, brachten ihn in Ekstase, forderten
ihn auf endlich sein perfides Spiel zu beginnen. Die Gestalt kletterte über
die Holzplanken des Zaunes, bückte sich unter dem, mit Gleichstrom geladenen
Elektrodraht hindurch und schlich auf den Unterstand zu. Für einen kurzen
Augenblick, nicht länger als ein einziger Atemzug erhellte der Mond die
Szenerie. Ein Moment, der dem Unbekannten ausreichte, um festzustellen, dass
die Pferde nicht wie gewohnt im Unterstand waren.
Er zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen und sah sich irritiert um. Wieder
kam ihm zwischen dunklen Wolken aufblitzendes Mondlicht gelegen. Er entdeckte
die kleine Herde am östlichen Ende der Weide, unter einem Baum. Auch wenn
ihm die neue Situation alles andere als vorteilhaft erschien, so gab es für
ihn nun aber auch kein Zurück mehr. Zu weit waren die Gefühle in ihm
bereits gegoren, zu stark war das Verlangen danach, seine Lust zu befriedigen.
Die Gier, seine sexuellen Phantasien endlich zu erleben, zog ihn magisch an.
Er wusste, dass ihn die Pferde längst bemerkt hatten. Aber er wusste auch
wie aufgeschlossen und neugierig sie gegenüber ihrem besten Freund, dem
Menschen, waren. Er hatte keine Skrupel dies schamlos auszunutzen. Er öffnete
langsam das Gatter und betrat die Koppel. Langsam, jede hektische Bewegung vermeidend,
ging er in normal, aufrechter Haltung auf die Tiere zu. Näher und näher.
Immer dann, wenn das Mondlicht zwischen den Wolken hindurch drang und ihn zu
verraten drohte, verbarg er die Waffe, die er mit sich führte hinter seinem
Rücken. Er wusste, dass die intelligenten Tiere ihn ganz genau beobachteten.
Er kam ihnen näher und näher, bis er schließlich den Atem der
eleganten Vierbeiner hören konnte. Einen Augenblick wollte er noch an ihrem
Anblick erfreuen, wollte noch diesen hoch stimulierenden Augenblick auskosten,
ehe er geschehen ließ, weshalb er an diesen Ort gekommen war.
Er hatte sich eine Stute für sein martialisches Vergnügen ausgewählt.
Muskeln und Sehnen spannten sich, waren kurz vor dem Zerreißen. Die Lanze
in der einen, seine Machete in der anderen Hand schoss er plötzlich auf,
sprang aus dem Schutz der Dunkelheit, einem Puma gleich, auf das anvisierte
Pferd zu und stieß, die von ihm eigens zu diesem Zweck präparierte
Lanze, dem Tier in den Hals. Er wollte sein Opfer zunächst fluchtunfähig
machen. So, wie schon viele Male vorher.
Er zog die Lanze zurück. Sein wirrer Blick hielt nach dem nächsten
Opfer Ausschau. Doch dieses mal hatte er Pech. Die anderen Tiere hatten früh
genug panikartig die Flucht ergriffen. Der irre Pferderipper stieß einen
Fluch aus und widmete sich wieder der Stute. Seine Finger umkrampften die mitgebrachte
Machete, dann stach er gezielt zu und vollendete sein wahnsinniges Werk.
-4-
„Nein,
nein, fahr ruhig, Trixi. Ich finde es gut, dass du deine alte Freundin Nena
mal wieder besuchen willst.“ Meine Traumfrau sah mich mit diesem Augenaufschlag
an, dem ich einfach nichts entgegenzusetzen habe. Es wurde mir jedes Mal ganz
anders, wenn sie mich so ansah. Gottlob ahnte sie nichts davon. „Und es
macht dir wirklich nichts aus, wenn ich mit Romy über Nacht weg bleibe?“
„Aber nein, die Landluft wird unserem kleinen Sonnenschein sicher gut
tun. Macht euch einfach mal ein schönes Wochenende da draußen. Nur
eins musst du mir fest versprechen.“ Ich machte eine bedeutungsvolle Pause.
Trixi sah mich erwartungsvoll an. „Wenn du eines dieser riesigen Tierchen
erklommen hast, schnallst du dich bitte an, bevor ihr losreitet.“ Genervte
Blicke trafen mich. „Ha, ha!“ „Was denn, auf diesen Dingern
gibt es keine Gurte?“ Funken sprühten. „Treib es nicht zu weit,
Mike Winter! Als Lebensgefährtin des Chefs der Mordkommission 2 kannst
du glauben, dass ich inzwischen gelernt habe, wie man mit der Gefahr umgeht.“
„Schon, aber du musst zugeben, dass ich mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit
einen Gurt anschnalle.“ Ich zwinkerte Trixi grinsend zu und erhielt postwendend
einen zärtlichen Knuff in die Seite. Sie hatte natürlich sofort bemerkt,
dass ich von meinem Schulterholster sprach.
„Aber nun Spaß bei Seite,“ schob ich mir mampfend den letzten
Löffel mit Knuspermüsli in den Mund. „Pass bitte auf dich auf,
du hast schon lange nicht mehr auf dem Rücken eines Pferdes gesessen.“
Trixi verdrehte ihre nilblauen Augen. „Ich verspreche es dir.“ Natürlich
stimmte ich, großzügig, wie ich nun einmal bin Trixis kleinem Ausflug
zu. Dass ich dadurch die Gelegenheit hatte mal wieder mit meinem Dienstpartner
und Freund, Aron Baltus nach Dienstschluss um die Häuser zu ziehen, sei
hier nur am Rande erwähnt.
Nachdem ich mich lange und ausgiebig von meiner kleinen Tochter und Trixi verabschiedet
hatte, strich mir Sandy, unsere Golden Retriever Detektivin auf vier Pfoten,
>Mike Winter 9. Episode „Scharade“< um die Beine herum, um
sich ihre allmorgendlichen Streicheleinheiten abzuholen. Nachdem also auch der
Hund zu seinem Recht gekommen war, machte ich mich auf den Weg ins Bremer Polizeipräsidium
an der Ostertorstraße. Auf dem Weg dorthin hielt ich einmal mehr an der
Ecke zur Faulenstraße, um meinen Dienstpartner aufzugabeln. Sein geliebter
Ford Taunus 17m hing mal wieder seit einigen Tagen am Schmieröltropf.
„Man Alter, ich dachte schon, du hättest mich hier vergessen,“
maulte er mürrisch noch während er sich auf den Beifahrersitz schwang.
„Hast du eigentlich eine Ahnung wie kalt es da draußen um diese
Tageszeit ist?“ „Kalt?“, entgegnete ich sarkastisch. „Du
hast gut reden, deine Karre steht in der warmen Tiefgarage,“ maulte Aron.
„Du brauchst nicht kratzen und wenn du auf der Straße angelangt
bist, bläst dir die Heizung doch schon warme Luft zwischen die Beine.“
Ich stupste ihm in die Rippen und setzte noch einen drauf. „Hauptsache
bei dir kommt die warme Luft nicht zwischen den Beinen.“ Aron musterte
mich vom Scheitel bis zur Sohle. „Wenn man erst einmal in festen Händen
ist, soll sich dieser Zustand ja bekanntlich recht schnell einstellen. Bei mir
hat sich hingegen noch keine Dame darüber beschwert,“ flachste er.
Ich gebe es nur ungern zu, aber diese Runde ging eindeutig an meinen Freund.
„Was liegt heute an, Chef?“, fragte mich mein Partner auf dem Weg
zum Paternoster, der uns zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk wie an jedem
Morgen in den zweiten Stock des Präsidiums transportierte. „Heute
ist Freitag, da wird ja wohl hoffentlich nicht schon wieder ein neuer Fall auf
uns zu kommen.“ Aron nickte zustimmend. „Ein freies Wochenende wäre
wirklich mal wieder sehr schön. Ich habe Svende schon lange ein paar schöne
Tage versprochen.“ „Du meinst doch wohl eher Nächte,“
stichelte ich. „Du und deine kleine Polizeibeamtin kommt doch sowieso
nicht aus den Federn.“ Aron zwinkerte mir lächelnd zu. „Nur
kein Neid, Alter!“ Ich machte ein betretenes Gesicht. „Und ich dachte,
wir würden heute abend mal wieder, ganz wie in alten Zeiten um die Häuser
ziehen und so richtig die Sau rauslassen.“ Mein Dienstpartner schürzte
die Lippen. „Wenn ich die Wahl zwischen einem Lada und einem Ferrari habe,
ist es doch wohl klar, dass ich mich für das Pferdchen entscheide.“
Da stand ich nun mit meinem sturmfreien Abend und wusste nicht was ich mir sonst
noch vornehmen konnte. Aber egal, noch war ich fest entschlossen, etwas zu unternehmen,
was außer der Reihe lag. Schließlich war nicht abzusehen, wann sich
mal wieder eine solche Gelegenheit ergeben würde.
„Schenken wir also unsere ganze Kraft den vielen noch ungeklärten
Fällen, die nur darauf warten endlich aufgeklärt zu werden.“
Mein Dienstpartner verzog das Gesicht. „Edda muss geahnt haben, was uns
an diesem Wochenende erwartet. Warum hätte sie sonst drei Tage Urlaub einreichen
sollen?“ „Anstatt vor Selbstmitleid zu zerfließen, solltest
du uns lieber einen vernünftigen Kaffee kochen. Außerdem sprachst
du gerade davon, dass du so kurz vor dem Wochenende keinen neuen Fall bearbeiten
wolltest. Da wir aber nun einmal Bereitschaft haben, müssen wir uns doch
wohl mit irgend etwas die Zeit vertreiben,“ nahm ich ihm den Wind aus
den Segeln.
Seitdem die neue, verbesserte DNA Technologie eingeführt wurde, reichen
auch schon geringe Blutanhaftungen, die überdies auch schon älteren
Datums sein können, um bislang ungeklärte Verbrechen doch noch aufzuklären.
Das einstmals sichergestellte Beweismaterial, welches nach dem alten Verfahren
zur Bestimmung eines genetischen Codes nicht ausreicht hatte, war getreu dem
Gebot von Gründlichkeit in den Asservatenkammern des Präsidiums eingelagert
worden. Wenn wir also bei der Durchsicht unaufgeklärter Morde auf einen
Fall stießen, dessen charakteristische Merkmale passten, stellten wir
fest, ob noch Beweismaterial vorhanden war und ließen es auswerten. Eine
Bärenarbeit, die sich bislang aber schon einige male ausgezahlt hatte.
„Also, dann,“ seufzte Aron. „Lassen wir die Welt des Verbrechens
ein weiteres mal erzittern.“
-5-
Wann immer
es die Witterung zuließ, legte Tanja den weiten Weg zum Reiterhof in Wölpsche
mit ihrem Motorroller zurück. Nur im Winter, wenn die Straßen zu
glatt waren, oder wenn es in Strömen regnete, benutzte sie den Bus. Tanja
liebte es unabhängig zu sein und sie wollte niemandem zur Last fallen.
Seit dem Tod ihrer Mutter war dies ihr Credo und genau so und nicht anders wollte
sie leben, wollte jeden Tag genießen und glücklich sein.
Doch an diesem Tag war alles anders. In der Schule hatten ihr Freunde von einem
ungeheuerlichen Verbrechen erzählt. Es war schon wieder ein Pferd erstochen
worden. Der wahnsinnige Ripper, wie ihn die Presse nannte, hatte nicht weit
von Bremen entfernt zugeschlagen. Er hatte das arme Tier buchstäblich abgeschlachtet.
Sofort keimte Angst in ihr auf. Angst um Diana, die erst seit einigen Tagen
wieder auf der Weide stand. Tanja hatte sie kaum noch im Stall halten können.
Zu groß war die Vorfreude des Tiers nach den langen Wintermonaten endlich
wieder frisches Gras fressen zu dürfen und der Enge ihrer Box zu entfliehen.
Der Klos in ihrem Hals wuchs scheinbar mit jedem ihrer Atemzüge und so
war es nur all zu verständlich, dass sie sich, kaum dass sie zu Hause war,
auf den Roller schwang und so schnell sie nur konnte in Richtung Reiterhof davon
fuhr.
Daran hatten auch die mahnenden Worte von Frau Kruse nichts ändern können.
Adelheid war die Wirtschafterin, die sich seit dem Tod der Mutter um den Haushalt
und soweit es Tanja zuließ, auch um die Sechzehnjährige kümmerte.
Tanja hatte einmal mehr nichts gegessen und dies, obwohl die alte Dame heute
ihr Lieblingsgericht zubereitet hatte. Sie konnte nicht ahnen, was Tanja an
diesem Nachmittag belastete.
Immer wieder stellte sich die junge Frau vor, wie schrecklich es sei, wenn ihre
Diana das Opfer dieses Irren werden sollte. Die blutigen Bilder, die sie bei
vergangenen Taten des Rippers in der Zeitung gesehen hatte, drangen immer wieder
vor ihr geistiges Auge. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, die Aufnahmen
der getöteten Pferde gingen ihr einfach nicht mehr aus dem Sinn. Natürlich
versuchte sie sich immer wieder selbst zu beruhigen, sagte sie sich, dass sich
Herr Morgentau, der Besitzer des Reiterhofes, sich längst bei ihr oder
ihrem Vater gemeldet hätte, wenn irgend etwas mit Diana geschehen wäre.
Aber schon in der nächsten Sekunde hielt sie dagegen, dass ihr Pferd womöglich
bislang von niemandem vermisst worden war. Nein, sie würde erst wieder
zur Ruhe kommen, wenn sie ihrer Stute zärtlich über die Blässe
streicheln konnte.
