Mike Winter

Teil 14                  Stalking

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Familiengericht im Amtsgericht der freien Hansestadt Bremen. Sitzungssaal 7

„Bitte erheben Sie sich, meine Damen und Herren.“ Jasmin Bitter zitterte am ganzen Körper. All ihre Hoffnung richtete sich auf das Verständnis, welches sie sich von dem kauzigen Richter erhoffte, der noch schnell das Papier unterzeichnete, mit dem sich jetzt, in diesem Augenblick, entscheiden würde, welche Richtung ihr weiteres Leben nehmen würde. Ein letzter, verstohlener Blick wanderte quer durch den Gerichtssaal, wo Wolfgang mit seiner Verteidigerin saß. Wie sicher er sich seiner Sache war. Wie sonst sollte sie das hämische Grinsen in seinem Gesicht sonst deuten. Sie sah ihm direkt in die Augen, versuchte seine Gefühle zu deuten, doch was sie darin deutete, ließ sie zusammenzucken. Im ersten Moment wollte sie ihre Augen abwenden, wollte sich in das nächste Mauseloch verkriechen, doch dann zwang sich Jasmin, seinem stechenden Blick standzuhalten. Sich ihm nicht mehr unterordnen, sich nicht mehr schuldig fühlen, woran auch immer. Sie dachte an eine neue Zukunft, in der sie endlich wieder atmen konnte.

„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Dem Antrag auf eine Härtefallscheidung kann nicht entsprochen werden.“ Die Worte des Richters schlugen in ihr ein wie ein Trommelfeuer. Während ihr Gegenüber triumphal seine Faust in die Höhe reckte, knickten ihre Beine ein. Die Dreiunddreißigjährige musste sich auf der Tischplatte abstützen, um nicht gänzlich zusammenzubrechen. Bitte nehmen Sie wieder Platz, meine Damen und Herren.“

Die Worte des Richters drangen nur noch wie durch einen dichten Nebel zu Jasmin durch. Die Frau mit den langen roten Haaren, die in wallenden Locken über ihre nackten Schultern fielen, starrte ihre Anwältin flehentlich an. „Wir werden in die Berufung gehen,“ flüsterte ihr die Advokatin aufmunternd zu. Aber auch die tröstenden Worte ihrer Anwältin verhallten ungehört. Die tiefen Ringe unter den Augen der Rothaarigen wurden feucht.

„Zur Begründung ist folgendes zu sagen: Das Gericht sieht die, seitens der Klägerin vorgebrachten Gründe als nicht ausreichend an. Der Wille des Antragsgegners, sich einer Therapie zur Behandlung seiner übersteigerten Eifersucht zu unterziehen, lässt auf sein aufrichtiges Bemühen schließen, an der Ehe festhalten zu wollen. Es ergeht daher folgender Beschluss: Mit dem heutigen Datum tritt ein Trennungsjahr in Kraft, welches dem Gericht, insbesondere beiden Parteien Klarheit darüber verschaffen soll, ob ihre Ehe wirklich zerrüttet ist. Abschließend ergeht daher folgender Beschluss: Die gemeinsame Tochter Larissa verbleibt, ihrem eigenen Wunsch entsprechend, bei der Antragstellerin. Daraus folgt, dass der Antragsgegner die gemeinsame Wohnung in der Kolberger Straße 32a innerhalb eines Monats seiner Ehefrau und der gemeinsamen Tochter zu überlassen hat. Die Kosten des Verfahrens werden der Antragstellerin auferlegt. Gegen dieses Urteil kann binnen einer Woche Rechtsmittel eingelegt werden. Ihr Rechtsbeistand wird Sie dementsprechend beraten. Damit ist die Sitzung geschlossen.“

Jasmin sah, wie Wolfgang die Hand seines Anwaltes schüttelte, sie sah, wie der Richter die Akte zuschlug und sich erhob. Auch die unbeteiligten Zuhörer und die Zeugen, die in den Bänken saßen, standen nun auf und drängten aus dem Saal. Jasmin registrierte es, doch in ihrem Innersten kam ihr alles wie ein böser Traum vor. Noch immer starrte sie auf das Pult, hinter dem der kauzige Mann mit der schwarzen Robe gesessen hatte. „Es ist vorbei,“ hörte sie die Stimme ihrer Anwältin sagen, doch begreifen konnte sie es immer noch nicht. Musste sie nicht schon genug durchmachen? Okay, ihre Ehe hatte auch ihre guten Zeiten, aber was bedeuteten schon zwei, drei gute Jahre, wenn die letzten zehn die Hölle waren?

Als sich der Nebel vor ihrem geistigen Auge lichtete, war es das aufmunternd lächelnde Gesicht ihrer Tochter, in das sie blickte. „Vielleicht meint er es ja wirklich ernst,“ formten ihre zarten Lippen einen Satz, der weniger von Überzeugung als von Hoffnung getragen wurde. Auch ihr waren die Demütigungen ihres Vaters während der letzten Jahre nicht verborgen geblieben. Noch nicht einmal vor der Fünfzehnjährigen hatte sich Wolfgang beherrschen können. Immer und immer wieder musste Larissa dieselben Vorwürfe mit anhören, wurde sie Zeuge seiner Eifersuchtsattacken. Anfangs war es nicht leicht, Larissa von der Haltlosigkeit seiner Vorwürfe zu überzeugen.

Um so mehr sich Jasmin bemühte, ihrem Ehemann keinen Grund zu einem neuen Ausbruch zu geben, um so schlimmer wurde es. Zum Schluss war es schon so weit, dass ihr Wolfgang Verhältnisse mit dem Postboten oder mit dem Klassenlehrer ihrer Tochter unterstellte. Ja, ohne ihn durfte sie nicht mal mehr das Haus verlassen. Er kontrollierte sie auf Schritt und Tritt. Wenn er zur Arbeit ging, klemmte er das Telefon ab und der freundliche Türke in der Pizzeria, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, sollte Buch darüber führen, wann sie das Haus verließ. Als er ihr von dem Ansinnen ihres Ehemannes erzählte, war das Maß für Jasmin voll und sie beschloss, sich von Wolfgang zu trennen.

„Glaubst du das wirklich, Larissa?“, fragte ihre Mutter ungläubig. Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Kann doch sein, oder?“ „Dein Vater wird sich niemals ändern und das weißt du.“ Jasmin atmete einige Male tief durch. Sie bemerkte, wie Wolfgang den Gerichts-saal verließ, ohne sie eines einzigen Blickes zu würdigen. „Können wir?“, fragte die junge Anwältin, nachdem sie sich ihrer Robe entledigt hatte. „Ich würde gern noch einen Augenblick warten, wenn Sie verstehen,“ entgegnete Jasmin zögerlich. „Ich verstehe, aber früher oder später müssen Sie sich ihm stellen.“ Jasmin sah zu Boden, sie seufzte, zog sich die Jacke zu dem Kostüm über, welches sie sich extra zu diesem Anlass gekauft hatte und zupfte sie zurecht. „Okay,   bringen wir es also hinter uns!“

Wolfgang wartete vor dem Auto auf den Rest seiner Familie. Jasmin schritt, von ihrer Tochter und der Anwältin flankiert, die Steintreppe vor dem Gerichts-gebäude hinunter. Mit jedem Schritt, der ihren Abstand zu ihm verkürzte, wuchs der Kloß in ihrem Hals, vergrößerte sich ihre Unsicherheit. Sie riss sich zusammen, versuchte stark zu sein, versuchte ihre Angst zu überspielen. Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas wie Angst vor diesem Mann verspürte. Nicht etwa, weil er sie jemals geschlagen hatte, nein, dieser Mann kannte andere Mittel, um sich ihren Respekt zu verschaffen. Allein sein Blick vermochte es, ihr die Kehle zuzuschnüren.

„Besteht trotz des Trennungsjahres die Möglichkeit, meine Familie mit dem Auto mitzunehmen, oder muss meine Frau auf ein öffentliches Verkehrsmittel aus-weichen?“, zwinkerte er der Anwältin zu. „Schließlich haben wir den gleichen Weg.“ Wanda Keller sah den Mann ihrer Mandantin durchdringend an. „Sie wissen, dass Sie sich innerhalb eines Monats eine andere Wohnung suchen müssen?“ Wolfgang zuckte mit den Achseln. „Leicht fällt es mir nicht, meine gewohnte Umgebung zu verlassen und es wird sicher nicht einfach eine passende Unterkunft zu finden, aber es ist ja nur für- kurze Zeit. Ich gehe davon aus, dass mein Schatz schon bald erkennen wird, was sie an mir hat.“

„Kapiere endlich, dass es zwischen uns aus ist! Unsere Beziehung ist am Ende,“ entlud sich das angegriffene Nervenkostüm der Dreiunddreißigjährigen. „Ich liebe dich nicht mehr!“ Tränen kullerten über ihr Gesicht, ließen die Schminke in ihrem Gesicht verlaufen. Larissa nahm ihre Mutter tröstend in den Arm. „Papa hat es bestimmt nicht böse gemeint.“ „Wir zwei sind für- einander bestimmt,“ verkündete Wolfgang unbeirrt. „Hast du vergessen, was der Geistliche uns damals mit auf den Weg gab? Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“

„Was Ihre Frau jetzt vor allem braucht, ist Ruhe und etwas Zeit für sich, um sich über die Gefühle zu Ihnen klar zu werden,“ beschwor Wanda Keller. Jasmin traute ihren Ohren nicht. Was um Himmels Willen war nur in ihre Anwältin gefahren? Ihre entsetzten Blicke suchten in den Augen der Vertrauten verzweifelt nach einer Antwort und fanden diese schließlich in einem kaum merklichen Zwinkern ihres Lides. „Wenn es nur das ist, wäre dieses ganze Affentheater hier nicht nötig gewesen,“ entgegnete Wolfgang verständnislos. „Sie vergessen Ihre krankhafte Eifersucht. Machen Sie diese Therapie und geben Sie meiner Mandantin die Zeit, die sie braucht, um erst einmal zur Ruhe zu kommen. Alles weitere wird sich dann von allein finden.“

Hinter der Stirn von Wolfgang Bitter arbeitete es fieberhaft. Im Grunde verstand er den ganzen Aufwand nicht. Jede andere Frau wäre glücklich gewesen, einen solchen Mann an ihrer Seite zu wissen. Okay, vielleicht hatte er tatsächlich einige Male etwas überreagiert, aber warum musste ihn Jasmin auch ständig zur Weißglut bringen. An dem völlig überflüssigen Blödsinn mit der Therapie kam er wohl nicht vorbei. Warum sollte er sich nicht auch eine Auszeit gönnen, das Leben ein wenig genießen und gleichzeitig, wenigstens scheinbar, auf den Vorschlag der Anwältin eingehen? Sollte Jasmin doch sehen, wo sie ohne ihn bliebe. Er wusste nur zu genau, wie unbeholfen sie teilweise war.