Tanja war viel zu tief in ihren Gedanken versunken, um den Wagen zu bemerken,
der ihr seit einiger Zeit in geringem Abstand folgte. Auch als sie der rotbraune
Kleinwagen auf der wenig befahrenen Straße, kurz vor dem Waldstück
überholte, schöpfte sie keinen Verdacht. Davon, dass der betagte Golf
hinter der nächsten Kurve in einen schmalen Waldweg einbog und der Fahrer
hastig ausstieg, konnte sie ebenso wenig etwas sehen. Hätte sie es bemerkt,
wären ihr die nächsten Minuten sicher erspart geblieben.
-6-
„Schön,
dass ihr da seid,“ empfing Nena Wiese ihre Freundin und unsere kleine
Tochter. „Meine Güte, ist die Kleine niedlich,“ überschlug
sich Trixis ehemalige Studienfreundin. „Und wie groß sie schon geworden
ist.“ „Findest du?“, betrachtete Trixi unsere Tochter skeptisch,
während sie Romy aus der Babytasche nahm. „Aber ja,“ entgegnete
Nena bestimmt. „Ich habe das Gefühl, sie wächst im Moment gar
nicht.“ Quatsch!“, beruhigte Nena ihre Freundin. „Das glaubst
du nur, weil du sie jeden Tag siehst.“ Trixi schöpfte Hoffnung. „Meinst
du wirklich?“ „Aber ja, deine Kleine ist ganz schön proper.“
Trixi seufzte. „Mike meint, dass ihr die Landluft gut tun wird.“
„Na, dann sollten wir zusehen, dass wir uns allmählich auf den Weg
machen.“
Nena schnappte sich ihre Reitsachen und die Frauen begaben sich hinunter auf
den kleinen Parkplatz vor dem Haus. Trixi hatte ihren neuen Skoda Fabia direkt
neben Nenas Wagen geparkt. „Bist du sicher, dass wir mit deinem Wagen
fahren wollen?“, fragte Nena ihre Freundin. „Es ist mir lieber,
wenn Sandy in meinem Auto mitfährt. Der Ärmsten geht es beim Autofahren
manchmal schlecht,“ grinste Trixi verlegen. „Außerdem wirst
du mir schon sagen, wo lang ich fahren muss.“ „Worauf du dich verlassen
kannst. Aber Wölpsche liegt auch nicht aus der Welt.“ „Es hört
sich aber so an,“ versetzte Trixi. „Du wirst ja sehen, der Reiterhof
liegt wirklich idyllisch und die Fremdenzimmer sind mit allem Komfort ausgestattet.“
„Du meinst mit fließendem Wasser und so?“, witzelte Trixi.
Nena rollte mit den Augen. „Fahr endlich los, du alte Giftspritze! Du
wirst schon sehen.“
Es dauerte erheblich länger als erwartet, bis die Freundinnen die Stadt
hinter sich gelassen hatten. Ein schwerer Verkehrsunfall auf der E234 in Höhe
Gröpelingen war der Grund dafür. Die Blechschlange staute sich mehrere
Kilometer weit. Aber wie es fast immer der Fall ist, wenn sich gute Freunde
längere Zeit nicht gesehen haben, sie haben sich viel zu erzählen.
Als sich der Stau endlich wieder auflöste, waren aus dem Fond des Autos
eigenartige Würgegeräusche zu vernehmen. „Oh nein, ich habe
ihr extra nichts zu fressen gegeben,“ haderte Trixi im Unterton der Verzweifelung.
Sandy hatte sich im Fußraum der Rücksitzbank allem Überflüssigem
entledigt. Ein herber Geruch verbreitete sich im Wageninneren und verursachte
auf den vorderen Plätzen ein gewisses Unbehagen. „Soviel zum Thema
gute Landluft,“ feixte Trixi. „Passiert so etwas öfter?“,
wollte Nena wissen. „Auf Kurzstrecken weniger. Aber zumindest weißt
du nun, warum ich mit meinem Wagen fahren wollte.“ Nena drehte sich nach
hinten und tat einen Blick in die Babytasche. „Wenigstens hat Romy von
alle dem nichts mitbekommen. Sie schnarcht immer noch friedlich vor sich hin.“
„So bald es möglich ist, fahre ich rechts ran und mache hinten klar
Schiff,“ versprach Trixi. „Zumindest hat sich der Stau aufgelöst.“
Doch der starke Verkehr ließ auch weiterhin kein Anhalten zu. Erst als
die Freundinnen Vegesack hinter sich gelassen hatten und in die weniger stark
befahrene Landstraße nach Wölpsche einbogen, ergab sich eine Möglichkeit.
„Schau mal, da vorn ist ein kleines Wäldchen. Da zweigt sicherlich
irgendwo ein Weg ab, auf dem wir halten können.“ Doch, kaum dass
Trixi den Blinker gesetzt hatte und die Geschwindigkeit des Autos verringerte,
um auf den erst besten Weg einzufahren, musste sie das Steuer auch schon herumreißen.
Direkt vor ihnen lag ein Motorroller.
„Das gibt es ja wohl nicht!“, entrüstete sich Nena. Erst jetzt
entdeckten die Frauen in einiger Entfernung einen jungen Mann und ein Mädchen,
die sich allem Anschein nach lauthals miteinander stritten. Offenbar hatten
die beiden Streithähne noch nicht bemerkt, dass sie nicht mehr allein waren.
Trixi und Nena beobachteten aus dem Wagen heraus, wie sich die Auseinandersetzung
allmählich zuspitzte und schließlich eskalierte. Der Kerl wurde plötzlich
handgreiflich, packte das Mädchen am Arm und versuchte es mit sich in den
Wald zu zerren. „Jetzt reicht es aber!“, fauchte Trixi und sprang
aus dem Wagen. „Hau auf die Hupe, Nena. Ich hetze den Hund auf den Kerl.“
Laut bellend tobte Sandy los. Erschrocken ließ der Mann von dem Mädchen
ab und rannte wutschnaubend zu seinem Auto. Er hatte nicht erkannt, dass Sandys
Interesse eigentlich dem Wildkaninchen galt, die sich noch ein Stück weiter
im Wald zu verstecken suchten.
Sekunden später kurvte der Mann in seinem Golf mit durchdrehenden Rädern
am Skoda vorbei, hinauf auf die Straße. Dabei beachtete er nicht einmal
den fließenden Verkehr, schlingerte auf die Straße und raste davon.
„Hast du den Kerl gesehen?“, fragte Trixi ihre Freundin. „Wenn
du wissen willst, ob ich ihn wiedererkennen würde. Da kannst du deinen
Hintern drauf verwetten.“
Nun war natürlich auch Romy wach geworden. Das laute Hupen und Sandys Gekläffe
hätten selbst einen Ötzi zu neuem Leben erweckt. Während sich
Trixi um unsere Tochter kümmerte, nahm sich Nena dem völlig verstörten
Mädchen an. Die Kleine hatte sich auf einen gefällten Baumstamm gesetzt
und ihre Beine dicht an den Oberkörper gezogen. Erst als sich Nena neben
sie setzte, erkannte sie das Mädchen. „Mensch, Tanja, du bist es
ja.“ „Nena,“ stammelte die Sechzehnjährige und schluchzte
dicke Tränen in die Arme ihrer Bekannten. „Wer war der Typ und was
wollte er von dir?“ Nena reichte ihr ein Taschentuch. „Das war,
Harald, mein Exfreund,“ schniefte sie. „Er kapiert einfach nicht,
dass es mit uns vorbei ist.“ „Nachdem, wie sich der Typ gerade benommen
hat, kann ich dich zu diesem Entschluss nur beglückwünschen. Wenn
du den Kerl anzeigen willst, kannst du auf uns zählen,“ versprach
Nena. „Der Lebensgefährte meiner Freundin ist bei der Polizei. Er
kann sich bestimmt um die Sache kümmern.“ Tanja schüttelte den
Kopf. „Das wird sicher nicht nötig sein. Ich schätze, er hat
es jetzt begriffen.“ Nena machte dicke Backen. „Es hat zwar nicht
gerade danach ausgesehen, aber du musst schließlich selber wissen, was
du machst.“
Wenig später hatte sich die junge Frau wieder so weit beruhigt, dass sie
ihren Weg fortsetzen wollte. „Der Idiot hat sich einfach auf die Straße
gestellt und mich an der Vorbeifahrt gehindert. Als ich ihm auswich, kam der
Roller ins Rutschen. Ich kann von Glück sagen, dass ich nicht stürzte.“
Die Frauen richteten den schweren Motorroller auf und Tanja versuchte ihn zu
starten. Doch der Elektroanlasser versagte seinen Dienst. „Du wolltest
doch sicher zum Reiterhof,“ überlegte Nena. Tanja nickte, während
sie das Fußpedal für den mechanischen Anlasser herausklappte. „Wenn
du möchtest, kannst du bei uns mitfahren,“ bot Trixi an. Im selben
Augenblick trat Tanja mit aller Kraft das Pedal nach unten und der Roller begann
loszutuckern. Zunächst noch verhalten, aber zunehmend lauter und gleichmäßiger.
„Ich schätze, das hat sich erledigt,“ freute sich die Sechzehnjährige
und setzte den Sturzhelm auf. „Aber trotzdem, vielen Dank für das
Angebot.“ Nena reckte den Daumen in die Höhe. „Na gut, dann
werden wir zumindest das kurze Stück bis zum Reiterhof hinter dir herfahren.“
Tanja lächelte dankbar. „Das ist echt lieb von euch.“ Dann
knatterte der Roller davon.
„Was hältst du von der Geschichte?“, fragte Trixi ihre Freundin
nachdenklich, nachdem alle eingestiegen waren und sich der Skoda langsam in
Bewegung setzte. „Ein bisschen merkwürdig kam mir der Knabe schon
vor.“ „Ein bisschen?“, echote Trixi. „Scheint mal wieder
einer von diesen unerträglichen Machos zu sein, der es einfach nicht verwinden
kann, wenn er von einer Frau abserviert wird.“ Nena stimmte ihrer Freundin
zu.
-7-
„Verdammte
Sauerei!“, schimpfte Hauptkommissar Klemens von der Sonderermittlungsgruppe
Pferd. Schon am Vortag hatten die Beamten der Kripo Nienburg die Umrisse des
Kadavers mit roter Farbe markiert. Anschließend wurde das dahingemetzelte
Pferd in die Tierärztliche Hochschule nach Hannover transportiert. Erst
seit einigen Stunden war klar, dass die Verletzungen, die das Tier davongetragen
hatte, die Handschrift jenes Serientäters trug, dem ein Großteil
der tödlichen Attacken auf Pferde zugeschrieben wird.
Dies wiederum gab den Anlass, die Ermittlungsgruppe, der Klemens vorstand, hinzuzuziehen.
Die SOKO Pferd ging 1999 aus der Landeskriminalpolizei Niedersachsen hervor.
Bei ihr liefen alle Rippermorde und Übergriffe an Pferden zusammen, die
seit 1995 geschehen waren.
50 Beamte der Bereitschaftspolizei hatten bereits jeden Grashalm auf der abgelegenen
Weide umgedreht. Doch einen ähnlich spektakulären Fund, wie ihn der
Schlächter zu Beginn der Mordserie hinterlassen hatte, war nicht gefunden
worden. Damals war es eine selbstgebaute Lanze, die der Ripper am Tatort zurückgelassen
hatte. Leider führte die gefundene Waffe bis heute nicht zum Täter.
„Wer ist nur zu einer solch barbarischen Tat im Stande?“, fragte
der Verpächter der Weide immer wieder den Kopf schüttelnd. „Wir
haben zusammen mit Psychologen und Veterinärmedizinern ein Täterprofil
erarbeitet. Inzwischen gehen wir davon aus, dass es sich bei dem Täter
um einen Mann handelt, der sich gut mit Pferden und speziell mit dessen Anatomie
auskennt,“ erläuterte Klemens. „Offenbar gelingt es ihm die
Tiere mit einem gezielten Lanzenstich fluchtunfähig zu machen. Wahrscheinlich
lebt er sehr zurückgezogen. Wir schließen ein sexuelles Tatmotiv
nicht aus.“ Der Mann in der grünen Arbeitskluft zog seine Mütze
vom Kopf und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. „Sexuell? Sie meinen...“
Klemens zuckte mit den Schultern und sah zu dem mit roter Farbe umrandeten Fleckchen
Erde, auf dem die bedauernswerte Kreatur einen qualvollen Tod gestorben war.
„Verdammte Schweinerei!“, schimpfte der Mann mit der grünen
Mütze, dessen Augen den Blicken des Hauptkommissars gefolgt waren. „So
einen Verrückten muss man doch das Handwerk legen können.“ „Verrückt
vielleicht – aber dennoch gerissen,“ relativierte Klemens. „Wir
gehen davon aus, dass der Täter jeden neuen Tatort über einen längeren
Zeitraum beobachtet. Diese, der Tat vorausgehenden Erkundungen ziehen sich wahrscheinlich
über Wochen hin und gehören möglicherweise schon zu seinem gestörten
Sexualverhalten.“ Der Landwirt starrte den Beamten ungläubig an.
„Sie meinen so eine Art Vorspiel?“ Klemens nickte betreten. „So
könnte man es wohl auch nennen. Erst wenn der Kerl sich sicher ist, von
keiner Menschenseele gestört zu werden, führt er sein perfides Spiel
mit dem Tod aus.“
Der Verpächter schlug die Faust in die offene Handfläche. „Die
Leute vom Reiterhof können hier doch nicht Tag und Nacht Wache schieben.