„Wenn Sie meinen, dass meine Frau so am ehesten zur Vernunft kommt, will ich ihr nicht im Wege stehen. Soll sie in Gottes Namen zu sich selber finden. Hauptsache , sie wird am Ende wieder normal.“ „Was glaubst du eigentlich, wer ...!“ Mehr brachte sie nicht heraus. Ein plötzlicher Druck auf ihrem Fuß ließ sie verstummen. Gleichzeitig war ihr die Anwältin ins Wort gefallen. „Sie sehen ja, dass Ihre Frau völlig neben sich steht. Ich denke, dass eine vorübergehende Trennung für Sie beide momentan das Beste ist. Sie werden sehen, so renkt sich alles am schnellsten wieder ein.“ „Ihr Wort in Gottes Ohr,“ bekundete der Mann mit dem Oberlippenbart und den weit nach oben reichenden Geheimratsecken skeptisch. „So ganz bin ich zwar noch nicht davon überzeugt, aber wenn Sie meinen, dass es so das Beste ist..." „Sie werden sehen.“

„Was ist nun?, wandte sich Wolfgang seiner Frau und der gemeinsamen Tochter zu. „Steigt ihr nun ein oder nicht?“ „Ihre Frau fährt bei mir mit,“ entgegnete Wanda, noch ehe ihre Mandantin eine Antwort geben konnte. „Wir haben noch einiges zu besprechen.“ Jasmin verstand gar nichts mehr. Was um alles in der Welt gab es nun noch zu bereden? „Okay, dann fahre ich bei Papa mit,“ entschied sich der Teenager. „Vielleicht sollten Sie die Zeit nutzen, die ich mit Ihrer Frau unterwegs sein werde, um die räumliche Trennung innerhalb Ihrer gemeinsamen Wohnung so gut es geht zu vollziehen.“ Damit zog Wanda ihre Mandantin mit sich. Die Türen des Geländewagens klappten und kurz darauf rollte der Chrysler Cherokee an den beiden Frauen vorbei.

„Es war Ihnen doch recht, dass ich Sie ein wenig überrumpelt habe?“ Jasmin griff in ihre Handtasche. Ihre Hände zitterten immer noch. „Darf ich rauchen?“ „Ausnahmsweise,“ entgegnete die Anwältin verständnisvoll. Es dauerte einen Moment, bis die Zigarette endlich glimmte. Der Geruch von verbranntem Tabak verteilte sich schnell in der kleinen Fahrgastzelle des braunen Opel Corsa. „Was sollte das Gerede, von wegen ich müsse nur zur Ruhe kommen und dass ich mir über meine Gefühle zu Wolfgang klar werden müsste? Ich habe mich an Sie gewandt, weil ich so schnell wie möglich von meinem Mann geschieden werden will.“ „Dessen bin ich mir bewusst, aber Sie müssen nun sehen, dass Sie aus der Situation das Beste machen. Der Richter hat Ihnen das Trennungsjahr auferlegt. Bis es zu einer Berufung kommt, können Monate vergehen. Ob es in einer weiteren Verhandlung zu einer Härtefallscheidung kommen wird, ist völlig offen. Sie sollten ihrem Mann vielmehr, zumindest scheinbar, die Hoffnung geben, dass Sie nur eine Auszeit brauchen, um ihre Ehe zu retten.“  

Das Gesicht der Rothaarigen hellte sich auf. Ihre Züge wurden weicher und jetzt, da sie begriff, welche Strategie ihre Anwältin verfolgte, begann sie sogar wieder ein wenig zu lächeln. „Sie wollen ihn in Sicherheit wiegen, damit er mir keine Schwierigkeiten macht.“ „Genau! Sie können sich gar nicht vorstellen, zu was Männer fähig sind, denen man das Spielzeug weggenommen hat. Ich werde Ihnen dabei helfen, zur Abwechslung mit Ihrem Mann zu spielen.“

Der Corsa stoppte vor dem Hochhaus, in dem sich die kleine Kanzlei von Wanda Keller befand. „Wir sollten unsere weitere Vorgehensweise miteinander abstimmen,“ sagte Wanda, während die beiden Frauen in dem klapprigen Fahrstuhl in das oberste Stockwerk des Ärztehauses rumpelten. „Darüber hinaus benötige ich noch einige Unterschriften wegen der Berufungsverhandlung.“

Jasmin sah ihre Anwältin fragend an. „Meinen Sie, dass eine Berufung überhaupt Sinn macht?“ „Es ist Ihre Entscheidung. Jeder Tag, den Sie eher geschieden werden, ist ein Tag, an dem Sie wieder ein freier Mensch sein können. „Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich bei der ganzen Sache kein gutes Gefühl.“ „Überlegen Sie sich alles ganz in Ruhe. Ein weiterer Gerichtstermin ist natürlich auch mit zusätzlichen Kosten verbunden.“ Jasmin seufzte. „Wir haben eine Woche Zeit, um den Einspruch bei Gericht einzureichen. Im Moment sieht noch alles düster aus, aber möglicherweise haben sich die Wogen bereits in einigen Tagen geglättet. Lassen Sie Ihren Mann erst einmal ausgezogen sein, dann sieht die Welt schon ganz anders aus.“ Jasmin rang sich ein müdes Lächeln ab. „Ich hoffe, Sie haben recht.“

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„Na endlich!“, entfuhr es Trixi. Verwundert versuchte ich an ihrer aufgeklappten Zeitung vorbei in ihr hübsches Gesicht zu sehen, doch es blieb bei dem Versuch. Wie jeden Morgen trennten uns auch heute die riesigen, weit auseinander gehaltenen Seiten der Bremer Tageszeitung. Allmählich verstand ich die Frauen, die sich angesichts eines derartigen Verhaltens von ihren Ehemännern ignoriert, verschmäht, ja sogar entwürdigt vorkamen. Jegliche Versuche, eine morgendliche Konversation in Gang zu bringen, scheiterten an der Unüberwindlichkeit eines gigantisch erscheinenden Blattes Papier.

„Was hast du gesagt?“, fragte ich denn auch so interessiert, wie man eben sein kann, wenn man tatsächlich einen Kommentar zu hören bekommt, der sich nicht nur auf ein gelegentliches „oh“, ein „aha“ oder ein „mh“ beschränkte. Zu meiner Überraschung nahm Trixi die Zeitung herunter. „Es wurde endlich ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der Stalking unter Strafe stellen soll. Was in Amerika schon längst gang und gäbe ist, soll nun auch bei uns eingeführt werden.“ „Sicher nicht verkehrt,“ mampfte ich, während ich mir den Rest meines Brötchens einverleibte.

„Nicht verkehrt?“, wiederholte Trixi entrüstet. „Das ist ja mal wieder typisch Mann.“ Ich hatte den Ernst der Lage offensichtlich nicht richtig eingeschätzt. „Bislang mussten Frauen, die es wagten, sich von ihren Partner zu trennen und daraufhin von ihnen drangsaliert wurden, doch erst den Kopf unterm Arm tragen, ehe deine Kollegen etwas unternahmen. „Also ganz so ist es nun auch wieder nicht,“ setzte ich mich im Namen der Kollegen zur Wehr. „Mir ist im Augenblick zwar kein konkreter Fall bekannt, aber ich bin mir sicher, dass einer derartigen Anzeige genauso nachgegangen wird, wie jeder anderen Straftat.“ Trixi hob den Zeigefinger. „Siehst du, genau dies war bislang der Punkt. Eine Straftat kann erst dann verfolgt werden, wenn die rechtlich relevanten Merkmale gegeben sind.“

Der letzte Bissen meines Brötchens blieb mir fast im Halse stecken. Auch wenn ich Trixi nur ungern Recht geben wollte, so musste ich mir doch eingestehen, dass ich mich bislang viel zu wenig mit diesem Thema beschäftigt hatte. „Also schön, es ist sicherlich sehr zu begrüßen, wenn es so bald wie möglich eine rechtliche Handhabe gibt, die das Vorgehen der Kollegen in dieser Grauzone reglementiert.“ „Meine Güte, Mike, wie redest du denn, hast du gerade einen Stock verschluckt, oder ärgerst du dich etwa?“

Was für ein Morgen? Mir graute es jetzt schon vor dem Rest des Tages. „Ich bin nicht sauer,“ betonte ich so lässig wie nur irgend möglich, „Möchte wissen, warum ich sauer sein sollte? Und wenn, dann höchstens deshalb, weil ich jeden Morgen beim Frühstück gegen die Zeitung vor deinem Gesicht glotze!“ Trixi grinste herausfordernd. „Gilt nicht gleiches Recht für alle? Warst du es nicht, den ich Morgen für Morgen hinter der Zeitung suchen musste?“ Schlagartig wurde mir bewusst, worin ihr plötzliches Interesse am aktuellen Zeitgeschehen begründet lag. „Okay, du hast gewonnen. In Zukunft teilen wir uns eben die Zeitung,“ „Sieh bloss zu, dass du zur Arbeit kommst,“ blaffte sie mich scherzhaft an, während sie den leeren Eierbecher hinter mir her warf. Auch wenn es jetzt merkwürdig klingen mag, genau das war der Grund, weshalb ich so verrückt nach dieser Frau war.

An diesem Morgen brauchte ich keinen Umweg über die Faulenstraße zu machen. Arons alter Ford Taunus zeigte sich nach seiner letzten Frischzellenkur erstaunlich fit. Er brachte ihn nun schon seit drei Wochen ohne Mucken zum Präsidium. Was für die nostalgische Klapperkiste als eine herausragende Leistung zu bewerten war. Irgendwie fehlte mir das allmorgendliche Zetern meines Partners, während ich ihn zur Arbeit chauffierte. Man gewöhnt sich eben an beinahe alles. Als ich meinen Stammplatz im Innenhof des Präsidiums ansteuerte, musste ich einmal mehr feststellen, dass dort bereits der 17m meines Partners abgestellt war. Ich verdrehte die Augen. Was für ein Tag.

„Hallo Mike,“ begrüßte mich Kriminalrat Kretzer, der gerade mit dem Paternoster aus dem Keller kam und auf dem Weg nach oben war. Ich stieg zu und begrüßte meinen väterlichen Freund mit der gebotenen Höflichkeit. Immerhin war der ehemalige Leiter der Mordkommission 2 inzwischen zum ranghöchsten Bullen des Präsidiums avanciert. „Kann es sein, dass dir heute Morgen schon eine Laus über die Leber gelaufen ist? Gerd kannte mich wie kein zweiter in diesem Verein. Wir hatten schließlich einige Jahre zusammen-gearbeitet. Da lernt man einen Menschen kennen.

„Wie kommt ihr mit dem Taximord voran?“, erkundigte er sich nach dem aktuellen Fall, der uns erst vor einigen Tagen übertragen worden war. Eine Sache, die schon annähernd zwei Jahre zurück lag. Man hatte uns den Fall anvertraut, weil es immer dann, wenn Ermittlungen völlig ins Stocken geraten sind, von Vorteil sein kann, eine andere Kommission darauf anzusetzen. Jemand, der sich völlig neu in den Akt einarbeiten muss, ist in der Regel unvoreingenommen und sieht eventuell da Zusammenhänge, wo bislang nichts zu erkennen war. Ich machte ein zerknirschtes Gesicht. „Tja, also bislang haben wir nichts neues gefunden, wo wir einen Hebel ansetzen könnten.“ „Du weißt, dass mir diese Sache besonders am Herzen liegt. So lange nichts aktuelles herein kommt, bleibt ihr bitte am Ball.“ Ich wusste, dass Gerd das Opfer persönlich kannte. Klar, dass er in diesem Fall ganz besonders auf eine Aufklärung hoffte. „Wenn es irgend etwas gibt, was die Kollegen übersehen haben, werden wir es herausfinden, das verspreche ich dir.“ Gerd legte seine Hand auf meine Schulter. „Das weiß ich.“

Als ich die Tür zum Büro der MK 2 aufstieß, waren meine Kollegen bereits an der Arbeit. Obermeister Aron Baltus, unser fünfundzwanzigjähriger Computerexperte saß am PC und hämmerte zielstrebig auf der Tastatur herum. Mit ihm hatte ich schon als Kommissar unter Gerd Kretzer zusammengearbeitet. Ein hochgewach-sener Kerl, mit Füßen wie Elbkähne, einem schmalen Kinnbärtchen, welches er sich erst seit kurzem stehen ließ und kurz geschorenen Stoppelhaaren. Manchmal riss er seine Klappe ein wenig zu weit auf, aber hinter der Fassade ein durch und durch anständiger Kerl, auf den ich mich hundertprozentig verlassen konnte.

Ebenso wie auch auf Edda, meine Dienstpartnerin. Sie war Trägerin des zweiten Dans des Ju-Jutsu, einer fernöstlichen Kampfsportart, der sie sich in ihrer ganzen Lebensführung verpflichtet fühlte. Die zweite große Leidenschaft der Kriminalmeisterin war ihr Beruf, dem sie den Rest ihrer Zeit widmete. Privatleben? Fehlanzeige! Edda hielt nicht viel von Beziehungen. Sie war Single aus Überzeugung. Mit ihrem langen, streng nach hinten zusammen gebundenen Haar erweckte sie den Eindruck, dass Männer in ihren Augen nicht mehr als ein notwendiges Übel waren. Ein Übel, welches sie sich mit beiden Händen auf Abstand hielt. Dass dem nicht so war, wusste nur, wer sie wirklich kannte.

„Morgen Herrschaften,“ begrüßte ich den Rest unseres verschworenen kleinen Haufens. Eigentlich waren wir so verschieden, wie ein Team nur sein konnte, und dennoch gingen wir zusammen durch dick und dünn. Verstanden uns blind, wie man so sagt. „Noch Kaffee da?“, fragte ich in die Runde, während ich in mein Büro hinüber ging und das Jackett über die Rückenlehne meines Schreibtischstuhls streifte. „Weiß nicht, musst selber mal nachsehen,“ entgegnete Aron aus den Nebenraum. „Gibt es etwas neues?“ „Nicht wirklich,“ sah Edda kurz von den Akten auf, die sich auf ihrem Schreibtisch türmten. „Ich gehe gerade die Liste mit Herstellern durch, die Mäntel und Jacken herstellen, deren Fasern von den Kollegen der Spurensicherung auf dem Beifahrersitz des Taxis sichergestellt wurden. Wir können nur beten, dass es sich nicht um Ware aus dem Ausland handelt, ansonsten wird sich auch diese Spur auf irgendwelchen Handelswegen verlieren.“

Aus der Thermoskanne plätscherte der Rest einer braunen Soße, die irgendwann mal Kaffee war. Der Becher wurde zumindest noch halb voll. Einen Wimpernschlag lang dachte ich darüber nach, ob ich es wirklich wagen sollte. „Ich habe sämtliche Prints, die von den Kollegen der Spurensicherung im Taxi gefunden wurden, noch einmal mit unseren Datenbanken verglichen.“ Aron tat einen tiefen Seufzer. „Nichts. Es scheint, als habe der Typ Handschuhe getragen.“ „Wenn es eine spontane Tat war, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass der Täter mit Handschuhen herumläuft, zumal der Überfall im Hochsommer stattfand?“, gab ich zu bedenken. „Ich schätze eher, dass es sich bei dem Täter um jemanden handelt, der bislang noch nicht erkennungsdienstlich behandelt wurde.“ Aron verkniff das Gesicht. „Du glaubst also an eine spontane Tat?“ „Möglich, aber ich wollte eigentlich auf etwas anderes hinaus. Vielleicht will uns der Täter mit dem Überfall ja auch auf eine falsche Fährte locken.“ „Ein geplanter Mord?“, horchte Edda auf. „Warum nicht? Ihr wisst so gut wie ich, dass die meisten Täter aus dem näheren Umfeld des Opfers kommen. Ist in dieser Hinsicht eigentlich über das normale Maß heraus ermittelt worden?“

Ich griff nach einer der uns zur Verfügung gestellten Akten und suchte darin nach einem Absatz, den ich am Vortag überflogen hatte. „Aha, hier ist er ja. Wusst ich´s doch. ...erlitt die Ehefrau des Opfers während der Befragung einen Nervenzusammenbruch und wurde in die neurologische Abteilung des Zentralkrankenhauses eingeliefert. Hm.“ Ich blätterte weiter in der Akte, doch alles was ich fand, war eine Randnotiz, die auf ein Gespräch mit einem gewissen Doktor Schachtbauer hinwies, der in seiner Funktion als Neurologe und als der behandelnde Arzt am Wesersanatorium in Brinkum, jede weitere Befragung zum Mord an ihrem Gatten ablehnte.

„Mich würde mal interessieren, was aus der Witwe geworden ist,“ murmelte ich vor mich hin. „Wenn mich jemand sucht, ich fahre nach Brinkum.“ Aron zuckte mit den Achseln. „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was du dir davon versprichst, immerhin hatte die Gute seinerzeit ein hieb und stichfestes Alibi, aber vielleicht ergibt sich ja wirklich ein neuer Aspekt, der den Kollegen und uns bislang verborgen blieb.“

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„Sie hatten offensichtlich recht. Wolfgang ist gestern ausgezogen.“ „Na, das ging aber wirklich schnell.“ „Und stellen Sie sich vor, abgesehen von seinen üblichen Machosprüchen, hat er sich tatsächlich zurück gehalten.“ Jasmin Bitter schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass sie ihr Leben wieder in den eigenen Händen hielt. „Es kamen weder Vorhaltungen noch Beschimpfungen. Ganz im Gegenteil, er sagte, ich solle mir Zeit lassen, um zur Besinnung zu kommen.“

Wanda lehnte sich entspannt gegen die Lehne ihres mit schwarzem Leder bezogenen Drehstuhls und machte ein zufriedenes Gesicht. „Haben Sie sich denn inzwischen überlegt, ob wir gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen?“ Jasmin machte ein abwiegendes Gesicht. „Im Grunde habe ich ja jetzt alles, was ich wollte. Der Despot hat die Wohnung und mein Leben verlassen. Da ist es doch im Grunde egal, ob ich ein paar Monate früher oder später von ihm geschieden werde.“ „Er hat Ihr Leben nicht verlassen, er hat sich nur für einige Zeit zurückgezogen,“ gab Wanda zu bedenken. „Sie wissen, dass er dies unter falschen Voraussetzungen tat. Sowie er bemerkt, dass er an Boden verliert, wird er wieder bei Ihnen auf der Matte stehen.“ Jasmins Gesichtsausdruck wechselte schlagartig. Sie wurde nervös, Besorgnis zeichnete sich nun darin ab.

„Glauben Sie wirklich?“ „Ich hoffe, Sie haben das Türschloss zu Ihrer Wohnung bereits auswechseln lassen. Wenn nicht, gebe ich Ihnen den Rat, dies so schnell wie möglich nachzuholen.“ „Jetzt haben Sie mir aber wirklich Angst gemacht.“ „Das tut mir Leid, es war nicht meine Absicht Sie zu verunsichern, aber auf Grund meiner Erfahrungen, kann ich Ihnen nur dazu raten. Die wenigsten Männer lassen ihre Frauen in Frieden ziehen. Einschüchterungsversuche sind da noch die harmloseste Variante.“ „Ich kenne meinen Mann. Wenn er merkt, dass es keinen Sinn mehr hat, wird er einlenken. Schon unserer Tochter wegen.“ „Ich wünsche es Ihnen von ganzen Herzen. Sollte sich dennoch etwas anderes ergeben, scheuen Sie sich nicht mich anzurufen. Es gibt Mittel und Wege.“

Die Frauen hatten sich erhoben, Wanda war um ihren Schreibtisch herum gegangen, um ihre Mandantin zu verabschieden. „Sie können mich zu jeder Tages und Nachtzeit anrufen. Wenn alles glatt läuft, sehen wir uns zu Ihrer Scheidung wieder. Ich werde Sie rechtzeitig anschreiben.“ Jasmin nickte versonnen. „Ich wünsche Ihnen alles Gute.“

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„Frau Reiter hat sich etwa sechs Wochen bei uns aufgehalten. Ich kann mich noch gut an sie erinnern.“ Doktor Schachtbauer suchte in der Schublade mit den Patientenkarteien und zog schließlich ihre Unterlagen heraus. „Ist Frau Reiter immer noch bei Ihnen in Behandlung?“, fragte ich den noch recht jungen Arzt. „Nein. Der Aufenthalt bei uns zeigte angesichts der Umstände überraschend schnell eine positive Wirkung. Als sie uns verließ, ging es ihr erheblich besser. Natürlich hinterlässt ein derartiger Verlust tiefe Wunden, aber Frau Reiter ist eine Kämpfernatur.“ „Hat sie während des Aufenthaltes in Ihrer Klinik Angaben gemacht, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen, wie gut das Verhältnis zu ihrem Ehemann war?“

„Sie müssen verstehen, dass ich dazu keine Angaben machen kann, Herr Hauptkommissar. Die ärztliche Schweigepflicht – Sie verstehen?“ Ich verstand, wollte mich jedoch damit nicht zufrieden geben. „Der Mord an Michael Reiter ist immer noch nicht aufgeklärt. Es wäre sicher auch im Interesse seiner Frau, wenn wir endlich Licht in dieses Dunkel bringen könnten.“ Der Neurologe blätterte hastig in der Patientenakte. Dann ließ er die Papiere sinken und sah mich mit strengem Blick an. „Ich kann Ihnen keine Einzelheiten verraten, aber die Beziehung zu ihrem Ehemann, also dem Opfer, war alles andere als in Takt.“ Ich stutzte. „Wenn dem so ist, wundert es mich aber doch, dass Frau Reiter nach dem Mord an ihrem Gatten einen Nervenzusammenbruch erlitt.“ „Ein derartiges Ereignis wirft seine eigenen Schatten.“

Mehr war aus dem guten Doktor leider nicht herauszubekommen. Ich bedankte mich dennoch und machte mich auf den Weg nach Horn. Genauer gesagt in die Robert Bunsen Straße, wo Gesine Reiter, meinen Angaben nach, noch immer wohnte.   