Nur gut, dass ich heute Morgen zufällig hier vorbei kam. Sie können
sich gar nicht vorstellen, was hier kurz darauf los war, nachdem ich den Pächter
von meinem Fund informiert hatte.“ „Oh, doch. Ich habe zwar bislang
weder mit dem Besitzer des Reiterhofes, noch mit den Haltern der Pferde gesprochen,
weil ich mir erst einmal ein Bild vom Tatort machen wollte, aber glauben Sie
mir, es ist jedes Mal das gleiche. Wohin ich auch komme, überall da, wo
diese unsägliche Bestie gewütet hat, sind die Menschen mehr als betroffen.
Für viele der Geschädigten waren ihre Pferde der Inbegriff ihres Lebens.
Für sie war es, als wäre die Welt zusammen gebrochen.“
„Nun, ich selber mache mir nicht viel aus Pferden,“ erklärte
der Bauer. „Außer einem Hund haben wir keine Tiere mehr auf dem
Hof. Lohnt sich heutzutage ja auch kaum noch. Aber nichtsdestotrotz bin ich
mit Tieren aufgewachsen und weiß, wie sehr man an ihnen hängt. Ich
habe natürlich schon von diesem Verrückten gelesen. Aber wer denkt
schon ernsthaft daran, einmal selbst von einer solchen Tat betroffen zu sein.“
Hauptkommissar Klemens tat einen tiefen Seufzer. „Ja, so ist es mit jedem
Verbrechen, von dem wir hören. Wir sind schockiert darüber, aber gleichzeitig
froh, dass es uns nicht selbst getroffen hat. Meistens schieben wir es mit dieser
Begründung weit von uns und verdrängen es aus unserem Bewusstsein.
Und dennoch setzt sich diese Angst tief in unserem Innersten fest, staut sich
dort und bricht um so heftiger aus uns heraus, wenn wir tatsächlich eines
Tages mit einem Verbrechen konfrontiert werden.“
„Wir sind jetzt fertig, Herr Hauptkommissar,“ unterbrach eine ganz
in weiß gekleidete Frau von der Spurensicherung das Gespräch der
beiden Männer. „Leider wird es so gut wie unmöglich sein, die
gefundenen Schuhabdrucke zuordnen zu können. Wir wissen weder wie alt sie
sind, noch sind die meisten ohnehin in einem derart schlechten Zustand, dass
wir sie nicht verwenden können. Die Leute von der Bereitschaftspolizei
haben buchstäblich jeden Millimeter nach Hinweisen abgesucht. Der Ripper
war einmal mehr vorsichtig genug, um keine Spuren zu hinterlassen.“ Klemens
nickte resignierend. „Ich habe es fast befürchtet.“
-8-
Auf einer
kleinen Anhöhe, ganz in der Nähe des Reitstalls, stand bereits seit
einer ganzen Weile ein breitschultriger Mann und beobachtete mit seinem Fernglas,
was in etwa 200 Meter Entfernung auf dem Hof der Anlage vor sich ging. Seine
Haare waren vom Wind zerzaust und die Ellenbogen, mit denen er das Fernglas
auf einer Astgabel abstützte, schmerzten ihm bereits. Aber dies ignorierte
der Mann, denn seine Gedanken liefen ebenso wirr auseinander wie seine Haare.
Seine Augen starrten angespannt, nur auf das Eine fixiert - nämlich auf
die wunderschönen Stuten, die von ihren Besitzern gerade vor dem Stall
gehegt und gepflegt wurden.
Er schwenkte das Fernglas zum großen Tor mit dem steinernen Rundbogen
darüber und bemerkte, wie ein Motorroller, dicht gefolgt von einem Pkw,
auf den Parkplatz fuhr. Zwei junge Frauen und ein Hund verließen den Wagen
und gingen auf den Motorroller zu. Der Hund folgte ihnen angeleint. Der Fahrer
des Motorrollers zog den Helm vom Kopf und der Mann auf dem Hügel erkannte,
dass es sich ebenfalls um eine junge Frau handelte. Er sah, wie sie miteinander
sprachen und wie sie sich nach nur wenigen Augenblicken von einander verabschiedeten.
Das Fernglas folgte der Frau mit dem Motorradhelm. Sie ging geradewegs in den
Stall. Als der Unbekannte sein Glas zurückschwenkte, um wieder nach den
beiden anderen Frauen Ausschau zu halten, sah er gerade noch, wie sie mit dem
Hund und einigem Gepäck in der Tür des dem Reiterhof angeschlossenen
Hotelleriebetriebes verschwanden.
Plötzlich horchte der Mann hinter dem Baum auf und wandte den Kopf. Er
hatte nicht weit hinter sich das Geräusch einer zuklappenden Autotür
vernommen. Reflexartig duckte er sich hinter dem Brombeerbusch ab und verharrte.
Es dauerte eine Weile, bis er eine Gestalt ausmachte, die eilig näher kam.
Ein Mann. Er kam direkt auf ihn zu, ließ ihm keine Möglichkeit mehr
noch unerkannt das Weite zu suchen. Keine zehn Meter waren die Männer nun
noch von einander entfernt. Der mit dem Fernglas kauerte still in seinem Versteck
und grübelte bereits nach einer Ausrede, die seine Anwesenheit erklären
konnte. Doch dem, der da keine fünf Meter von ihm entfernt vorbei stakste,
stand der Sinn nach etwas anderem. Den Blick starr nach vorn gerichtet, schäumte
der Typ offensichtlich vor Wut. Er hätte ihn wahrscheinlich nicht einmal
dann gesehen, wenn er neben dem Baum stehen geblieben wäre.
Nichtsdestotrotz verblieb der Mann auch weiterhin in seiner Haltung. Er registrierte,
wie sich der Störenfried weiter und weiter von ihm entfernte. Gerade, als
er meinte, dass der Unbekannte nun weit genug von ihm entfernt wäre, und
er sich erheben wollte, blieb der Fremde plötzlich stehen und beobachtete
etwas. Zu seiner Verwunderung schien der Mann mit dem Pagenschnitt und den eigentümlich
langen Kotletten, ebenso wie er, ein besonderes Interesse an dem Reiterhof zu
haben.
Anscheinend war seine Sicht auf die Anlage jedoch ungenügend, denn schon
nach wenigen Augenblicken ging der Typ weiter auf den Reiterhof zu. Der Mann
mit dem Fernglas erhob sich endlich aus seinem Versteck. Er hatte seine Sehhilfe
längst in einer Ledertasche verstaut. Er wollte auf jeden Fall unerkannt
bleiben, deshalb zog er es vor, erst einmal seinen Beobachtungspunkt zu verlassen.
Das, was er gesehen hatte, reichte ihm. Einige prächtige Tiere standen
dort unten in den Paddocks. Nun musste er nur noch herausfinden, auf welche
Weide die Tiere demnächst gebracht werden. Sicherlich würde es auch
hier nicht mehr lange dauern, bis die Besitzer die Freiluftsaison für gekommen
hielten.
-9-
„Du
hast nicht zu viel versprochen, Nena. Die Zimmer sind wirklich ein Traum,“
schwärmte Trixi, als ihre Freundin ihr Apartment betrat, um sie abzuholen.
„Na, sag ich doch. Aber du musst ja immer erst alles mit eigenen Augen
sehen, bevor du mir etwas glaubst.“ Trixi schürzte die Lippen. „Hast
ja recht, aber nun könntest du mir erst einmal dein halbes Pferd zeigen.
Welche Hälfte gehört eigentlich dir?“ „Wotan ist ein Wallach!
Da erübrigt sich deine Frage jawohl, oder?“ Die Frauen brachen in
herzliches Gelächter aus und begaben sich mit Babytasche und einer verkniffen
dreinschauenden Hundedame zu den Ställen.
„Du musst leider hier draußen warten,“ verkündete Trixi
unserer Golden Retriever, als sie die Hündin vor dem Eingang zum Stall
anleinte. Sandy schien es ihr nicht weiter übel zu nehmen. Sie legte sich
auf eine, von der Frühlingssonne beschienenen Stellen und genoss ihre wärmenden
Strahlen. „Ist sie immer so lieb?“, erkundigte sich Nena anerkennend.
„Wenn sie nicht gerade einen Floh im Pelz hat, geht es,“ lobte Trixi,
während sich die Frauen der Box näherten, in der Wotan stand.
„Meine Güte, ist das ein Prachtbursche,“ verschlug es Trixi
fast den Atem, als sie den Wallach erblickte. „Ein Friese eben. Zäh,
robust, gutmütig, aber eben auch nicht klein,“ erklärte Nena
mit einem gewissen Schmunzeln auf ihren Lippen. „Und das Beste ist, dass
der Kleine an diesem Wochenende ausschließlich uns zur Verfügung
steht. Du wirst sehen, Reiten verlernt man nicht. Auch wenn es schon Jahre her
ist, wirst du schneller wieder klar kommen als du es dir vorstellst.“
Trixi sah dem Friesen skeptisch in die Augen. Mutig tätschelte sie den
Kopf des Tieres. „Dein Wort in Gottes Ohr.“
„Doch wie immer im Leben kommt eben auch in diesem Fall die Arbeit vor
dem Vergnügen. Wenn du magst, kannst du zusehen, wie ich Wotan für
den Ausritt fertig mache. Du kannst dir aber auch gern den Hof etwas genauer
ansehen.“ Trixi wog nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich denke,
ich werde mich erst einmal ein wenig umsehen und danach oben auf die Terrasse
setzen. Wenn ich richtig gesehen habe, gibt es dort sogar Cappuccino.“
Nena grinste. „Das Leben an der Seite eines Kommissars scheint abzufärben.
Kaum da und schon weißt du mehr, als ich nach einer Woche.“ Trixi
zuckte mit den Achseln. „Tja, so ist das eben – jeder nach seinen
Fähigkeiten.“
„Ich hole dich dann nachher zusammen mit Wotan ab.“ Trixi sah noch
einmal ehrfurchtsvoll an dem riesigen Friesen empor. „Meinst du wirklich,
dass ich mich da oben drauf halten kann?“ „Das haben schon ganz
andere Greenhorne geschafft.“ Trixi warf ihrer Freundin mit gespielter
Empörung einen funken- sprühenden Blick hinüber. „Danke
schön!“ Nena zog den Kopf zwischen ihre Schultern. „Oh, entschuldige.
Aber so hatte ich es natürlich nicht gemeint.“ Die beiden Frauen
waren lange genug befreundet, um nur zu gut zu wissen, wann sich die andere
einen Spaß erlaubte. Wenn dann noch jemand in ihrer Nähe war, der
sie nicht kannte und den verbalen Schlagabtausch mitbekam, liefen die beiden
Freundinnen zu wahrer Höchstform auf.
Trixi schleppte sich nun schon eine ganze Weile mit der schweren Babytasche
ab. Sie wagte es nicht, Sandy von der Leine zu lassen und dieser Umstand begann
sie allmählich zu nerven. An jeder Ecke blieb sie stehen und verweigerte,
bockig wie ein alter Maulesel, mit Frauchen Schritt zu halten. Es waren die
neuen Gerüche, die sie immer wieder dazu verleitete, sich hinzusetzen.
„Nun hör schon endlich auf!“, schimpfte Trixi. „Da kommt
doch schon längst kein Tropfen mehr.“ Doch die Golden Retriever Hündin
lies sich nicht beirren. Während Sandy ihr neues Revier kenntlich machte,
lies Trixi also genervte Blicke in die Umgebung wandern.
Plötzlich hielt sie inne. Da war doch etwas, dachte sie. Sie spähte
einen nahen Hügel hinauf und tatsächlich, hinter einem dicken, am
Boden liegenden Baumstamm entdeckte sie einen Mann. Er kniete und schien den
Reiterhof zu beobachten. Obwohl die Entfernung nicht gerade gering war, glaubte
sie, anhand der Kleidung, in dem Mann den Kerl wiederzuerkennen, der auf ihrer
Herfahrt das Mädchen mit dem Motorroller belästigt hatte. Sein Blick
schien in eine bestimmte Richtung zu gehen. Kurz darauf, wurde ihr klar, worauf
seine Aufmerksamkeit gerichtet war.
Eben jenes Mädchen ritt nun auf einem Pferd, direkt auf ihn zu. Der schmale
Pfad, auf dem sie sich befand, würde sie dicht an ihm vorbeiführen.
Es war abzusehen, was in wenigen Augenblicken geschehen würde. Doch wie
sollte sie das Mädchen warnen. Genau in diesem Moment fuhr ein stattlicher
Bursche mit einem Kleintraktor auf die Wiese, die zwischen ihr und dem Geschehen
lag. Ihre Rufe würden unweigerlich durch das laute Knattern des Rasenmähers
geschluckt werden. Selbst wenn sie jetzt losrannte, würde sie zu spät
kommen, um das, was sie befürchtete, verhindern zu können. Trixi beruhigte
sich, vielleicht würde gar nichts geschehen. Vielleicht handelte es sich
bei dem Mann gar nicht um den ominösen Exfreund des Mädchens, sondern
nur um einen harmlosen Spaziergänger, der sich auf dem Baumstamm ausruhte?
Trixi beschloss die Szenerie weiterhin aufmerksam zu beobachten. In diesem Augenblick
erreichte das Mädchen auf ihrem Pferd die Stelle, an der sich der Mann
verbarg. Trixi hatte ihn seit einigen Sekunden aus den Augen verloren. Verbarg
er sich oder war er weiter gegangen. Bereits der nächste Wimpernschlag
enthob sie ihren Überlegungen. Einem Sprinter gleich schnellte der Wahnsinnige
aus seinem Versteck und versperrte Ross und Reiterin den Weg. Seine Arme wedelten
dabei wie zwei riesige Paddel. Das erschrockene Tier scheute, bäumte sich
auf und galoppierte in rasendem Tempo davon.