Das Mehrfamilienhaus aus der Gründerzeit machte einen nicht mehr ganz taufrischen Eindruck. Die Anordnung der Klingelschilder verriet mir, dass sich ihre Wohnung unter dem Dach befinden musste. Nur dem Umstand, ihren Mädchennamen in der Akte gelesen zu haben, war es zu verdanken, dass ich die Klingel überhaupt fand. Da die Haustür nur angelehnt war, trat ich ohne zu läuten ein. Das Treppenhause war in einem tristen, gelinde gesagt, bescheiden Zustand. So stellte ich mir das Leben zur Jahrhundertwende vor. Es schien, als sei die Zeit hier stehen geblieben. Das wenige Licht, was durch die matten Fenster hereinströmte, wurde durch den grauen Putz an den Wänden förmlich aufgesogen. Die alten Holzstufen ächzten unter jedem meiner Schritte.

Babygeschrei, ein laut aufgedrehter Fernsehaperrat und orientalische Gerüche begleiteten mich auf dem Weg nach oben. Ich hatte mich nicht getäuscht, Gesine Reiter – oder besser gesagt Krüger, wie sie inzwischen wieder hieß, bewohnte die Wohnung unter dem Dach. Ich schellte. Schritte näherten sich. Hinter dem Spion huschte ein Schatten vorbei. Ich zückte meinen Dienstausweis und hielt ihn so vor das Guckloch, dass, wer immer dort hindurchsah, ihn erkennen konnte. Kurz darauf klapperten Schlüssel und die Tür wurde um einen Spalt breit geöffnet. „Ja bitte?“, blickte mich eine zierliche Person forschend an. „Mein Name ist Winter. Sie sind Frau Gesine Krüger?“ Die Person nickte. „Ich ermittle im Mordfall Ihres verstorbenen Mannes und hätte noch einige Fragen an Sie.“ Die Witwe tat einen tiefen Seufzer. „Können Sie Herbert nicht endlich seine Ruhe gönnen?“ Im nächsten Moment schloss sich die Tür.

Für einen Augenblick glaubte ich, die Frau wollte mich auf dem Flur stehen lassen, doch dann hörte ich die Kette, die in der Führungsschiene zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich wieder. „Kommen Sie herein.“ „Es tut mir Leid, wenn ich Sie unangemeldet überfalle, aber mein Besuch bei Ihnen hat sich sehr kurzfristig ergeben.“ Reiters Witwe machte einen Mitleid erregenden Eindruck auf mich. Es war die Art, wie sie sich bewegte, als ich ihr durch den Flur ins   Wohnzimmer folgte, ihre gesenkte, in sich gebrochene Haltung, die ängstlichen Blicke, mit denen sie mich musterte.

„Nehmen Sie bitte Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten?“ Ich lehnte dankend ab. „Wohnten Sie schon damals hier, vor dem Tod Ihres Gatten?“ Wieder nur ein schüchternes Nicken. „Nun wollen Sie also den Mord an Herbert aufklären.“ „Ich habe den Fall erst kürzlich übertragen bekommen und möchte mir nun einen Überblick verschaffen, erste Eindrücke sammeln, wie man so sagt.“ „Auch Sie werden nur herumstochern, das unterste nach oben drehen, in meinen Erinnerungen wühlen und am Ende doch nichts herausfinden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, aber der Mord an meinen Mann liegt nun schon zwei Jahre zurück. Schon damals ließ man mich nicht in Frieden trauern – lassen Sie Herbert wenigstens jetzt seine Ruhe.“

Was hatte diese Frau nur alles ertragen müssen? Selbst nach so langer Zeit schien sie den Tod ihres Mannes noch nicht überwunden zu haben. „Ich kann Sie wirklich verstehen, aber glauben Sie nicht auch, dass es im Sinne Ihres Gatten wäre, wenn der Täter seine gerechte Strafe erhielte?“ Gesine Krüger sah mich mit großen Augen an. „Nein – lassen Sie uns endlich in Ruhe.“ Ich schluckte trocken. Es lässt sich kaum in Worte fassen, was in diesem Augenblick in mir vorging. Dass in jener Nacht, in der Herbert Reiter ermordet wurde, nicht nur sein Leben sondern auch das seiner Frau ausgelöscht wurde, war unübersehbar. Es gibt Momente, in denen man einfach nichts mehr sagen kann, in denen man hilfreich seine Hand ausstrecken möchte und es dennoch nicht vermag.

Oftmals hilft es den Hinterbliebenen der Opfer, wenn sie den Schmerz, ihre innere Wut auf den Täter projizieren können. Aber auch wenn ihnen das Gefühl vermittelt werden konnte, dass der Schuldige für seine Tat bestraft wurde. In diesem Falle lagen die Dinge völlig anders. Offensichtlich war Gesine Krüger von der Justiz enttäuscht. Ich fragte mich, weshalb in den Akten nichts über ihre Vernehmung zu finden war. Hatten die Kollegen wirklich derart geschlampt? Es lag nun an mir, dieses Bild wieder gerade zu rücken. Nur eines machte mich an der ganzen Sache nachdenklich – warum hatte Gesine Reiter wieder ihren Mädchennamen angenommen?

-5-

„... klar war das nicht ganz astrein, aber wenn ich daran zurückdenke, wie Wolfgang sich all die Jahre mir gegenüber benommen hat, ist es ja wohl legitim, wenn ich da zu einer kleinen Notlüge greife.“ „Natürlich, du hast ja recht. Hauptsache, er kommt dir nicht drauf.“ „Ich bitte dich Erika, ich werde es ihm sicher nicht auf die Nase binden und du bist meine beste Freundin. Von wem sollte er also erfahren, dass der Zug unwiderruflich abgefahren ist?“ Erika sah sich nach allen Seiten um. „Du weißt doch – manchmal haben selbst die Wände Ohren.“ Jasmin machte eine lässige Handbewegung. „Ach was, seit einem Monat habe ich ihn nur gesehen, als er unsere Tochter zu einem Kinobesuch abholte, der fischt total im trüben. Er benimmt sich geradezu vorbildlich.“ „Ja, aber merkst du nicht, dass er um dich kämpft? Wenn es einen Mann gäbe, der so sehr um mich kämpfen würde...“

Jasmin verdrehte die Augen. „Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass mich dieser Mann noch liebt? Der weiß doch gar nicht, was dieses Wort bedeutet.“ „Meinst du nicht, ihm da vielleicht ein wenig Unrecht zu tun?“ „Sag mal, Erika, was ist denn los mit dir, bist du meine Freundin oder seine?“ Die Frau mit der grünen Strähne, die immer wieder über die großen Gläser ihrer getönten Designerbrille rutschte, entrüstete sich. „Wie kannst du nur eine solche Frage stellen? War ich nicht immer für dich da, wenn du eine Schulter brauchtest, an der du dich ausweinen konntest? Habe ich dir nicht immer zur Seite gestanden, wenn du Probleme mit Wolfgang hattest?“

Jasmin machte ein betretenes Gesicht. Nur der Ober, der in diesem Augenblick an den Tisch trat, um die Frauen nach einem weiteren Wunsch zu befragen, verhinderte eine sofortige Antwort. Erika nahm ihre Sonnenbrille ab und steckte sie ins Haar. Dann kokettierte sie mit einem Augenaufschlag, der einfach alles sagte. „Ach wissen Sie, junger Mann, meine Wünsche würden Sie mir gewiss nicht erfüllen,“ „Warum nicht, einer Frau wie Ihnen kann man doch gar nichts abschlagen?“, erwiderte der Mann in der weißen Livree charmant. Erika kicherte, ihre Züge färbten sich in ein kräftiges altrosa.

„Wie kannst du nur?“, schüttelte Jasmin peinlich berührt den Kopf. „Hast du doch gesehen, war ganz einfach.“ „Mit dir fällt man aber auch überall auf.“ „Ich kann mich an Zeiten erinnern, in denen dir gerade dies sehr recht war,“ versetzte Erika. „Aber damals waren wir quasi noch Kinder.“ „Wenn schon, man ist so alt wie man sich fühlt; und ich fühle mich noch verdammt jung.“ „Schon gut, schon gut,“ sagte Jasmin gedehnt. Sie wusste, was nun kommen würde. Erika war auf ihr Lieblingsthema gestoßen. Wenn sie an dieser Stelle nicht die Kurve bekam, würde sich ihre Unterhaltung in der nächsten halben Stunde ausschließlich auf Erikas neues Fitnessprogramm und die Vorzüge einer gesunden Ernährung beschränken.