Erst jetzt konnte Trixi erkennen, dass der Mann am Boden lag. Das durchgegangene
Pferd hatte ihn möglicherweise umgerissen, während es davon stob.
Was für ein Idiot, dachte sich Trixi.
Beinahe gleichzeitig vernahm sie ein kräftiges Schreien aus der Babytasche,
die sie zwischenzeitlich neben sich abgesetzt hatte. Trixi bückte sich
zu Romy hinunter. „Ja, mein Schatz, Mami weiß, dass du Hunger hast.
Du bekommst gleich deine Pülli.“ Sandy tat einen verstohlenen Blick
in die Tasche, schnüffelte und rümpfte die Nase. Dann erhob sich die
Hündin und trat einige Schritte zur Seite, um sich an anderer Stelle erneut
niederzulassen. „Oder bist du am Ende schon wieder nass?“ Das prüfende
Tasten mit ihrer Hand brachte Gewissheit. „Dann müssen wir halt noch
einmal auf unser Hotelzimmer.“ Trixi hob die Tasche und forderte den Hund
mit einem kräftigen Ruck an der Leine zum Aufstehen auf. Bevor sie ging,
warf sie einen letzten Blick auf die Stelle, an der gerade noch der Mann gelegen
hatte. Er war verschwunden.
Plötzlich kamen ihr Bedenken, dass dem Mädchen etwas zugestoßen
sein konnte. Schließlich wusste sie nicht wie geübt sie mit dem Tier
war. Trixi ging so schnell es ihr mit dem Anhang möglich war hinüber
zur Wiese, auf der nach wie vor der knackige Bursche damit beschäftigt
war den Rasen zu mähen. Wild gestikulierend machte sie ihn auf sich aufmerksam.
Es dauerte eine Weile, bis er den Trecker abgestellt und begriffen hatte, was
Trixi von ihm wollte. Doch dann ging alles sehr schnell.
Der smarte Jüngling nahm die Beine in die Hand und hastete in den Stall.
Nur Sekunden später ritt er auf Wotan über den Hof und schließlich
in einem Affentempo über den schmalen Pfad den Hügel hinauf. Gleich
darauf kam Nena auf sie zugelaufen. „Was ist denn hier los?“, schnaufte
sie. „Das wollte ich dich auch gerade fragen,“ entgegnete ihr Trixi.
„Gibt es hier immer so viel Action?“ Nena hob verwundert die Schultern.
„Ich hatte Wotan gerade aufgezäumt als Tommy hereinstürmte,
mir irgend etwas unverständliches zurief und sich, als sei der leibhaftige
Teufel hinter ihm her, in den Sattel meines Pferdes schwang.“ „Deines
halben Pferdes,“ unterbrach Trixi. „Aber Spaß bei Seite. Ich
habe beobachtet, wie der Kerl von vorhin wieder die kleine Rollerfahrerin bedrängte.
Er hat das Pferd von der Kleinen da oben erschreckt.“ Trixi wies mit dem
ausgestreckten Arm auf die besagte Stelle. „Die Kleine hielt sich zwar
im Sattel, konnte aber das Pferd nicht unter Kontrolle halten.“ Nena zerbiss
einen Fluch zwischen den Zähnen. „Das darf ja wohl nicht wahr sein!
Jetzt wird mir Tommys Eile natürlich klar. Hoffentlich kann Tanja ihr Pferd
vom Wölpscher Moor fernhalten, sonst gibt es womöglich doch noch ein
Unglück.“
-10-
„Meine
Güte, Junge! Wie siehst du denn aus?“ „Lass mich in Ruhe!“
Harald humpelte ins Bad und lies die Tür hinter sich ins Schloss krachen.
Er schäumte mal wieder vor Wut. Gerlinde Reuter hatte kein gutes Gefühl,
als sie ihrem Enkel nachblickte. Seine gesamte Kleidung war verschmutzt. Kopfschüttelnd
sah sie auf die Dreckspur, die er auf dem Flur hinterlassen hatte. Sie hatte
schon vor langer Zeit damit aufgehört, ihn nach seinen Problemen zu fragen.
Denn es waren stets die gleichen, unwirschen Antworten, die sie zu hören
bekam.
Ihr war längst klar geworden, dass sie bei seiner Erziehung etwas falsch
gemacht hatte. Wie sollte sie auch Vater und Mutter ersetzen können? Nachdem
seine Mutter bei Nacht und Nebel mit einem anderen durchgebrannt war, hatte
der Junge vollends jeglichen Halt verloren. Auf seinen Vater, ihrem Schwiegersohn
war schon vorher nicht zu zählen. Zu sehr hatte der Alkohol sein Hirn zerfressen.
So gesehen konnte sie sogar so etwas wie Verständnis für die Flucht
ihrer Tochter aufbringen. Doch dass sie sich seit jenem Tag nicht einmal bei
ihr gemeldet hatte, nahm sie ihrer Tochter übel.
Klaglos ging die alte Frau in die Küche, holte sich Besen und Kehrblech
und machte sich daran, den Schmutz zu beseitigen. Sie war gerade mit der Arbeit
fertig, als Harald die Tür zum Bad öffnete. Wortlos starrte Gerlinde
ihn an. Ihre Augen ruhten in tiefen Höhlen. Ihre Stirn war von tiefen Falten
zerfurcht und das graue Haar klebte ihr in wirren Strähnen auf dem Kopf.
Einen Friseur hatte sie sich schon lange nicht mehr geleistet. Zu groß
war die Angst davor Harald kein Geld geben zu können, wenn er es von ihr
forderte. „Was glotzt du mich denn so an?“, herrschte er ihr entgegen.
Gerlindes Blick irrte in eine andere Richtung. „Entschuldige.“ „Geh
mir endlich aus dem Weg! Du siehst doch, dass es mir nicht gut geht.“
Die alte Frau gehorchte, wie sie es immer tat. „Bring mir lieber ein Bier
in die Stube,“ verlangte ihr Enkel, während er halbnackt an ihr vorbei
ins Wohnzimmer humpelte.
„Habe ich eigentlich noch ein paar Klamotten hier?“, fragte er,
als ihm seine Großmutter die Flasche brachte. „Nein, du hast alles
mitgenommen, als du damals bei mir ausgezogen bist.“ Harald lehnte sich
bequem zurück. „Tja, liebste Omi, dann bleibt mir nichts anderes
übrig, als so lange bei dir zu bleiben, bis meine Wäsche sauber ist.“
Gerlinde Reuter schluckte. Das war das Letzte, was sie wollte. Lieber lebte
sie zurückgezogen wie eine Einsiedlerin, als noch eine Nacht lang mit ihrem
missratenen Enkel unter einem Dach zu verbringen. Die alte Frau hatte Angst.
Angst vor ihrem eigenen Fleisch und Blut. Dies wurde ihr in diesem Augenblick
mehr als bewusst.
„Ich habe noch ein paar Sachen von Fritz. Die könnten dir vielleicht
passen,“ schlug Gerlinde halblaut vor. „Bist du bescheuert? Ich
renne doch nicht in den alten Lumpen meines Opas durch die Gegend. Außerdem
denke ich, dass ich heute hier bleiben sollte. Wie du wohl unschwer erkennen
kannst, bin ich gestürzt. Ich habe höllische Schmerzen. Da ist es
sicher nicht verkehrt, wenn ich mich ein wenig von dir verwöhnen lasse.“
Die alte Dame wagte es nicht, ihrem Enkel zu widersprechen.
-11-
„Hast
du es dir auch wirklich gut überlegt, Alter. Ein solches Angebot bekommst
du so schnell nicht wieder.“ Aron schürzte die Lippen. „Keine
Chance, Mike. Dieses Wochenende gehört Swende. Wenn du meine Süße
näher kennen würdest, könntest du verstehen. warum mir ihre warmen,
weichen Kurven lieber sind, als mit dir von einer Kneipe in die nächste
zu tingeln.“ „Sei froh, dass ich deine Kleine nicht näher kenne,
denn sonst wüsstest du jetzt nicht, was du mit dem freien Abend anfangen
solltest,“ flachste ich zurück. „Was hier zählt ist eindeutig
Klasse und nicht Masse,“ witzelte er. „Wenn du damit auf die paar
Pfunde anspielst, die ich zugelegt habe, seit ich mit Trixi zusammen bin, dann
hört man den Neid, der aus dir spricht aber überaus deutlich heraus.“
Aron rieb sich den Bauch. „Ja, ja, Liebe geht eben doch durch den Magen.“
Das war, abgesehen von einem ironischen „Tschüsschen“, das
letzte, was ich an diesem Nachmittag von meinem Partner zu hören bekam.
Denn in diesem Augenblick hatten wir die Faulenstraße und somit seine
Adresse erreicht. Er hüpfte aus dem Wagen und verschwand in der Haustür.
Voller Melancholie dachte ich an die guten alten Zeiten zurück, in denen
wir so manche Nacht zum Tag erklärten. Aber diese Zeiten waren wohl doch
unwiederbringlich verloren. So ist das eben im Leben, du musst dich für
eines entscheiden. Bevor du ein neues Kapitel deines Lebens beginnst, musst
du das alte erst beenden. Und ehrlich gesagt, bin ich froh, dass ich es beendet
habe.
Was lag also näher, als meinen alten Freund Angelo zu besuchen. Angelo
war der stolze Besitzer des italienischen Restaurants „Venezia“.
Zu Zeiten, in denen Kriminalrat Gerd Kretzer noch Hauptkommissar und mein direkter
Vorgesetzter war, nutzten wir dieses Restaurant als unser Stammlokal. Eigentümer
des Venezia war Angelo Brodi, doch alle nannten ihn bloß den Sizilianer.
Er und seine Familie führten das Restaurant schon seit vielen Jahren. Angelos
Antennen waren in einschlägigen Kreisen stets auf Empfang geschaltet. Schon
oft hatte er uns mit heißen Tipps auf die richtige Spur gebracht.
Aber heute war ich endlich mal wieder ganz privat bei ihm. Dementsprechend groß,
ja beinahe überschwänglich war seine Freude, als ich sein Speiselokal
betrat. Als er mich hereinkommen sah, lies er sofort alles stehen und liegen
und eilte um seine Theke herum. „Buongiorno, Mike!“ Seine wild gestikulierenden
Hände grapschten nach mir, zogen mich ungestüm an seine Brust. „Mama
Mia, wie lange warst du schon nicht mehr in meinem Restaurante. Wie geht es
dir? Komm, setz dich an deinen alten Tisch.“ Ich kam kaum dazu, meine
Jacke auszuziehen.
Sekunden später stand bereits ein Frascati auf dem Tisch. Angelo schenkte
uns ein und setzte sich zu mir. „Erzähle mir, mein Amigo, warum warst
du so lange nicht hier? Schmeckt dir meine Küche nicht mehr?“, fragte
er beleidigt. Ich verzog das Gesicht. „Du weist, dass es nicht so ist!
Trixi und ich haben ein Baby bekommen.“ Ich holte meine Brieftasche hervor
und zeigte ihm ein Foto von Romy. „Die beiden sind aufs Land gefahren.
Trixi wollte nach den letzten Wochen einfach mal wieder raus. Etwas anderes
sehen, wie sie sagte.“
Angelo schien sich an dem Foto nicht satt sehen zu können. „Oh, multo
bravissimo. Was für eine süße Bambina! Sieht gar nicht aus wie
der Papa.“ Er sprang auf und eilte, mit dem Foto in der Hand, laut rufend
in die Küche. Kurz darauf standen seine Frau und die Tochter voller Verzückung
vor meinem Tisch und schlugen mir immer wieder anerkennend auf die Schultern.
Ich verstand zwar kein Wort von dem, was sie sagten, aber es amüsierte
mich trotzdem.
Es wurde ein feuchtfröhlicher Abend. Wir sprachen von alten Zeiten, erzählten
und lachten. Als ich im Taxi nach Hause fuhr, dachte ich daran, wie schön
dieser Abend erst gewesen wäre, wenn Trixi dabei gewesen wäre. Etwas
war mir dabei deutlich geworden, ich vermisste sie und Romy schon jetzt, obwohl
ich sie noch am Morgen gesehen hatte.
-12-
Die Aufregung
hatte sich nur sehr zögerlich gelegt. Zu groß war die Empörung,
die durch das wahnsinnige Verhalten von Tanjas Exfreund bei den anderen Reitern
hervorgerufen wurde. Tommy, der auf dem Hof als Stallbursche und als eine Art
Platzwart beschäftigt war, hatte das durchgegangene Pferd von Tanja eingefangen
und beruhigt. Die Holsteiner Stute war ihrer Besitzerin völlig aus der
Kontrolle geraten und geradewegs auf das Wölpscher Moor zugelaufen. Es
war klar, dass Nena die ersten Reitstunden für Trixi auf den nächsten
Tag verschieben musste. Wotan war nach dieser Anstrengung natürlich völlig
erledigt. Trixi war’s recht. Auch wenn sie mir gegenüber am Morgen
noch getönt hatte, dass Reiten wie Fahrradfahren sei, so war ihr bei dem
Gedanken nach solch langer Zeit gleich auf einem derart großen Pferd zu
reiten, doch etwas mulmig zumute gewesen.
Vor allem, als sie sah, in welch bemitleidenswerten Zustand die kleine Tanja
Rehbein war, als sie von ihrem Vater abgeholt wurde. Sie hoffte, dass er dem
Exfreund seiner Tochter gehörig den Marsch blasen würde. Denn obwohl
Trixi ihr dazu geraten hatte, wollte Tanja ihren Verflossenen auch jetzt noch
nicht anzeigen.
Das Babyfon hatte Trixi auf den Tisch gestellt. Während sie sich zu Nena
in das ganz im Westernstiel eingerichtete Lokal setzte, machte es sich Sandy
zwischen den massiven Tischbeinen gemütlich. „Endlich Ruhe,“
schnaufte sie erledigt. „Jetzt habe ich Kohldampf! Was gibt es denn hier?“
Nena lächelte. „Lass dich überraschen. Ich habe uns schon etwas
Leckeres bestellt. Ich hoffe, es war dir recht?“ Trixi nickte eifrig.
„Mir ist alles recht. Hauptsache ich bekomme endlich etwas zwischen die
Zähne.“
Die Bestellung ließ nicht lange auf sich warten. „Bist du verrückt,
Nena, wer soll denn das alles essen?“, staunte Trixi, als die Bedienung
die riesige Fleischplatte auf den Tisch setzte. „Ich denke, du hast so
einen gewaltigen Hunger?“ „Ja, aber...“ „Quatsch nicht,
iss!“ „Wenn ich auch nur die Hälfte der Hälfte in mich
hineinstopfe, werde ich morgen noch immer so vollgefressen sein, dass ich noch
nicht einmal auf dein Pferd hinauf, geschweige denn meinen Hintern beim Reiten
hochbekomme.“
Nena verdrehte die Augen. „Das wirst du dir morgen früh beim Jogging
alles wieder ablaufen.“ „Beim Jogging?“, ächzte Trixi.
„Ach ja, ich vergaß dir zu sagen, dass wir uns um acht Uhr zum Laufen
treffen.“ „Ach ja, machen wir das?“ Nena starrte auf den Bauch
ihrer Freundin. „Wird Zeit, dass dein Babyspeck wieder runter kommt. Meinst
du nicht?“ Trixi ließ ihre Gabel fallen und schnappte nach Luft.
„Also, nun reicht es aber!“ „Nena verzog ihr Gesicht zu einer
grinsenden Fratze. Plötzlich prustete sie vor Lachen. „Reg dich ab,
mein Schatz. Wir müssen nur Wotan von der Weide holen. Er steht heute Nacht
zum ersten Mal in diesem Jahr wieder draußen.“
Trixi sah ihre Freundin besorgt an. „Ist das nicht riskant? Ich habe gerade
erst vor ein paar Tagen etwas über einen Verrückten in der Zeitung
gelesen, der bei Nienburg ein Pferd auf der Weide getötet hat.“ „Ja,
eine wirklich schlimme Sache. Glaube mir, es kostet mich jedes Mal einiges an
Überwindung, wenn es wieder soweit ist, dass die Pferde auf die Koppel
gehen. Aber Pferde sind keine Haustiere. Man kann sie nicht ständig im
Stall belassen. Manche haben Asthma oder eine Allergie gegen Stroh. Nein, nein,
die Tiere brauchen einfach den Wind, der ihnen um die Nüster weht. Frisches
Gras und den Platz, sich auszutoben.“ Trixi seufzte. „Na, wenn du
meinst.“ „Außerdem haben wir uns vorgestern getroffen und
wegen genau dieser Geschichte beschlossen, dass Tommy in der ersten Woche draußen
bei den Pferden schläft. Im Unterstand gibt es einen Heuboden. Da ist er
sofort da, falls die Herde unruhig ist und kann Alarm schlagen.“ Trixi
verzog das Gesicht. „Nicht gerade ungefährlich für eine einzelne
Person.“ Nena winkte ab. „Das haben wir uns natürlich auch
überlegt. Aber der Pferderipper hat noch niemals gegen einen Menschen Gewalt
ausgeübt. Sobald er gestört wird, sucht er das Weite.“ „Na,
wenn das so ist... Aber trotzdem wird das nichts mit dem Jogging. Ich kann mir
Romy ja nicht auf den Rücken schnallen.“ „Das brauchst du auch
gar nicht, liebste Freundin. Ich habe schon mit Katja gesprochen. Sie wird sich
so lange um deine Kleine kümmern. Wie du siehst, habe ich an alles gedacht.“
„Aha.“ Trixis Gesicht sprach Bände. „Wer zum Kuckuck
ist Katja?“ „Sie ist hier Küchenhilfe. Eine ganz Liebe, ehrlich.“
-13-
„Sag
mir endlich, wer der Kerl ist, der dir das angetan hat! Herr Morgentau hat davon
gesprochen, dass er den Kerl schon öfter auf dem Reiterhof gesehen hat.
Dabei soll er stets in deiner Begleitung gewesen sein. Unterhältst du mit
dem Typ eine Beziehung?“ Robert Rehbein hatte während des Gesprächs
mit seiner Tochter merklich die Stimme erhoben. Eigentlich wollte er es gar
nicht, aber dies war, wann immer er sich über etwas aufregte, eben so seine
Art.
Tanja druckste herum. Sie fühlte sich plötzlich von ihrem Vater in
die Enge getrieben. Sollte sie ihm beichten, dass sie mit einem acht Jahre älteren
Mann ein Verhältnis hatte? Es war klar, welche Schlüsse er daraus
ziehen würde. „Nun, lassen Sie das Kind doch erst einmal zur Besinnung
kommen,“ kam ihr Adelheid, langjährige Haushälterin und gute
Seele der Familie, genau im richtigen Moment zu Hilfe. „Sie sehen doch,
wie durcheinander sie noch ist.“ Tanja schmiegte sich an die Schulter
der alten Dame, um deren Worte zu unterstreichen.
Doch der Programmierer ließ nicht locker. „Meine Güte, ist
Ihnen denn wirklich noch nicht der Gedanke gekommen, dass dieser Typ Tanja ohne
weiteres wieder auflauern könnte? Irgendwo, vielleicht an einer noch abgelegenen
Stelle. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn
dieser Stallbursche nicht derart geistesgegenwärtig gehandelt hätte.“
Adelheid Kruse wurde zusehends blasser um die Nase. Selbst ihr nicht gerade
spärlich aufgetragenes Rouge konnte dies nicht vertuschen. „Meinen
Sie wirklich?“ Sie wandte sich an Tanja. „Hat dein Vater recht,
Kind? Hat dich dieser Mann absichtlich erschreckt?“
Tanja versuchte ihrem Vater das Geschehen im Reiterhof auch weiterhin als einem
Unfall dazustellen. „Warum sollte mir Harald so etwas antun?“ „Also,
Harald heißt der Kerl!“, unterbrach ihr Vater sie schroff. „Ihr
wart also zusammen?“ Tanja nickte kleinlaut. Robert Rehbein verlor allmählich
die Geduld. „Nun rede endlich! Lass dir doch nicht jedes Wort einzeln
aus der Nase ziehen!“ Tanja brach in Tränen aus. „Ja, ja, ja!
Wir waren miteinander befreundet. Ja, wir haben auch miteinander geschlafen!
Damit du es ganz genau weißt!“ Nun verlor auch Robert Rehbein stark
an Gesichtsfarbe. „Und jetzt hast du mit ihm Schluss gemacht, nicht wahr?“
Tanja vermochte ihrem Vater nicht in die Augen zu sehen. Sie nickte kaum merklich.
„Aber er bedrängt dich weiterhin. Akzeptiert nicht, dass du nichts
mehr mit ihm zu tun haben willst. Ist es so?“ Herausfordernd beobachtete
er seine Tochter. Sie lag in Adelheids Armen und schluchzte.
Nur ganz allmählich fasste sie sich wieder. „Er hatte mich schon
auf dem Weg zum Reiterhof abgepasst.“ Die Worte quälten sich nur
sehr zögerlich über ihre Lippen. „Er hielt mich fest und redete
eine Menge wirres Zeug. Seine Hände umklammerten meine Arme wie Schraubzwingen.
Harald verlangte, dass ich zu ihm zurückkomme. Als ich ihm wieder und wieder
klar zu machen versuchte, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen, drehte
er durch. Ich hatte ihn nie zuvor so in Rage erlebt. Er schüttelte mich
und zerrte mich vom Weg. Ich hatte panische Angst. Wer weiß, was geschehen
wäre, wenn in diesem Moment nicht gerade Nena und ihre Freundin hinzugekommen
wären.“
Robert Rehbein und seine Haushälterin sahen sich fassungslos an. „Aber
Kind, warum hast du uns das nicht schon viel früher gesagt. Du hättest
doch deinen Vater oder mich sofort anrufen müssen.“ So sehr, wie
in diesem Moment hatte Tanja ihre Mutter schon seit Jahren nicht mehr vermisst.
Adelheid machte eine beschwichtigende Handbewegung in die Richtung, in der Robert
Rehbein das Wohnzimmer zum wiederholten Male durchmaß. Er hatte gerade
tief Luft geholt, um seiner Tochter einige, seiner Meinung nach passende Worte,
zu sagen. Er schluckte sie herunter. „Aber dann hätte Papa doch von
Harald erfahren.“
„Das habe ich so auch! Trotzdem ist dein Kopf noch dran. Du bist 16! Ein
Alter, in dem die meisten Mädchen bereits erste sexuelle Erfahrungen gesammelt
haben. Ich müsste mir Sorgen machen, wenn es bei dir anders wäre.“
Tanja sah erstaunt auf. Alles hatte sie von ihrem Vater erwartet, doch mit so
viel Verständnis hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Selbst Adelheid
sah den Hausherren abwartend an. So, als würde sie auf einen Zusatz warten.
Doch der kam nicht. Statt dessen strich Robert seiner Tochter zärtlich
durch das Haar und tröstete sie.
„Trotzdem muss der junge Mann kapieren, wann er dich in Ruhe zu lassen
hat. Wenn du dich von ihm getrennt hast, warum auch immer, dann hat er dies
zu akzeptieren. Wenn er um dich kämpfen will, ist auch das in Ordnung,
aber dann soll er es bitte schön in einer angemessenen Weise tun.“
Robert ließ sich in den Sessel nieder, der dem Sofa gegenüberstand,
auf dem die beiden Frauen saßen. „Nachdem, was du uns nun erzählt
hast, kann wohl tatsächlich davon ausgegangen werden, dass es sich bei
dem Vorfall am Reiterhof nicht um eine vorsätzliche Tat, sondern um einen
Unfall handelte.“ Tanja atmete erleichtert auf. „Nichtsdestotrotz
möchte ich jetzt den Nachnamen und die Adresse deines Exfreundes. Wenn
du wirklich nichts mehr mit dem jungen Mann zu tun haben möchtest, halte
ich es für angebracht, wenn ich ihm dies in einem vernünftigen Vieraugengespräch
mitteile.“ Noch immer etwas skeptisch, aber dennoch erleichtert, tat Tanja
schließlich um was sie ihr Vater gebeten hatte.
Das in Roberts Innerem eigentlich ein Vulkan brodelte und dass er sich nur mit
Mühe zurückhalten konnte, dem Typ vielmehr gehörig die Leviten
lesen wollte, band er seiner Tochter natürlich nicht auf die Nase. In diesem
Augenblick war er so ziemlich zu allem bereit, um seine Tochter vor einem weiteren
Übergriff zu schützen. Solche Kerle hatte der Programmierer zuhauf
kennen gelernt. Typen wie der, konnten es nicht ertragen, wenn sie eine Abfuhr
bekamen. Sie fühlten sich in ihrer zweifelhaften Ehre gekrängt. Ihr
dürftig ausgeprägtes Selbstwertgefühl kam mit einer derartigen
Abfuhr nicht zurecht. Deshalb gab es nur eine einzige Möglichkeit, dem
Kerl den Willen seiner Tochter verständlich zu machen, die einzige, die
er verstehen würde - mit Gewalt.
-14-
Trixi hatte
nach einem feucht fröhlichen Abend gut geschlafen. Nur ein einziges mal
hatte Romy sie aus den Träumen gerissen. Es hätte ein so perfekter
Morgen werden können und nun dies. Nie im Leben hatte Trixi so früh
mit ihrer Freundin gerechnet. Doch die Stimme, die jenseits der Tür Einlass
begehrte, gehörte eindeutig zu Nena. Selbst die Morgensonne blinzelte nur
sehr zögerlich zwischen den schmalen Schlitzen hindurch, die das Rollo
warf. Trixi drehte sich auf die Seite und drückte sich das Kissen über
den Kopf. Doch das Pochen an der Tür wurde lauter und eindringlicher. „Hau
ab!“, rief Trixi unter dem Kissen hervor. „Es ist noch mitten in
der Nacht. Normale Menschen schlafen noch.“ „Hast du unsere Verabredung
zum Jogging vergessen?“, schallte es zurück. „Mach endlich
auf, du Langschläferin.“ Trixi tat einen vorsichtigen Blick auf ihre
Armbanduhr. „Halb acht! Bist du verrückt? Ich wollte ausschlafen,“
wetterte sie und drehte sich auf die andere Seite. Doch so leicht ließ
sich ihre Freundin nicht vertreiben. „Nun gib dir einen Ruck und öffne
endlich die Tür.“
Trixi walzte sich nur sehr widerwillig aus dem Bett. Auf dem Weg zur Tür
stolperte sie über Sandy, die ebenfalls keine Anstallten machte, sich zu
erheben. „Du bist eine alte Nervensäge, weißt du das?“,
warf Trixi ihrer Freundin entgegen, als sie die Tür schließlich doch
aufzog. „Da lässt mich Romy schon mal ausschlafen und dann das.“
Nena stürmte an ihr vorbei, ans Fenster und ließ das Rollo nach oben
schnellen. Schlagartig war der Raum hell erleuchtet. „Was du hier treibst,
ist Nötigung,“ flachste Trixi. „Nenn es wie du willst, meine
Liebe. Fest steht, dass wir Wotan von der Weide holen wollen. Schließlich
sind wir zum Reiten hier und nicht zum Schlafen.“ „Und ich dachte,
dies wird ein erholsames Wochenende,“ seufzte Trixi und verschwand im
Bad.