„Ich möchte in der nächsten Woche die Wohnung renovieren,“ versuchte Jasmin das Thema zu wechseln. „Tapezieren, streichen, im Wohnzimmer einen neuen Teppich verlegen und so weiter,“ erläuterte sie ihrer Freundin, während diese ungeniert nach dem Kellner Ausschau hielt. „Ich möchte einen kompletten Schnitt machen, wenn du verstehst. Alles in dieser Wohnung erinnert mich an das, was ich eigentlich hinter mir lassen möchte,“ erklärte Jasmin. „Also, kann ich mit dir rechnen?“ Erika fiel der Kaffeelöffel aus der Hand. „Ich bin doch kein Maler.“ „Für einen Maler habe ich kein Geld.“ Erika machte dicke Backen. „Wenn es darum geht, Geschirr in Kisten zu verpacken, alles mit Folie abzudecken und hinterher alles wieder sauber zu machen, kannst du auf mich zählen, aber mit tapezieren und so habe ich nichts am Hut.“

Jasmin konnte ihre Enttäuschung nur schwerlich verbergen. Gerade von Erika hatte sie sich mehr Unterstützung erhofft. „Da kann man wohl nichts machen,“ stammelte sie, nachdem sie den kleinen Schock halbwegs überwunden hatte. „Aber lieb von dir, dass du mir bei den Aufräumarbeiten behilflich sein willst.“ „Na, ist doch Ehrensache,“ grinste die Sonnenbrillenträgerin ölig, nachdem sie ihre ausziehenden Blicke endlich von dem Ober lösen konnte. „Wozu hat man Freunde.“

Wie aus heiterem Himmel sprang sie plötzlich auf, starrte total gestresst auf ihre Armbanduhr und griff nach ihrer Designerjacke. „Tod und Teufel, ich sitze hier und plaudere in aller Ruhe mit dir und dabei müsste ich längst in der Redaktion sein!“ „Oh, das ist aber schade. Ich dachte, wir wollten noch durch die Stadt bummeln?“ „Tja, leider, aber die Pflicht ruft. Du bist doch so nett und übernimmst eben mal schnell meinen Kaffee?“ Ehe sich Jasmin versah, rieb Erika ihre Wange an der ihren und huschte davon. Natürlich nicht, ohne der Bedienung beim Hinauseilen einen verheißungsvollen Blick zuzuwerfen.

Jasmin blieb seufzend zurück. Sollte sie ihr Vorhaben verschieben? Eigentlich war ja in der Wohnung noch alles in Ordnung und abgesehen davon ließen ihr ihre Finanzen ohnehin keinen großen Spielraum. Bislang hatte Wolfgang den im Beschluss festgesetzten Unterhalt weder für Larissa noch für sie selbst gezahlt. Was war, wenn er ihr diesbezüglich Schwierigkeiten machte? Wer weiß, wie lange sie mit dem wenigen Geld, was sie sich in den Wochen vor der Gerichtsverhandlung vom Haushaltsgeld abgeknapst hatte, noch auskommen musste? War es vernünftig, gerade jetzt das Geld für solche Dinge auszugeben?

Ja, verdammt! Alles, was ihr half, ein neues Leben zu beginnen, war vernünftig. Jasmins Hände ballten sich zu Fäusten. Wenn er nicht zahlt, werde ich das Geld einklagen, machte sie sich Mut. Ich werde alles, was mich an dieses düstere Kapitel meines Lebens erinnert, auf dem Müllplatz der Illusionen entsorgen. Ein kämpferisches Lächeln huschte über ihr Gesicht. Larissa und ich werden es auch ohne fremde Hilfe schaffen!

-6-

Der Mann mit dem Oberlippenbart und den stark ausgeprägten Geheimratsecken kochte vor Wut. „Ich kann nicht glauben, was du mir da erzählst.“ „Aber wenn ich es dir doch sage, Wolfgang, Jasmin hat es mir doch selbst erzählt.“   Seine Augen waren hasserfüllt. Es gelang ihm nur mit äußerster Mühe, sich zusammenzureißen. „Was genau hat sie dir gesagt?“ „Also,“ holte Erika tief Luft. Beinahe gedankenverloren ließ sie ihre Hand unterdessen über Wolfgangs Schenkel gleiten. „Noch einmal ganz langsam, zum Mitschreiben. Ihre Anwältin hat ihr dazu geraten, so zu tun, als sei eure Trennung nur vorübergehend.“

Erika stand auf, verließ den Raum und kehrte nur Sekunden später mit einer Flasche zurück. „Du brauchst doch sicher jetzt erst einmal ein Bier.“ „Wie konnte ich nur so bescheuert sein?“, ereiferte sich der Mann auf dem Sofa. „Was hat sie noch gesagt? Komm schon, erzähl weiter!“ „Glaub mir, Jasmin verarscht dich nur. Sie will alles aus der Wohnung entfernen, was sie an dich erinnert. Sie hat sogar das Schloss in der Wohnungstür auswechseln lassen. Für die bist du nur noch Schnee von gestern.“

Wolfgang sprang auf, seine Hände ballten sich. „So eine Schlampe!“, tobte er. „Die mach ich fertig! Die wird mich noch kennen lernen! Was glaubt dieses Flittchen eigentlich, wer sie ist? So etwas lasse ich nicht mit mir machen!“ „Ach, lass sie doch, die ist es doch gar nicht wert, dass du dich so über sie aufregst.“ Erikas Tentakeln umschlugen die vermeintliche Beute, versuchten sie fest zu umgarnen und sie ganz für sich einzunehmen, doch Wolfgang stand der Sinn jetzt nicht nach Zärtlichkeiten. Nicht etwa, dass er Erikas Leidenschaft in den vergangenen Nächten nur widerwillig über sich ergehen ließ, aber er war eben nicht der Mensch, der sich von einer Frau zum Narren halten ließ. So löste er sich denn schroff aus dem Klammergriff der Meduse, noch ehe ihn der bittersüße Kuss ihrer aufgespritzten Lippen erreichte.

Die Zurückgewiesene reagierte erbost. „Was hast du vor?“ Wolfgang durchmaß das Wohnzimmer in einem Tempo, bei dem Erika schon vom Hinsehen schwindelig wurde. „Die wird mich noch kennen lernen!“, wetterte der vermeintlich Betrogene erbost. „Hör endlich auf, wie von der Tarantel gestochen durch den Raum zu jagen. Damit machst du es auch nicht besser.“ „Das vielleicht nicht,“ entgegnete Wolfgang, „aber auf diese Weise kann ich am besten nachdenken.“ „Du machst mich wahnsinnig damit.“

Schlagartig endete die wilde Hatz. „Was ist?“, fragte Erika, nun wieder von der abrupten Ruhe irritiert. Wolfgang schlug mit der rechten Faust in die linke Handfläche. „Ich hab´s!“ „Was hast du?“ Der Gehörnte griff nach seinem Jackett, warf es sich über den Rücken und ließ ihre Frage unbeachtet. „Du brauchst nicht auf mich zu warten, es wird sicher spät.“ Erika blieb nur, ihm verwundert hinterher zuschauen. „Mach keinen Blödsinn!“, rief sie ihm noch nach, als sich für einen winzigen Augenblick so etwas wie ein Gewissen in ihr meldete.

Längst war die Wohnungstür ins Schloss gefallen. Nichts von ihrem Ratschlag war an sein Ohr gedrungen und selbst wenn, hätten Erikas Worte ihn in seiner Wut sicherlich nicht bremsen können. Zu groß war der Hass, der ihm wie riesige Ozeanwellen immer wieder mitten in das Gesicht peitschte. Er wollte sie zur Rede stellen, klipp und klar aus ihrem Munde hören, dass die Worte, die ihre Anwältin nach der Gerichtsverhandlung an ihn gerichtet hatte, nur einen einzigen Zweck verfolgten – ihn aus der Wohnung zu treiben.

Noch während der Fahrt zu ihrer gemeinsamen Wohnung legte er sich die passenden Worte zurecht, versuchte sich, so weit dies überhaupt möglich war, in den Griff zu bekommen. Er bemerkte nicht einmal, dass er viel zu schnell fuhr, er hörte nicht wie die Breitreifen seines Cherokee unter der Last des schweren Geländewagens ächzten, als er ihn viel zu schnell durch die Kurven der Bremer City jagte.

Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Er riss die Tür auf, sprang auf die Straße, um das Haus zu erreichen, welches sich von ihm aus gesehen vis-á-vis befand, doch noch mit dem gleichen Wimpernschlag wich er zurück. Ein Mann, Mitte Dreißig, betrat im selben Moment das Haus. Er traute seinen Augen kaum. Niemand anderes als Jasmin bat den Kerl freundlich lächelnd herein. Siedend heiß pulsierte das Blut in seinen Adern, ließ sie heftig pochend hervortreten. „Verdammtes Miststück,“ keuchte er, während sein Blick gebannt auf die Fensterfront seiner Wohnung in der ersten Etage starrte.

Ohne seine Augen abzuwenden, umrundete er den Chrysler, betrat den Bürgersteig und rempelte eine Person an, die gerade vorbeilief: „Können Sie nicht aufpassen!“, beschwerte sich die junge Frau. „Manche glauben, ihnen gehörte die ganze Welt.“ Wolfgang hörte nichts, sah nichts, außer die inzwischen hell erleuchteten Fenster seiner Wohnung. Er ging weiter, verkürzte den Abstand zwischen sich und dem Mietshaus, um schließlich genau gegenüber neben einem Lieferwagen stehen zu bleiben. Von hier aus hatte er gute Sicht auf das, was sich nun hinter den Fenstern der ersten Etage abspielte.

Kein Zweifel, die Gestalt, die soeben am Fenster vorbeihuschte, war Jasmin. Ein weiterer Schatten, ein wenig größer als der seiner Frau, folgte ihr. Dem Mann hinter dem Lieferwagen fiel es schwer, sich zu beherrschen und dennoch vermochte er seinen Blick nicht abzuwenden, da jetzt das Licht im Schlafzimmer angeschaltet wurde. Er beobachtete, wie Jasmin ans Fenster trat, um auch in diesem Raum die Übergardinen zuzuziehen. Seine Nasenflügel vibrierten, während er die Abendluft scharf einsog. Es bedurfte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, was sich nun hinter den Vorhängen abspielte.

„Verdammt noch mal,“ fluchte er, während seine Faust krachend in das Blech des Lieferwagens einschlug. „Noch ist das Miststück meine Frau! So etwas muss sich kein Mann bieten lassen!“ Zwei Jugendliche waren stehen geblieben, sahen amüsiert zu ihm hinüber. „Was gibt es da zu glotzen, verpisst euch!“ Seine Gestalt nahm eine bedrohliche Haltung an. „Der tickt nicht richtig,“ sagte einer der Jungen. „Lass uns verschwinden,“ pflichtete der andere ihm bei. Wolfgang verfolgte mit Genugtuung, wie die Halbstarken Fersengeld gaben.

Noch immer schimmerte das Schlafzimmerlicht durch die Gardinen. Es gab keinen Zweifel, was sich dort abspielte und nun gab es für den Mann hinter dem Lieferwagen kein Halten mehr. Wie ein Berserker tobte er über die Straße, nahm direkten Kurs auf die Haustür. Den Schlüssel hatte er ja noch. Die Haustür flog förmlich zur Seite und krachte gegen den dämlichen Kinderwagen, der schon seit Monaten dort abgestellt war. Es interessierte ihn nicht. Gleich mehrere Stufen auf einmal nehmend hastete er die Treppe hinauf. Seinen Wohnungsschlüssel in der Hand versuchte er auch dieses Schloss zu öffnen. Wütend stellte er jedoch fest, dass Erika nicht gelogen hatte. Sein Schlüssel passte nicht mehr.