Viel später, als Nena es eigentlich geplant hatte, joggten die beiden Frauen
mit Sandy in Richtung Pferdekoppel. „Wie weit ist es denn noch,“
jappte Trixi neben ihrer Freundin herlaufend. „Jetzt machst du aber Witze,
oder?“, gab Nena verblüfft zurück. „Wir sind doch gerade
erst losgelaufen.“ „Ist ja schon gut, ich frage ja auch nur interessehalber.“
In Wirklichkeit begannen sie bereits leichte Seitenstiche zu piesacken. Nena
grinste schelmisch. „Ich dachte schon, du wolltest schlapp machen.“
„Das hättest du wohl gern,“ riss sich Trixi zusammen und verschärfte
ihr Tempo.
Sandy war’s recht. Die Golden Retriever Hündin konnte sich endlich
mal wieder so richtig austoben. Sie trabte den beiden Frauen genüsslich
voraus und ließ keinen Baum, der am Wegrand stand ohne ihre Duftmarke
zurück.
Trixi hatte sich während der letzten Minuten immer häufiger an die
Seite gegriffen. Nena war dies nicht verborgen geblieben. Sie kannte ihre Freundin
ganz genau. Um nichts in der Welt hätte sie es zugegeben, wenn sie nicht
mehr konnte. Schließlich war es noch nicht einmal ein Jahr her, dass sie
im Sport auf der Uni eine der Besten war. Nena stoppte plötzlich ab. „Lass
uns ein Stückchen gehen,“ keuchte sie übertrieben. Trixi lächelte
gequält. „Du kannst wohl schon nicht mehr.“ „Tja, sieht
so aus, als sei ich etwas aus dem Training.“ „Ehrlich gesagt, hätte
ich auch keinen Meter weiter laufen können,“ schnaubte Trixi. „Wir
sind sowieso gleich an der Weide. Ich bin gespannt, ob Tommy schon wach ist.“
Kurz darauf standen die Frauen vor dem Unterstand. Die Pferde waren sofort auf
sie zugekommen. Bisher hatten sie den jungen Mann noch nicht gesehen. Wahrscheinlich
hatte er sie auch noch nicht bemerkt. Nena legte den Finger über die Lippen
und deutete Trixi an, leise zu sein. Dann stieg sie über den alten Weidezaun
und bückte sich unter dem Schwachstromdraht hindurch, der die Koppel umspannte.
Die Stuten folgten ihr neugierig. Wotan wurde ungeduldig. Er stand auf der Nachbarkoppel
und sah ihr interessiert zu. Nena hatte den Unterstand erreicht, wo sie nach
einigen Schritten für Trixi nicht mehr zu sehen war. Es war ihr von Anfang
an klar, was ihre Freundin vor hatte. Wenn sie an die Streiche dachte, die Nena
während ihrer gemeinsamen Schulzeit auf der Pfanne hatte, tat ihr der arme
Tommy jetzt schon leid.
Nicht einmal zwei Minuten später hörte sie den spitzen Schrei eines
Erschrockenen und das schadenfrohe Lachen ihrer Freundin. Seinen Worten nach
schien der Stallbursche über die Art wie er geweckt wurde, alles andere
als erfreut zu sein. Es waren nur Wortfetzen, die Trixi aus dem Inneren des
Unterstandes vernahm. Das sie nicht zu einer Dankesrede passten, wurde schon
anhand der Tonart klar, in der die Silben zu ihr nach draußen drangen.
Sie musste den armen Kerl eiskalt erwischt haben.
Es dauerte geraume Zeit, bis sich der junge Mann wieder einigermaßen gefangen
hatte. Der Grund dafür lag in Nenas Hand und war nicht mehr als ein Radkappengroßes
Stück Baumrinde, das im Halbdunkel des Heubodens vor ihrem Kopf wie eine
mystische Fratze wirkte. „Das kriegst du wieder,“ schimpfte Tommy
mit gequältem Lächeln. „Verlass dich drauf.“ Nena hatte
ihren makaberen Streich nicht für eine einzige Sekunde bedauert. Im Gegenteil,
es bereitete ihr sichtliches Vergnügen, den immer noch blassen jungen Mann
mit lockeren Sprüchen hoch zu nehmen. „Das zahle ich dir bei Gelegenheit
heim. Darauf gebe ich dir mein Wort.“ „Ach, das schaffst du doch
sowieso nicht. Eher führe ich dich noch zwei mal an der Nase herum, als
das du mich einmal dabei erwischst.“ Tommy stutzte. „Die Wette gilt!“
Trixi warf Sandys Stöckchen einmal mehr gelangweilt den mit Schotter befestigten
Weg hinunter. Wieder apportierte die Hündin das Holz und legte es ihrem
Frauchen vor die Füße. „Ich will euch beiden Turteltauben ja
nicht stören, aber so langsam bekomme ich Hunger. Schließlich sind
wir ja auch zum Reiten hier - oder?“, sagte sie Nenas eigene Worte mit
spitzer Zunge wiederholend. „Ja, du hast recht. Es wird Zeit.“ „Wenn
es den Damen beliebt, werde ich euch zurück begleiten. Hier passiert jetzt
sowieso nichts mehr. Außerdem habe ich auch Kohldampf und eine heiße
Dusche könnte ich jetzt allemal vertragen.“
Während Nena Wotan das Halfter anlegte und den Wallach von der Weide holte,
packte Tommy seinen Schlafsack zusammen. „Hast du keine Angst so allein
da draußen?“, fragte Trixi den Blondschopf auf dem Weg zum Reiterhof.
„I wo, erstens weiß ja keiner, dass ich auf dem Heuschober Wache
halte und zweitens werden die Pferde unruhig, wenn sich ein Unbekannter nähert.“
„Wache halten ist gut,“ stichelte Nena.
-15-
Der Mann
hinter dem Steuer war zornig und voller Wut. Er fuhr schneller als gewöhnlich.
Seine Gedanken waren nur von einer einzigen Idee beseelt. Er wollte dem Kerl,
der seiner Tochter nachstellte, gehörig auf die Füße treten.
Egal wie, er wollte diesem Spinner ein für allemal klar machen, dass er
seine schmutzigen Pfoten von Tanja lassen sollte.
Nur mit äußerster Mühe hatte sich der erfolgreiche Programmierer
zurückhalten können, während ihm seine Tochter von der Affäre
mit diesem Wahnsinnigen berichtete. Am Sterbebett hatte er seiner geliebten
Frau versprochen, sich intensiv um die gemeinsame Tochter zu kümmern. Sie
von allem Bösen fern zu halten und sie zu einem anständigen, charakterstarken
Menschen zu erziehen. Dieses Versprechen war ihm mehr als eine Aufgabe geworden.
Robert Rehbein bog in die Straße, in der, nach Auskunft seiner Tochter,
ihr Exfreund wohnte. Die Reifen seines Wagens quietschten, als er ihn ungebremst
um die Kurve lenkte. Hastig tasteten seine Blicke die Hauswände beiderseits
der Straße nach ihren Hausnummern ab. Da - endlich hatte er das richtige
Haus gefunden. Er bremste unvermittelt. Hinter ihm hupte ein Autofahrer. Viel
hatte nicht gefehlt und der hinter ihm fahrende Wagen wäre aufgefahren.
Wild gestikulierend überholte ihn der wütende Fahrer. Robert achtete
nicht darauf. Es interessierte ihn schlicht nicht. Statt dessen verglich er
sicherheitshalber noch einmal die Hausnummer mit der, die auf seinem Zettel
stand. Sie waren identisch.
Er querte die Straße und parkte den Wagen direkt vor dem Haus. Dass dort
ein Halteverbotsschild stand, war ihm gleichgültig. Er nahm sich nicht
einmal die Zeit, seinen Wagen mit der Fernbedienung seines Autoschlüssels
zu verriegeln. Das Mehrfamilienhaus aus den frühen Siebzigern hatte sicherlich
auch schon bessere Zeiten gesehen. An seiner Fassade blätterte bereits
großflächig der Putz und hinter einigen Fenstern hingen die Gardinen
nur noch in Fetzen von der Stange. Aber auch dafür hatte der wütende
Mann, der die kleine Treppe vor der Eingangstür gerade zu empor sprang,
keinerlei Blicke übrig. Sein Daumen betätigte den Taster, der das
Flurlicht im Inneren des Hauses anschaltete. Der matte Schein, der durch die
trübe Fensterscheibe auf das seitlich angebrachte Klingeltableau fiel,
reichte nicht aus, um die Namen darauf zu entziffern. Schließlich nahm
er sein Feuerzeug zur Hilfe. Während er nach dem Namen suchte, ging er
ein letztes Mal die Worte durch, mit denen er den Kerl zur Ordnung rufen wollte.
Sein Pulsschlag erhöhte sich, als er den Klingelknopf betätigte. Seine
Hand presste sich gegen die Tür. Er wartete gebannt auf den Summton, der
die Türverriegelung öffnen würde. Doch das Summen blieb aus.
Robert drückte ein weiteres Mal und noch einmal auf den weißen Knopf
neben dem Namen, der auch auf seinem Zettel stand. Aber auch jetzt tat sich
nichts. Robert ging die Stufen der Steintreppe unentschlossen herunter. Sein
Blick war nach oben gerichtet. Er beobachtete die Fenster des Hauses. Vielleicht
würde sich hinter einer der Glasscheiben etwas regen. Möglicherweise
würde auf sein Klingeln ein weiteres Licht angeschaltet. Der zornige Mann
auf der Straße wurde immer wütender. Er bildete sich ein, aus einem
der Fenster beobachtet zu werden. Er spürte förmlich, wie man sich
über ihn lustig machte und das machte ihn rasend. Seine Hände ballten
sich zu Fäusten, die er drohend in den Himmel hob und seine Stimme entlud
donnernd, was sich in seinem Innersten angestaut hatte. „Ich kriege dich,
du Saukerl! Früher oder später kriege ich dich und dann wirst du für
das bezahlen, was du meiner Tochter angetan hast!“
-16-
Ich kannte
den Mann auf dem Barhocker. Noch wusste ich nicht woher, aber alles an ihm kam
mir irgendwie vertraut vor. Jede seiner Bewegungen, seine Eigenheiten und die
Konturen seines Körpers. Noch hatte ich ihn nicht von vorn gesehen, aber
ich war mir trotzdem sicher ihn zu kennen. Von meinem Platz aus konnte ich ihn
gut beobachten. Er hatte getrunken, viel getrunken, soviel, dass er sich kaum
noch auf dem Hocker halten konnte. Seine Arme umschlangen die beiden abgetakelten
Fregatten, die sich links und rechts an ihn lehnten. Zum dritten Mal hatte er
ihnen nun schon, in kurzer Folge, Drinks spendiert. Sie kreischten und lachten,
ohne eigentlich zu wissen warum sie es taten. Zu dumm waren die Sprüche,
mit denen der Mann auf dem Hocker um ihre Aufmerksamkeit buhlte.
Ich hoffte darauf, dass sich der Typ endlich herumdrehte, damit ich sein Gesicht
sah. Doch er tat mir den Gefallen nicht. Statt dessen pöbelte er nun einen
anderen Gast an, der nicht weniger Alkohol intus hatte, als er selber. Die beiden
Streithähne sprangen auf und gerieten schnell aneinander. Der Hocker meines
vermeintlich Bekannten kippte nach hinten und krachte scheppernd zu Boden. Mir
war klar, dass sich die Beiden jeden Moment an den Kragen gehen würden.
Die beiden Bordsteinschwalben kicherten nicht mehr und suchten das Weite. Ich
erhob mich von meinem Platz und ging auf die Streithähne zu. Doch noch
ehe ich sie erreicht hatte, wurde der Mann, den ich zu kennen glaubte, von einem
Schwinger schwer getroffen. Er stolperte mir, mit dem Rücken voraus, genau
in die Arme. Als er laut schimpfend seinen Kopf drehte und ich ihn endlich von
vorn sah, erschrak ich fast zu Tode. Ich blickte in mein eigenes Gesicht.
Ich hatte den Mann gesehen, der wahrscheinlich aus mir geworden wäre, wenn
ich Trixi nicht getroffen hätte. Schweißgebadet, mit einem gehörigen
Schreck in den Gliedern erwachte ich aus meinem Traum und sah mich irritiert
in der Wohnung um. Ich war allein. Klar, Trixi war nicht da und sie hatte Romy
und Sandy mitgenommen. Aber es war unsere Wohnung und vor dem großen Panoramafenster
am Fußende des Bettes tauchte die aufgehende Frühlingssonne die allmählich
erwachende Wesermetropole in ein goldenes Licht. Ein neuer Tag hatte begonnen
und ich war immer noch der Alte.
Ich schob mein schockierendes Erlebnis auf das reichhaltige Essen, welches mir
am Abend zuvor von meinem italienischen Freund Angelo serviert worden war. Die
Möglichkeit, dass der dabei genossene Alkohol eine Mitschuld an meinen
Fantasien gehabt haben könnte, schob ich weit von mir. Immer noch etwas
benommen, schielte ich auf die Ziffern des neben dem Bett stehenden Radioweckers.
Es war 8 Uhr. In zwei Stunden begann mein Bereitschaftsdienst. Ich hatte also
noch genügend Zeit, um mich in aller Ruhe fertig zu machen.
Auf dem Weg zum Präsidium dachte ich für einen Moment lang neidisch
an meine Kollegen, die sich ein schönes Wochenende machen konnten. Aber
dann musste ich der Fairness halber eingestehen, dass mir beide den Rücken
frei gehalten hatten, damit ich mich während der letzten Wochen meiner
bevorstehenden Vaterschaft mehr um Trixi kümmern konnte. Sie hatten sich
dieses freie Wochenende wahrlich verdient.
Wie immer stellte ich meinen Wagen auf dem Parkplatz des Innenhofes ab. Bevor
ich ausstieg, fiel mein Blick auf die Fotos von Romy und Trixi. Sie lächelten
mir aus einem Rahmen, der am Armaturenbrett klebte, freundlich zu. Ich atmete
noch einmal tief und quälte mich schließlich aus der Blechkarosse
ins Freie. Erst jetzt bemerkte ich, wer inzwischen neben meinem Wagen geparkt
hatte. „Hallo, Mike,“ begrüßte mich mein alter Freund,
der Leiter der Spurensicherung, Kommissar Hans Stockmeier. Genau wie ich war
der Kollege an diesem Wochenende zum Bereitschaftsdienst eingeteilt.
Ich war erfreut ihn zu sehen, denn falls es Arbeit gab, konnte ich mir keinen
besseren Kriminaltechniker an meiner Seite wünschen. Hans und ich hatten
bereits eine Vielzahl von Verbrechen gelöst. Ich schätzte seine solide
und zuverlässige Arbeit ganz besonders. Der bereits ergraute Mann von Mitte
fünfzig Jahren, war eine stattliche Erscheinung. Mit seinem akkurat gepflegten
Schnurrbart hatte er etwas von einem schottischen Schlossherrn.
„Willst dir wohl auch mal wieder das Wochenende um die Ohren schlagen,“
seufzte er, während er eine Aktentasche von der Rücksitzbank seines
Daimlers angelte. „Vielleicht wird es halb so schlimm,“ hoffte ich.
„Edda und Aron haben Urlaub. Ich muss also allein die Stellung halten.“
Hans legte seine Hand auf meine Schulter. „Notfalls hast du ja auch noch
Lutz und mich.“ Ich lächelte gequält zurück.
Auf meinem Schreibtisch stapelten sich immer noch ein ganzes Teil von ungeklärten
Mordfällen, die wir in den vergangenen Tagen auf eine mögliche Aufklärung
durch neue Methoden bei der Genforschung überprüften. Ein Berg von
verstaubten Akten, der den meisten Platz auf meinem Schreibtisch ausfüllte.
Fürs erste versuchte ich ihn zu ignorieren und kochte mir stattdessen einen
Kaffee. Irgendwann klemmte ich mich dann doch hinter den Aktenberg und zog mir
wahllos einen der Fälle heraus.
Es ging um einen Fall, der inzwischen schon acht Jahre zurück lag. Gerd
Kretzer, damals noch mein Chef und Leiter der Mordkommission 2, musste einen
sehr tragischen Fall bearbeiten. Ein neunjähriges Mädchen war das
Opfer eines Mordes wurden. Der Täter hatte das arme Ding vor ihrem Tode
brutal missbraucht und schließlich in einem Waldstück bei Vegesack
verscharrt. Da das Opfer erst Wochen später von Spaziergängern entdeckt
wurde, gab es durch Wildfrass, und Witterungseinflüsse keinerlei verwertbare
Spuren mehr. Bei der Obduktion des Mädchens konnte allerdings ein Abstrich
aus dem Vaginalbereich sichergestellt und konserviert werden. Mit der neuen
DNA Technik würde es selbst nach einer derart langen Zeit noch möglich
sein, einen genetischen Fingerabdruck zu erstellen. All jene Personen, die damals
mit dem Mädchen in Berührung kamen, können dann zu einem freiwilligen
Speicheltest herangezogen werden. Die Erfolgsaussichten den Täter in diesem
Umfeld zu ermitteln, liegt bei erschreckenden 80 Prozent.
Ich studierte also die Akte der kleinen Jasmin Gruber, machte mir Notizen und
erfasste all jene, die meiner Ansicht nach für einen solchen Test in Frage
kamen. Gottlob hatte Gerd den damaligen Fall in allen Einzelheiten zu Papier
gebracht. Aber etwas anderes hatte ich ohnehin nicht erwartet. Stundenlang saß
ich über der Akte, trank meinen Kaffee und bemerkte dabei überhaupt
nicht wie die Zeit verging. Als ich aufsah, dämmerte es draußen bereits
wieder. Mit einem Blick auf das Telefon vergewisserte ich mich noch einmal,
dass der Hörer tatsächlich korrekt aufgelegt war. Ich hatte wirklich
keinen einzigen Anruf erhalten.
-17-
Es war Nachmittag,
als sich Harald Wendland von dem völlig verwühlten Sofa wälzte.
Die Gardinen waren immer noch zugezogen und die Luft in dem kleinen Wohnzimmer
stank nach abgestandenem Bier und Zigarettenqualm. Bis tief in die Nacht hatte
er in die Flimmerkiste geglotzt und es sich gut gehen lassen. Dabei war es ihm
ziemlich egal, was seine Oma von ihm dachte. Im Gegenteil, es war ihm ein besonders
Vergnügen, sie wie eine Dienstmagd zu behandeln. Sie mit immer neuen Wünschen
zu gängeln. Irgendwann konnte und wollte die alte Dame nicht mehr. Sie
verschwand still und leise in ihrem Schlafzimmer, ohne sich weiter um ihren
missratenen Enkel zu kümmern. Es war das erste Mal, dass sie sich wieder
einschloss. Das erste Mal, seitdem Harald bei ihr ausgezogen war.
Der ungepflegte Mann mit dem Pagenschnitt und den eigentümlich langen Koteletten
stieß beim Aufstehen an den Wohnzimmertisch. Scheppernd kippten einige
Flaschen um. Er achtete nicht weiter darauf. Selbst das nur spärlich, durch
den geschlossenen Vorhang, eindringende Tageslicht blendete ihn. Er blinzelte
aus schmalen Sehschlitzen und tastete sich denn mehr zur Tür hin, als dass
er sie wirklich gesehen hätte. Es war seine Blase, die ihn dazu trieb,
seine Bettstadt zu verlassen.
Gerlinde saß starr vor sich hinschweigend am Küchentisch. Obwohl
psychisch am Ende, hatte sie während der Nacht kein Auge zugetan. Nicht
einmal als sie hörte, wie im Nebenraum die Flaschen klirrten, schreckte
sie auf. Durch die geriffelte Glasscheibe im oberen Teil der Tür, sah sie
ihn vorbeihumpeln, doch ihr Blick blieb starr, so, als nehme sie gar nicht wahr,
was sie sah.
Minuten später - an der Haltung der alten Dame hatte sich zwischenzeitlich
nichts geändert - flog unvermittelt die Küchentür auf und krachte
scheppernd gegen die Wand. Gerlinde schreckte hoch. „Was ist, gibt es
nichts zu essen?“ Harald stand, nur mit seiner Unterhose bekleidet, im
Rahmen der Tür und glotzte seine Oma herausfordernd an. „Ich muss
sagen, der Service war hier früher besser.“ Die alte Dame antwortete
ihm nicht. „Sind meine Klamotten wenigstens fertig?“, fragte er
vorwurfsvoll weiter.
Gerlinde deutete wortlos auf einen Küchenstuhl, der vor dem bullernden
Beistellherd stand. Über der Rückenlehne hing seine noch feuchte Hose
zum Trocknen. Auf einer Zeitung, neben dem Stuhl, standen seine Stiefel. Auch
sie waren wieder blitzblank gewienert. Sein Hemd hing über einem Bügel,
den die alte Frau an einen Haken über den Herd gehängt hatte. Erst
jetzt fiel sein Blick auf die Sitzfläche des Stuhles und seine schroffen
Züge bekamen eine weiche Nuance. Er grinste und in seinen gierigen Augen
funkelte es, denn er sah einige Geldscheine, die wie ein bunter Fächer
übereinander lagen. Es waren die letzten Ersparnisse einer gezeichneten
Frau. Ihr Notgroschen für schlechte Zeiten.
„Deine Sachen sind trocken. Nimm das Geld hin und verschwinde. Ich bete
zu Gott, dass ich dich niemals wieder sehe.“ Haralds Finger grapschten
hastig nach den Scheinen. Er warf einen abschätzenden Blick darauf, knickte
das Bündel einmal in der Mitte und stopfte es in eine der Gesäßtaschen
seiner Hose. „Ich wusste doch, dass du noch nicht pleite bist, Omilein.“
Dann stieg er in die Hose und riss das Hemd vom Bügel. Als er sich bückte,
um die Stiefel von der Zeitung zu nehmen, fiel sein Blick auf die Schlagzeile,
der darunter liegenden Zeitung. „Der unheimliche Pferderipper schlug wieder
zu “.
Es war wie ein Geistesblitz, der ihn in diesem Moment durchzuckte. Er stellte
die Stiefel bei Seite und nahm die Zeitung auf. Interessiert faltete er sie
weiter auseinander und breitete sie auf dem Küchentisch aus. Dann las er
eifrig, was unter den fett gedruckten Lettern geschrieben stand. Gerlinde ertrug
es nicht länger, sich mit ihrem Enkel in einem Raum aufhalten zu müssen.
Angewidert wandte sie sich ab und ließ ihn allein. Sie ging hinüber
in ihr Wohnzimmer. Zog die Gardinen auf und öffnete das Fenster. Der Gestank
war noch immer unerträglich. Sie hob die leeren Flaschen vom Fußboden
auf und räumte auch den Tisch ab. Irgendwann vernahm sie erleichtert, wie
die Haustür zuklappte.
-18-
Trixi und
ihre Freundin hatten einen ereignisreichen Tag hinter sich gebracht. Nachdem
Trixi ihre anfängliche Angst vor Nenas Friesen überwunden hatte, klappte
es mit jeder Minute, in der sie im Sattel saß, besser und besser. Am Nachmittag
kam es ihr fast schon so vor, als hätte sie nie mit dem Reiten aufgehört.
Natürlich konnte sie sich längst nicht mit Nenas Reitkünsten
messen, dafür fehlte es ihr noch an der nötigen Sicherheit und dem
Gleichklang der Bewegung, einer Harmonie die Pferd und Reiter nach einer gewissen
Zeit verbinden. Aber wie sollte sie auch, wo ihr nicht einmal ein halbes Pferd
gehörte.
Für den nächsten Tag hatten sie bei Burghardt Morgentau, dem Besitzer
des Reiterhofes, ein besonders liebenswertes Pferd für einen gemeinsamen
Ausritt bestellt. Zu diesem Zweck hatten sie sich auch mit Tommy verabredet,
der den Mädchen die schönsten Flecken der Umgebung zeigen wollte.
Trixis Reitunterricht war nur deshalb in diesem Umfang möglich, weil sich
Katja, die Küchenhilfe, rührend um unsere Tochter kümmerte. Auch
Sandy war auf ihre Kosten gekommen. Die drei jungen Terrierhunde des Besitzers
hatten sie den ganzen Tag lang unter Beschlag genommen.
Während Nena den geduldigen Wotan nach seinem arbeitsreichen Tag gefüttert,
abgerieben, gestriegelt und mit Streicheleinheiten verwöhnt hatte, kümmerte
sich Trixi um unsere Tochter.
„Na, alles in Ordnung?“, fragte Nena ihre Freundin, als sie sich
zum Abendessen im Westernrestaurant trafen. Trixi deutete auf das mitgebrachte
Babyfon. „Hörst du etwas?“ Nena schüttelte den Kopf. „Romy
war so fertig, dass sie mir direkt beim Windeln einschlief.“ „Sicher
die gute Landluft,“ mutmaßte Nena. „Das kann schon sein,“
gab ihr Trixi recht. „Wenn man bedenkt, wo Katja die Kleine auch überall
herumgefahren hat. War schon eine prima Idee von dir, Nena.“ „Ja,
ohne die Gute hätten wir sicher halb so viel Zeit zum Reiten gehabt. Du
hattest Glück, dass sie an diesem Wochenende frei hat.“ „Warum
wohnt sie eigentlich hier auf dem Reiterhof?“, erkundigte sich Trixi.
„Soviel ich weiß, war sie vor ein paar Jahren als Aupair Mädchen
in die Familie des Besitzers gekommen und ist geblieben. Sie stammt eigentlich
aus Belgien.“ „Das hätte ich nicht gedacht. Ihr Deutsch ist
nicht schlechter als unseres,“ lobte Trixi anerkennend.
Draußen, auf dem großen Hof des Anwesens gingen bereits die Laternen
an. Graue Wolken verdunkelten den Himmel. Der Abend hielt Einzug in Wölpsche.
Die letzten Reiter kehrten von ihren Ausritten zurück und versorgten ihre
Pferde. Die Frauen unterhielten sich über die am nächsten Tag bevorstehende
Exkursion in die Umgebung. Gerade als Nena aus dem Fenster sah, führte
Tommy Wotan über den Hof. Er hatte sich angeboten, das Pferd über
Nacht mit auf die Weide und am nächsten Morgen wieder mit zurück zu
bringen. Als er die beiden Frauen hinter der Fensterscheibe entdeckte, winkte
er ihnen lächelnd zu. Sie sahen dem jungen Mann nach, bis er mit dem Pferd
hinter den Bäumen und Sträuchern verschwand, die den Weg zur Weide
säumten.