Wie Hammerschläge prasselten seine Fäuste gegen die Tür. Sein Daumen drückte die Klingel Sturm. Seine zornigen Rufe gellten durch das Haus. „Mach die Tür auf, du Flittchen, ich weiß, dass du mit deinem neuen Lover da drinnen bist!“ Dann hielt er plötzlich inne und sah sich um.

-7-

Die Stimmung, in der ich mich an diesem Abend befand, war keine besonders gute. Es gibt Tage, da läuft irgendwie alles quer. Man biegt und streckt sich, müht sich ohne Ende und kommt doch auf keinen grünen Zweig. Meine Partner und ich hatten Berge von Akten gewälzt, hatten unzählige Telefonate geführt und waren doch keinen Schritt voran gekommen. Wenn sich an irgendeiner Stelle der Hauch einer Spur auftat, so verlor sie sich an anderer Stelle, noch ehe sie überhaupt greifbar wurde. An solchen Tagen freut man sich noch mehr als sonst auf das traute Heim, um im Kreis seiner Lieben auf andere Gedanken zu kommen, abzuschalten, das Leben nach dem Job zu genießen.

Ausgerechnet heute konnte ich mir auch diese Freuden abschminken. Trixi war mit Töchterchen Romy und Sandy, unserer Golden Retriever Hündin, zu Nena gefahren. Ich fand den Zettel mit ihrer Nachricht auf dem Küchentisch. Das Essen hatte sie in den Kühlschrank gestellt und mit Folie abgedeckt. Seufzend gab ich der Kühlschranktür einen Schubs. Ich wusste genau, dass es spät werden würde, wenn Trixi bei ihrer Freundin war. Bei aller Liebe, heute war nicht der Abend, an dem ich allein zu Hause herumsitzen wollte. Der Hunger, welcher sich noch eine halbe Stunde zuvor durch lautes Knurren in der Magengegend bemerkbar gemacht hatte, war genauso verflogen wie die Sehnsucht nach meinem Sofa. Ich hinterließ meinerseits einige Zeilen auf einem Zettel, griff mir das Jackett und stürzte mich in das Bremer Nachtleben.

Es musste eine Ewigkeit her gewesen sein, als ich das letzte mal privat und völlig ziellos durch die Bremer City streifte. Ich hatte mir ein Taxi genommen und mich an der Schnoor absetzen lassen. Die Bremer Vergnügungsmeile bot rund um die Uhr für jeden das Richtige. Eine der ersten Adressen auf meinem Streifzug durch die Vergangenheit war das Valentino , ein Weinkeller am Rathausmarkt. Ich ließ mich an meinem ehemaligen Stammtisch nieder, der sich in einer Ecknische befand, von der aus ich das gesamte Lokal überblicken konnte.

Es schien, als sei die Zeit hier stehen geblieben. Aus dem Halbdunkel einer flackernden Kerze schwappte noch immer dieselbe Klaviermusik durch das Gewölbe. Ja, sogar das monotone Stimmengewirr, welches mir entgegenwaberte, schien von genau denselben Gästen zu stammen, die schon damals hier saßen. Ich dachte unwillkürlich an Gabi zurück, mit der ich oft an diesem Tisch gesessen hatte. Wie es ihr wohl inzwischen gehen mochte? Sie hatte mich wegen eines Bestattungsunternehmers verlassen. Ein Schmunzeln huschte über meine Züge. Es war sicher besser so, mein Beruf setzte ihr einfach viel zu sehr zu.*

Die freundliche Stimme der Bedienung ließ mich abrupt aus meinen Gedanken schrecken. „Was darf ich dir bringen?“ Vor mir stand ein hübsches, gertenschlankes Mädchen mit weißer Servierschürze, einem Notizblock und einem Kuli, den sie bereits in Anschlag gebracht hatte. Sie war sicher eine von den unzähligen Studentinnen, die sich hier etwas dazu verdienten „Eine Weißweinschorle bitte,“ entgegnete ich, ohne lange zu überlegen. Es war das gleiche Getränk, welches ich auch früher meist bestellt hatte. Es gibt eben Gewohnheiten, die man unbewusst beibehält. Zu ihnen gehört sicher auch die Beobachtung anderer Menschen, dem sich wohl kaum ein Ermittler entziehen kann, der mit Leib und Seele Polizist ist.

So blieb mir auch nicht verborgen, wie an einem der Tische, die sich unweit von mir befanden, Drogen vertickert wurden. Natürlich kann auch ich nicht in geschlossene Umschläge blicken, aber die Sache lief zu eindeutig ab, dass irgendwelche Zweifel an dem Deal aufkommen konnten. Ich kämpfte mit mir, sah in eine andere Richtung, dachte an die neue Gesetzeslage, die zwar den Gebrauch von leichten Drogen zu eigenen Zwecken legalisiert, den Handel damit jedoch unter Strafe stellt. Was für unsinnige, weltfremde Paragrafen, die von irgendwelchen hochstudierten Juristen an der Realität und damit am Leben vorbei ersonnen wurden. Hier verwischen die Grenzen und öffnen somit dem Verbrechen die Hintertür in das Wohnzimmer unserer Gesellschaft.

Das hübsche Mädchen mit der Servierschürze riss mich auch dieses Mal aus meinen Gedanken und irgendwie war ich ihr dankbar. „Ihre Schorle. Darf ich gleich abkassieren? Ich habe Feierabend.“ Ich blickte in ihre glutvollen Augen, bildete mir ein, das flackernde Kerzenlicht des Klaviers darin zu entdecken und hatte Mühe, mich ihrem Charme zu entziehen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte ich diesem Blick nicht widerstehen können, doch inzwischen war es die Liebe zu Trixi, die sich wie eine unsichtbare Wand zwischen uns stellte. „Wie- viel bekommen Sie?“ Ein Zwinkern. „Zu wenig.“ Meine Nackenhaare krausten sich. Ein trockenes Schlucken brachte nicht herunter, was ich in diesem Moment dachte. Ich legte einen Heiermann auf den Tisch und sagte: „Das muss reichen, schöne Frau.“

Sie steckte den Fünfeuroschein in die Geldtasche und sandte mir einen letzten, versonnenen Blick, der selbst Tote zu neuem Leben erweckt hätte, zuckte mit den Schultern und verschwand hinter der Theke. Ich klebte förmlich an meinem Platz und atmete tief durch. Prüfung bestanden , dachte ich so erleichtert wie ein Pennäler nach überstandener Klausur.

* Mike Winter 3 ‚Gnadenlose Jagd'

Für manch einen mag es merkwürdig klingen, aber ich war sogar ein wenig stolz auf mich. Als ich wieder zu dem Tisch hinübersah, an dem gerade noch der Deal stattgefunden hatte, stellte ich fest, dass ich auch dieses Problem abhaken konnte. Der Trupp junger Leute war inzwischen gegangen. Schicksal , dachte ich und schlurfte voller Genuss an meiner Schorle.

Da sich zu Hause noch niemand meldete, entschloss ich mich noch einen alten Freund zu besuchen. Benno gehörte vor einigen Jahren dem Rauschgiftdezernat an. Innerhalb der Polizei zweifellos ein Job, der einem so ziemlich das Letzte abverlangt. Nicht jeder kann die Bilder, die Tag für Tag über ihn einströmen, so einfach wie einen Mantel ablegen. Benno war ein solcher Typ. Er tat das, wozu nicht jeder den Mut gehabt hätte. Er stieg aus, hängte seinen Job an den Nagel und kaufte sich mit dem Geld aus einer kleinen Erbschaft in eine Diskothek ein. Inzwischen gehört ihm das Enterprise ganz. Dass er nach wie vor als Informant für Gesetz und Gerechtigkeit eintritt, liegt auf der Hand. Dass er seinen Laden absolut sauber hält, ebenfalls.

„Meine Güte,“ empfing er mich recht überrascht. „Dass du dich mal wieder bei mir sehen lässt...“ Mein letzter Besuch bei Benno lag tatsächlich schon geraume Zeit zurück. „Ich mache eine Reise durch die Vergangenheit,“ erklärte ich ihm. Genau wie mit dem Valentino verband ich das Enterprise mit einer Frau, der ich einmal sehr nahe stand. Doch anders als in dem Weinkeller waren es eher traurige Erinnerungen an eine unglückliche Liebe. René war eine Kommissarin aus Marseille, die sich als Racheengel entpuppte. Wir lernten uns während der Aufklärung eines Mordfalles kennen, in dem sowohl die russische Mafia als auch ein französischer Gangsterboss die tragenden Rollen spielten.*

Benno sah mich stirnrunzelnd an. „ Was machst du?“ „Vergiss es,“ entgegnete ich mit verdrehten Augen. „Gib mir lieber etwas vernünftiges zu trinken.“ „Einen Wodka-Orange, so wie früher?“ Ich schürzte die Lippen. „Du kannst dich noch daran erinnern?“ „Es gibt Dinge, die ändern sich eben nie.“ Ich seufzte. „Wem sagst du das.“ Ich hievte meinen Allerwertesten auf den gerade frei werdenden Barhocker neben mir. Mein Blick wanderte über die im Halbkreis angelegte Thekenlandschaft in Richtung Tanzfläche, über der allerhand hektische Lichtreflexe durch den Saal zuckten. Darunter rockte eine pulsierende Masse sich verbiegender Körper im Rhythmus hämmern-der Technoklänge.

Aber um Himmels Willen, welcher Rhythmus eigentlich? Das monotone Gehämmer, das aus den Lautsprechern dröhnte, war alles andere als Musik. War ich wirklich so alt geworden? Ich schüttelte mit dem Kopf. Es gab genügend Dinge, die sich eben doch verändern. „Bist du dienstlich hier?“, holte mich Benno in die Realität zurück, während er den Drink abstellte. „Nein, nein, ich hatte einfach mal wieder Sehnsucht nach dir.“ „Na, wenn das so ist, geht der Drink aufs Haus.“ Ich nickte ihm zu. „Ich schätze, ich sollte dich öfter besuchen.“ „Du bist jederzeit willkommen.“ „Wie laufen die Geschäfte?“. fragte ich interessiert. „Sieh dich um, ich bin zufrieden,“ grinste Benno breit. „Kein Wunder, du brauchst nicht bei Wind und Wetter hinter irgendwelchen Ganoven herzujagen, bist von hübschen Mädchen umgeben und hörst die ganze Zeit über Musik.“ „Oh ja,“ verdrehte Benno die Augen, „aber was für welche.“ Ich lachte, wir waren eben beide älter geworden.

Der Rest des Abends verging wie im Fluge. Benno und ich hatten uns viel zu erzählen. Schließlich verbanden uns die Jahre unserer Ausbildung. Erst danach hatten wir uns entschlossen, unterschiedliche Wege zu gehen. Offensichtlich hatte ich damals den für mich richtigen Weg gewählt. Obwohl ich zugeben muss, schon des öfteren daran gezweifelt zu haben, oder wie man so sagt, nah daran war, alles hinzuschmeißen. Aber das geht sicher auch anderen so, die in ruhigeren Jobs ihren Mann oder die Frau stehen müssen.

Es war schon weit nach Mitternacht, als ich mir ein Taxi bestellte, um den Heimweg anzutreten. Nicht mehr ganz nüchtern, aber noch gut beieinander, schloss ich zum zweiten Mal an diesem Abend die Wohnungstür auf und wieder wunderte ich mich, dass mich

* Mike Winter 2 ‚Der Killer aus Marseille'

niemand begrüßte. Hatte mich der Hund nicht kommen hören? Die blinkende Leuchtanzeige des Anrufbeantworters ließ es mich erahnen. „Hallo, Schatz. Nena und ich haben uns verquatscht. Sei bitte nicht böse, aber wir übernachten bei ihr. Ich liebe dich, bis morgen.“ „Ich dich auch,“ antwortete ich dem AB.

-8-

Seine zornigen Schreie hatten die übrigen Hausbewohner im Flur zusammenströmen lassen. Über Jahre hinweg waren sie seine Nachbarn und Freunde gewesen. So manche Feier hatten sie gemeinsam auf die Beine gestellt, doch nun standen sie da, waren entsetzt und schüttelten die Köpfe. In diesem Moment wurde Wolfgang klar, dass er den Kampf um Jasmin verlieren würde, wenn er es nicht schlauer anstellte.

„Die Nerven sind wohl mit mir durchgegangen,“ entschuldigte er sich denn auch peinlich berührt. Max war der erste, der auf ihn zuging, die Hand auf seine Schulter legte und ihm sagte, dass dieser Weg der verkehrte sei. „Ihr habt ja recht, ich weiß es, wenn es nur nicht so verdammt weh täte.“ Er grinste innerlich, fand, dass er genau die richtigen Worte gefunden hatte. Der Erfolg gab ihm recht. Erste Sympathien schlugen ihm bereits wieder entgegen. „Komm mit runter,“ forderte ihn Max auf. „Elli kocht uns einen Kaffee und dann quatschst du dich mal richtig aus.“

Wolfgang lächelte ihn dankbar an. Hinter seinem Lächeln verbarg sich die Annahme, dass Max ihn sowieso bloß aushorchen wollte. Gerade dieser vermeintliche Freund war es doch, der es schon immer auf Jasmin abgesehen hatte. Wer wusste schon, ob sie es nicht schon lange miteinander trieben. Wolfgang sah sich um, sah auch die anderen Kerle, die mit ihren hässlichen Weibern, gaffend um ihn herumstanden. Sicher gingen sie alle in seiner Wohnung ein und aus, während er, der Gehörnte, zur Arbeit war. Er bildete sich ein, ihre amüsierten Gesichter zu sehen, bildete sich ein, wie sie über ihn lachten, sich über ihn lustig machten, ihn verspotteten.

Nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu beherrschen. „Nett von dir, Max, aber ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ „Wie du meinst, aber du sollst wissen, dass du jederzeit bei uns willkommen bist.“ Er musste aus dem Haus, weg von diesen falschen Freunden, diesen Scheinheiligen, an die Luft, um endlich wieder atmen zu können. „Danke Max, dank euch allen, das werde ich euch nie vergessen.“ Während er an ihnen vorbei ging, spürte er ihre Hände auf seinen Schultern und mit jedem gutgemeinten Klaps war es ihm, als steche man mit einem Messer auf ihn ein. Oh nein, keinen dieser Pharisäer würde er je vergessen. Wenn er Jasmin nicht zurück haben konnte, sollte sie auch keiner dieser Heuchler bekommen.

Wolfgang verließ das Haus, überquerte die Straße und sah demonstrativ nach oben. Er ahnte, dass jeder seiner Schritte beobachtet wurde und es waren nicht nur die Fenster seiner eigenen Wohnung, hinter denen sich die Gardinen bewegten. Zielstrebig ging er auf seinen Wagen zu, stieg ein, ließ den Motor an und fuhr davon. Als er sich jedoch außer Sichtweite wähnte, änderte er die Richtung. Er lenkte den Wagen in eine Parallelstraße und fuhr wieder zurück. Er kannte jeden Schleichweg, jedes Haus in dieser Gegend. Lange genug hatte er hier gelebt.

Er versteckte den Chrysler auf dem Grundstück eines abgerissenen Hauses und sprang über den Zaun eines angrenzenden Hinterhofs. Dieser gehörte zu dem Haus, vor dem der Lieferwagen stand, hinter dem er sich zuvor versteckt hatte. Auch dieses Gebäude sollte demnächst einem Neubau weichen. Es war bereits geräumt und bot ihm somit einen idealen Beobachtungsposten. Die Tür zum Hof war verschlossen, die Fenster im Halbparterre mit Brettern vernagelt. Wolfgangs Blicke gingen nach oben, suchten nach einer Möglichkeit, hinein zu gelangen, doch die Dunkelheit ließ auf dem unbeleuchteten Hinterhof nur eine geringe Sichtweite zu.

Er versuchte es schließlich über das Dach eines angrenzenden Schuppens, welcher von den ehemaligen Bewohnern des Hauses als Lager genutzt wurde. Über eine Mülltonne, die neben dem Verschlag stand, gelangte er auf das Dach. Der beißende Geruch alten Heizöls kroch ihm in die Nase, während er über die gerissene Teerpappe auf das Haus zuschlich. Von hier aus gelangte er an die Fenster der ersten Etage, die nicht durch Bretter gesichert waren. Der zu allem entschlossene Mann zog sein Jackett aus und wickelte es sich um den Ellenbogen. Er holte aus und schlug das Fenster ein.

Glas klirrte und fiel scheppernd zu Boden. Der Mann auf dem Dach duckte sich, verharrte einige Minuten in seiner Position und beobachtete die ihn umgebenden Häuser, doch niemand schien von dem Lärm Notiz genommen zu haben. Die Glocken der nahen St. Johannis-Kirche schlugen gerade zur vollen Stunde, als er das zweiflügelige Fenster entriegelte und sich über den Sims in das Innere der Wohnung schwang. Er schloss das Fenster hinter sich und zündete das Feuerzeug an, um sich besser zu orientieren.

Der Raum, in dem er sich befand, musste einmal eine Küche gewesen sein. Nackte Rohre, ein Wasserhahn, der mitten aus der Wand zu kommen schien und die Umrisse von Möbeln, die sich lange Zeit an der gleichen Stelle befunden haben mussten, ließen keinen anderen Schluss zu. Durch die, dem Fenster gegenüberliegende offene Tür fiel etwas Licht. Wolfgang schüttelte die Glassplitter aus seinem Jackett und streifte es sich über. Dass es völlig zerknittert war, interessierte ihn nicht. Er folgte dem Licht und gelangte in den Teil der Wohnung, die der Neuheimer Straße zugewandt war.

Das spärliche Licht, welches von den Peitschenlampen stammte, die sich in weiten Bögen über dem Fahrdamm neigten, und durch die verdreckten Fenster in das Innere der Wohnung getragen wurde, erhellte den Raum gerade gut genug, um sich darin einigermaßen orientieren zu können. Wolfgang sah aus dem Fenster und stellte mit Genugtuung fest, freie Sicht auf den Eingang des gegenüberliegenden Hauses und die Fenster seiner Wohnung zu haben. Noch immer schimmerte Licht durch die Gardinen seines Schlafzimmers. Er sah Schatten, die sich dahinter bewegten. Auch in den übrigen Zimmern, die zur Straße hinaus lagen, brannte Licht.

Ein zufälliger Blick auf den Bürgersteig vor dem Haus ließ ihn fast den Atem stocken. Er konnte kaum glauben, was er dort sah. Seine minderjährige Tochter stand eng umschlungen mit einem Kerl in der Hofeinfahrt und ließ sich ungeniert abknutschen. Am liebsten wäre er hinüber gelaufen und hätte die beiden auseinander gerissen. Er blickte auf seine Uhr. Es war kurz vor halb elf und das Mädchen trieb sich noch auf der Straße herum. Ein solches Verhalten konnte er nicht dulden. Der Mann hinter dem Fenster beschloss, Beweise zu sammeln. Beweise, die er bei dem Kampf um das Sorgerecht ins Feld führen wollte.

Endlich nahm der Typ seine schmierigen Pfoten von seiner Tochter. Wenigstens hatte das Kind nicht mit ansehen müssen, wie ihre Mutter es in der eigenen Wohnung mit irgendeinem Lover schamlos trieb. Wolfgang kam ein Gedanke. Wahrscheinlich hatte sie Larissa aus genau diesem Grunde aus dem Hause geschickt. Es war seine Familie, die dort drüben langsam aber sicher vor die Hunde ging. Er musste etwas dagegen tun, aber was? Minutenlang starrte er hinüber, grübelte und fasste schließlich den Entschluss, Jasmin das Leben genauso zur Hölle zu machen wie sie ihm.

Zunächst einmal musste er wissen, wer der Kerl war, der sich immer noch in seiner Wohnung aufhielt. Doch dazu musste er wieder hinunter und sich mit seinem Wagen auf der Straße postieren. Nur so konnte er den Ehebrecher bis zu dessen Wohnung verfolgen. Dafür war es jedoch in diesem Moment zu spät. Wie aufs Stichwort öffnete sich die Haustür und der neue Lover seiner Frau verließ das Haus. Wolfgang beobachtete, wie zurückhaltend sich die beiden voneinander verabschiedeten. Für ihn war es offensichtlich, dass sie dies nur taten, um den Leuten keinen Anlass zum Reden zu geben. Er jedoch durchschaute ihr Verhalten. Nicht eine einzige Sekunde ließ er den Mann aus den Augen, bis er in seinen Lieferwagen einstieg und davon fuhr. HB KO 188 las Wolfgang vom Kennzeichen des Wagens ab.

Er zog sein Handy hervor und notierte sich die Nummer darin. Er lächelte, weil ihm in diesem Augenblick die Idee kam, Jasmin anzurufen. Er wollte ihre Stimme hören, wollte ihr das Gefühl geben, sie nicht aus den Augen zu lassen. Ein leichter Druck auf die Kurzwahltaste der eingespeicherten Telefonnummer und die Verbindung wurde aufgebaut. Schnell aktivierte er noch die Unterdrückung der eigenen Rufnummer und schon vernahm er das Freizeichen. Gespannt lauschte er in den Lautsprecher seines Handys.