„Was ist eigentlich mit Tommy? Wohnt der auch hier auf dem Reiterhof?“,
fragte Trixi interessiert, während sie ihnen nachschauten. Nena verzog
ihre Nase. „Tja, weißt du, mit Tommy ist das so eine Sache. Ich
habe mal gehört, dass er Drogen genommen haben soll, bevor er durch eine
Sozialarbeiterin eine Therapie machte und dann zu den Morgentaus kam.“
Trixi wog nachdenklich den Kopf. „Ein netter Junge. Hoffentlich bleibt
er clean.“ „Stimmt,“ pflichtete ihr Nena bei. „Um den
wäre es wirklich Schade.“ „Er scheint ein gutes Händchen
für Pferde zu haben.“
Sandy schnellte unvermittelt hoch und sah sich hektisch um. „Was ist denn
mit deinem Hund los?“ Trixi streichelte die Hündin abwartend zwischen
den Ohren und folgte ihren Blicken. „Keine Ahnung, aber sie scheint unruhig
zu sein. Vielleicht spürt sie irgend etwas.“ „Tiere haben den
siebten Sinn,“ merkte Nena an. „Die wittern es, wenn etwas schreckliches
bevorsteht.“ Trixi sah ihre Freundin verwundert an. „Meine Güte,
du kannst einem ja richtig Angst machen.“ Nena zog die Stirn in Falten.
„Das ist noch gar nichts. Du hättest mal hören sollen, was mir
meine Oma für haarsträubende Geschichten erzählt hat, wenn ich
sie in den Winterferien besucht habe.“ „Du hast mir nie von einer
Oma erzählt,“ wandte Trixi augenzwinkernd ein. „Na ja, sie
wurde zum Schluss etwas wunderlich. Aber fest steht, dass, wann immer ein Familienmitglied
stirbt, fällt eine Topfblume aus der Fensterbank der Hinterbliebenen.“
„Aber jetzt willst du mich eindeutig auf den Arm nehmen.“ Trixi
sah ihrer Freundin tief in die Augen. Doch die blieb ernst und von einer inneren
Besorgnis erfüllt, die nun auch von meiner Lebenspartnerin Besitz ergriff.“
Obwohl sich Sandy inzwischen beruhigt hatte und sie es sich wieder zwischen
den Tischbeinen bequem gemacht hatte, war es jetzt Trixi, die sich nervös
umblickte. „Irgendwie läuft mir eben ein Schauer nach dem anderen
über den Rücken. Ich habe einfach keine Ruhe mehr. Bitte nimm den
Hund für einen Moment. Ich gehe erst einmal hinauf und sehe nach Romy.“
Nena nickte stumm. Es lag plötzlich eine seltsam bedrückende Atmosphäre
in der Luft.
-19-
Der Friese
schien irgend etwas gehört zu haben, was nicht an diesen Ort passte. Wotan
scheute etwas und hielt dann aufmerksam den Kopf in den Wind. Tommy stoppte
ebenfalls und zog das Halfter etwas straffer zu sich heran. „Ist ja gut,
mein Junge.“ Dann klopfte und streichelte er dem Friesen beruhigend den
Hals. „Braver Junge. Aber da ist nichts.“ Doch Tommy lebte lange
genug mit den intelligenten Vierbeinern zusammen, um zu wissen, dass sie nicht
umsonst scheuten. Immer wieder sah er sich nach etwas außergewöhnlichem
um, doch er konnte nicht erkennen, was Wotan aufhorchen ließ. Tommy dachte
an einen ausgewilderten Hund oder an einen tollwütigen Fuchs. Diese Tiere
verhielten sich alles andere als normal, sie liefen nicht vor größeren
Tieren oder dem Menschen davon, sondern waren, sofern sie der Hunger trieb,
schlicht auf Beute aus.
Einen Moment lang blieben sie noch stehen. Wotans Halfter immer noch straff
gespannt, verharrten Pferd und Reiter in absoluter Ruhe. Tommy lauschte angespannt
in den kleinen Wald hinein und beobachtete das auf der anderen Seite des Weges
gelegene Sumpfgebiet, welches direkt in das sogenannte Wölpscher Moor überging.
„Na, Junge, ich glaube, du hörst schon das Gras wachsen.“ Mit
diesen Worten zog er das Halfter mit sich und das ungleiche Paar setzte seinen
Weg in Richtung Weide fort.
Sie hatten die Koppeln beinahe erreicht, als Tommy monotones Hämmern von
Discomusik hörte. „Also, das hast du vorhin gehört,“ schlussfolgerte
er erstaunt. „Aber die Musik kennst du doch. Das ist sicher der Player
von Corinna. Du weißt doch, dass die pubertäre Ziege nicht ohne ihre
Mucke ausreitet. Aber ich verstehe dich schon, mein Junge, mein Geschmack ist
sie auch nicht - und damit meine ich sowohl die Musik als auch die Kleine. Aber
das bleibt unter uns Männern - okay?“ Wotan wieherte nicht, aber
für Tommy war es klar, dass der Wallach ihn verstanden hatte.
„Ich schätze, du möchtest der Lady auch nicht begegnen,“
sagte der genervte Stallbursche und zog das Pferd, ohne die Antwort seines vierbeinigen
Begleiters abzuwarten, vom Weg herunter. Etwas Abseits verharrten sie im Dickicht
und warteten, bis der Teenager an ihnen vorbei gegangen war. Es waren nicht
mehr als 400 Meter, die Weide und Reiterhof von einander trennten, aber vor
allem in der Dämmerung war der Gang von den Weideflächen zurück
zum Hof, besonders für die weiblichen Reiter nicht ungefährlich. Vielleicht
hatte Corinna auch deshalb immer ihren Musik Player dabei.
Endlich angekommen, band Tommy den Wallach am Zaun an und öffnete das Gatter.
Wieder tippelte Wotan unruhig von den Vorder- auf die Hinterläufe. Diesmal
waren es jedoch die Stuten auf der Nachbarkoppel, die ihn in Aufregung versetzten.
„Tja, mein Junge, ich kann dich ja gut verstehen,“ sagte Tommy mitfühlend,
als er Wotans begehrliche Blicke bemerkte. „Aber so leid es mir tut, diese
Weide ist für dich tabu.“ Es schien, als habe der Friese die Worte
des Stallburschen verstanden. Er senkte seinen Kopf und stupste Tommy an der
Schulter. So, als wolle er den Jungen damit auffordern, beide Augen zuzudrücken.
Tommy lachte und rieb dem Wallach zärtlich zwischen den Augen. „Ne,
ne, mein Alter, daraus wird nichts. Ich komme in Teufels Küche, wenn ich
dich zu den Stuten lasse.“ Unbeirrt zog er das Halfter an und führte
Wotan auf die Nachbarkoppel zu den anderen Pferden.
-20-
Seit etwa
einer Stunde lag die dunkel gekleidete Person auf der Isomatte und beobachtete
durch ein Fernglas was auf der, etwa 100 Meter vor ihr, in nordöstlicher
Richtung, gelegenen Weide, vor sich ging. Zunächst hatte sie eine junge
Frau bemerkt, die, zu ihr ungeliebten Klängen, ein Pferd auf der Koppel
abstellte. Zumindest handelte es sich um eine besonders schöne Stute.
Es würde die erste Nacht sein, die jene Gestalt an dieser abgelegenen Weide
verbrachte. Sie war für ihre Zwecke wie geschaffen. Soweit sie es bereits
nach so kurzer Zeit beurteilen konnte, hielten sich die Tiere meistens im vorderen
Teil der Koppel auf. Dies schlussfolgerte sie aus den vielen Hufabdrucken, die
an dieser Stelle zu sehen waren. Es gab einen großen Unterstand, in dem
ausreichend Platz für alle Pferde war.
Die Person setzte für einen kurzen Moment das Fernglas ab, rollte sich
auf den Rücken und schüttelte ihre müden Arme aus. Sie schmerzten
bereits ein wenig. Schließlich goss sie sich einen Schluck heißen
Tee aus der mitgebrachten Thermoskanne in den Becher und trank genüsslich.
Sofort darauf setzte sie das Fernglas erneut an. Sie sah, wie sich die junge
Frau wieder von der Weide entfernte. Kurz darauf beobachtete die Gestalt einen
Mann, der seinen Wallach auf der Nachbarkoppel abstellte. Zu ihrer Verwunderung
verschwand der Mann in dem Unterstand. Die unbekannte Person stellte das Glas
schärfer ein und lies dass anvisierte Ziel nicht mehr aus den Augen, bis
die einsetzende Nacht jegliche Konturen verschluckte.
Der Mann hatte den Unterstand immer noch nicht wieder verlassen. Auch dies erlebte
die unbekannte Person nicht zum ersten Mal. Es war die Angst vor dem Pferderipper,
die einige Besitzer zu diesem Schritt veranlasste. Nichts ungewöhnliches
und auch nicht weiter störend. Bereits nach einigen Nächten waren
die Tiere wieder allein auf der Weide. Man konnte sie nicht ewig bewachen. Die
dunkle Gestalt packte ihre Sachen zusammen, um den recht gut versteckten Beobachtungsposten
zu verlassen. In dieser Nacht würde sie in ihrem Vorhaben ohnehin nicht
näher kommen.
Gerade als die Person ihre Matte zusammenrollte, vernahm sie in nur kurzer Entfernung
das Knacken eines Astes. Die Gestalt sah sich nach allen Seiten um. Doch es
war bereits zu dunkel, um noch etwas zu erkennen. Irgend etwas war nur wenige
Meter hinter ihr und was immer da auch war, es kam näher und näher.
Die Gestalt warf sich auf den Boden und verharrte so geräuschlos wie möglich.
Der Schein einer Taschenlampe flackerte zwischen den Bäumen hindurch. Jetzt
konnte die am Boden kauernde Person einen Mann mit Parka erkennen. Der Mann
geriet ins Straucheln. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe traf für den
Bruchteil einer Sekunde das eigene Gesicht. Trotz der, bis weit über die
Stirn gezogen Kapuze, konnte die am Boden liegende Gestalt seine Züge deutlich
erkennen. Sie presste sich noch tiefer in den Mondschatten. Der Lampenschein
streifte sie fast und entfernte sich sogleich wieder. Die Schritte des Mannes
bebten über den mit Moos bewachsenen Waldboden. Sie kamen näher, waren
jetzt direkt neben ihr. Die Person hielt den Atem an. Ihre Finger umklammerten
den Griff einer Machete, deren Klinge noch in einer Lederhülle steckte.
Keine zwei Hand breit neben ihr blieb der Kapuzenmann stehen und leuchtete die
Umgebung ab. Sekunden wurden scheinbar zu Stunden. Muskeln und Sehnen der am
Boden Kauernden spannten sich mehr und mehr an. Mit jedem Wimpernschlag konnte
die Situation eskalieren. Endlich setzte der Mann seinen Weg fort. Das Leuchten
seiner Lampe zog eine gerade Linie, hinüber zu den Pferdekoppeln.
Die unbekannte Gestalt erhob sich zögernd. Die Neugier veranlasste sie,
dem Mann mit dem Licht zu folgen. Den Lederriemen, der die Machete in dessen
Schaft sicherte, hatte sie inzwischen gelöst. Nur das dürftige Mondlicht,
welches hin und wieder zwischen den Baumwipfeln hindurch auf den Waldboden traf,
wies ihr den Weg. Immer wieder peitschten ihr, die mit spitzen Nadeln besetzten
Zweige der Tannen ins Gesicht. Aber hier konnte sie einigermaßen sicher
sein, nicht entdeckt zu werden.
Plötzlich hatte sie den Kapuzenmann direkt vor sich. Sie duckte sich hinter
eine noch kleine Tanne und beobachtete, was keine zehn Meter von ihr entfernt
vor sich ging. Der Mann hatte die Weide erreicht. Erst jetzt bemerkte die Gestalt
die Lanze, die der Mann mit sich trug. Sie konnte kaum glauben, was sie sah.
Der Mann öffnete das Gatter der Koppel. Selbsttätig schloss es sich
hinter ihm wieder. Dann ging er ohne sich weiter darum zu kümmern, auf
den Unterstand zu, in dem einige Stuten Schutz suchten.
Von seinem Standort aus konnte die unbekannte Person genau in das Innere des
Holzverschlages sehen. Wollte sich der Typ mit der Lanze hier mit dem anderen
Kerl treffen, den die Gestalt hinter der Tanne bereits zuvor beobachtet hatte?
Sekunden später erhielt sie die Antwort auf ihre Frage. „Wenn du
glaubst, dass du mich mit einer derart albernen Kostümierung erschrecken
kannst, Nena, dann hast du unsere kleine Wette schon verloren,“ rief einer
der Männer aus dem Unterstand. Im selben Augenblick gellte ein markerschütternder
Schrei durch die Dunkelheit des Waldes. Die Pferde verließen panisch den
Unterstand. Der Mann im Parka hatte blitzschnell die Lanze herumgerissen und
ohne Vorwarnung zugestoßen. Der Andere griff sich an den Bauch, starrte
ungläubig mit schmerzverzerrtem Gesicht in das Licht der Taschenlampe und
sackte in sich zusammen.
Der Kapuzenmann beugte sich zu seinem Opfer herab. Er sagte etwas zu ihm und
suchte das Weite. Am Gatter jaulte er unvermittelt auf, besah sich fluchend
seine Hand und wickelte ein Taschentuch darum. Dann eilte er auf dem Weg davon,
der zum Reiterhof führte.