„Jasmin Bitter,“ meldete sich seine Ehefrau mit melodischer Stimme. Sie schien ausgesprochen gut gelaunt. Wolfgang hingegen platzte vor Wut fast der Kragen. Es kostete ihm übermenschliche Mühe nicht laut loszubrüllen. „Hallo?“, fragte die Stimme voller Neugier. „Bist du es, Rüdiger?“ Das war zu viel für Wolfgang. Ungeheure Hitze strömte durch seinen Körper, ließ seine Muskeln und Sehnen zucken. Gleichzeitig jagte ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Im letzten Moment drückte er die Taste, die das Gespräch beendete. „Das wirst du mir büßen!“, sprach er in das Handy, als wäre Jasmin noch immer mit ihm verbunden.

-9-

Wolfgang Bitter hatte die Pause zwischen zwei Terminen genutzt, um einen alten Bekannten anzurufen. „HB KO 188,“ sagte der Autoverkäufer knapp in die Sprechmuschel des Telefons. „Ich hätte dich nicht angerufen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre,“ sprach er bedeutungsvoll. Es dauerte einen Moment, ehe er eine Adresse auf dem vor sich liegenden Zettel notierte. „Ich danke dir. Natürlich bleibt die Sache unter uns.“ Dann beendete er das Gespräch. Es war ein zufriedenes Lächeln, welches sich über seine Züge legte, während er den Hörer zurück auf die Gabel bugsierte.

Der Verkäufer machte an diesem Nachmittag eher Feierabend. Er konnte es kaum abwarten, dem Kerl gegenüber zu stehen, mit dem Jasmin ihn betrog. Die Adresse, die er von seinem Kumpel erhalten hatte, führte ihn in die Thomas Mann Straße. Die angegebene Hausnummer gehörte zu einem Bungalow. Der Mann im Geländewagen parkte genau gegenüber der Einfahrt. Im Garten vor dem Haus beobachtete er zwei spielende Kinder. Eine Frau, Mitte Dreißig, gutaussehend, rief sie irgendwann herein. Wenig später tauchte der Lieferwagen auf. Jetzt konnte er auch den Schriftzug entziffern, der sich an der Seite des Wagens befand: Henning Graubner, Malerarbeiten aller Art.

Kein Zweifel, der Mann, der den Wagen vor der Einfahrt abstellte und nun ausstieg war niemand anderer als der Kerl, den er am Vorabend mit Jasmin gesehen hatte. Wolfgang verließ ebenfalls seinen Wagen und hastete auf die andere Straßenseite, seinen Blick auf nichts anderes fixiert als auf den vermeintlichen Lover. In der Tasche seines Jacketts befand sich eine Handfeuerwaffe der Marke Heckler und Koch. Keine wirklich scharfe Pistole, aber doch so täuschend echt, um damit genug Eindruck zu hinterlassen.

„Henning Graubner?“, sprach er den Mann an. „Ja,“ entgegnete der Ehebrecher bestimmt. „Mein Name ist Bitter!“, erklärte Wolfgang in der Erwartung einer Reaktion, die bei dem Angesprochenen zumindest eine gewisse Nervosität hervorrufen sollte. Doch nichts dergleichen geschah. Der Kerl reagierte ausgesprochen freundlich und ganz und gar anders als erwartet. „Schön, Sie kennen zu lernen, Herr Bitter. Was kann ich für Sie tun?“ „Sparen Sie sich ihre Floskeln! Sollte ich Sie noch einmal bei meiner Frau erwischen, werde ich nicht nur Ihre Frau von der Beziehung zu Jasmin unterrichten, sondern auch von meinem Ehrenrecht Gebrauch machen.“ Um seinen Worten das nötige Gewicht zu verleihen, zog er die Pistole ein Stück weit aus der Tasche und ließ ihren Anblick für sich selbst sprechen.

Der Mann im weißen Overall suchte nach Worten. „Das muss ein Missverständnis sein,“ stammelte er. Ich soll lediglich die Wohnung Ihrer Frau neu tapezieren.“ Wolfgang versuchte ruhig zu bleiben. „Ich werde Sie kein zweites Mal warnen. Sollten Sie jemanden von meiner Bitte erzählen, komme ich wieder. Glauben Sie mir, ich habe nichts zu verlieren.“ Damit ließ er den vermeintlichen Lover stehen.

Henning Graubner hatte während der vielen Jahre seines Berufslebens schon so manches erlebt, aber dies verschlug ihm glatt die Sprache. Zweifellos musste es sich bei dem Ehemann der Auftraggeberin um einen Verrückten handeln. Solche Typen waren bekanntlich unberechenbar. Reichlich verstört, sah er, wie sich der Mann in einen Geländewagen setzte und davon brauste. Eigentlich war er nicht der Typ, der sich leicht einschüchtern ließ, aber er hatte an seine Frau und die Kinder zu denken.

Noch immer stand er vor der Einfahrt und sah dem Wagen nach, obwohl dieser längst hinter einer Kurve verschwunden war. „Was stehst du denn hier draußen herum?“, schreckte ihn die Stimme seiner Frau aus den Gedanken. „Ach, nichts besonderes,“ zuckte er zusammen, wie jemand, der gerade bei etwas Verbotenem ertappt worden war. „Wer war das?“, ließ die Frau mit den langen blonden Haaren nicht locker. „Weiß nicht, der Mann hat nur nach dem Weg gefragt.“ Die Stirn seiner Frau krauste sich, aber schließlich gab sie sich mit seiner Erklärung zufrieden. „Komm jetzt, das Essen wird kalt.“

„Hallo Larissa, ich hätte gern deine Mutter gesprochen.“ „Hallo Papa, schön, dass du dich mal meldest. Mama ist nicht da, kann ich ihr etwas ausrichten?“ Wolfgangs Stimme überschlug sich fast vor Freundlichkeit. „Nee, Schatz, das muss ich schon selber mit ihr besprechen. Weißt du wo sie sich gerade aufhält?“ Larissa schluckte trocken. „Ich... ich weiß nicht...,“ stammelte sie. „Es ist wirklich sehr wichtig, mein Schatz,“ log er sie an. „Vielleicht wird alles wieder gut. Du willst doch auch, dass deine Mutter und ich uns wieder vertragen,“ setzte er sie unter Druck. „Du darfst Mama aber nicht verraten, dass du es von mir weißt.“ „Großes Ehrenwort, Kleines.“ „Also gut, Mutti arbeitet seit einigen Tagen wieder in ihrem Beruf. So eine Immobilienfirma in der Wätjen Straße.“ „Das ist ja toll,“ tat Wolfgang begeistert. „Kennst du den Namen der Firma?“ „Ich glaube, Heim und Bau oder so.“ „Ich danke dir, Schatz. Vielleicht gehen wir beide demnächst einmal richtig groß aus und du kannst bestimmen, wohin.“ „Oh ja, Papa, das wäre echt super.“

Wolfgang hatte das Gespräch mit seiner Tochter beendet. Er war wütend, weil er spürte, dass der Einfluss schwand, den er über Jasmin ausübte. Er musste feststellen, dass sie sich mehr und mehr von ihm abnabelte. All die Jahre, in denen sie miteinander verheiratet waren, hatte er es nicht geduldet, dass sie wieder in ihrem Beruf arbeitete. Nun tat sie es einfach gegen seinen Willen. Dieses Treiben musste er unterbinden – und zwar schnell, sonst hatte er sie für immer verloren.

Als Wolfgang die großen Buchstaben der Leuchtreklame sah, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Das Immobilienbüro, bei dem seine Frau beschäftigt war, war keine andere Firma als die, bei der sie auch schon vor ihrer Heirat angestellt war. Nun wurde ihm einiges klar. Er hatte damals schon den Verdacht, dass Jasmin etwas mit dem Inhaber der Firma hatte. Warum hätte er sie sonst, nach so langer Zeit wieder einstellen sollen.

Wolfgang parkte den Wagen so, dass er nicht sofort entdeckt wurde, aber immer noch alles beobachten konnte. Er sah auf die Digitaluhr neben dem Drehzahlmesser. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Jasmin Feierabend machte. Er würde ihr folgen, jeden ihrer Schritte beobachten, um ihren gesamten Tagesablauf zu studieren. Dann würde er sie nach und nach verunsichern, würde ihr Angst machen, um sie entweder zur Vernunft zu bringen, oder in den Wahnsinn zu treiben. Wenn er sie nicht haben konnte, sollte sie auch niemand anderer haben.

Wolfgang musste nicht lange warten. Jasmin verließ das Gebäude zusammen mit einer Kollegin. Sie trug ein mintfarbenes Kostüm, welches sie mit einem Tuch raffiniert aufpeppte. Die beiden Frauen verabschiedeten sich auf dem kleinen Parkplatz, der zum Immobilienbüro gehörte. Zu seiner Überraschung stieg Jasmin in einen weißen Mittelklassewagen. Der Wagen rollte genau auf ihn zu. Wolfgang tauchte ab. Wenn sie ihn sah, war alles gelaufen. Er ließ den weißen Audi vorbeifahren und startete den Motor. Einen Moment lang wartete er noch, ehe er ihrem Wagen folgte. Anders als erwartet, fuhr sie nicht nach Hause, sondern stadtauswärts.

Der Mann hinter dem Steuer des Chrysler folgte ihr mit äußerster Vorsicht. Er achtete stets darauf, dass mindestens ein oder zwei Fahrzeuge zwischen ihnen fuhren, oder aber er ließ sich weit genug zurückfallen, um nicht erkannt zu werden. Die Fahrt endete schließlich auf der Baustelle eines Mehrfamilienhauses am Ortsausgang von Horn. Offensichtlich hatte sie hier noch einen Termin mit einem Interessenten. Wolfgang parkte den Wagen in Sichtweite. Auf der Baustelle wurde noch gearbeitet. Einige Maurer waren noch mit Aufräumarbeiten beschäftigt.

Kurze Zeit später stoppte ein Mercedes an der Straße neben der Einfahrt. Ein älteres Pärchen stieg aus und wandte sich dem noch im Rohbau befindlichen Haus zu. Jasmin hatte ihren etwas abseits geparkten Wagen ebenfalls verlassen, um die Leute zu begrüßen. Wolfgang beobachtete, wie Jasmin mit ihnen sprach. Dann zeigte sie auf das Haus und verschwand mit den vermeintlichen Interessenten im noch offenen Treppenhaus. Ein Pritschenwagen verließ die Baustelle. Offensichtlich hatten auch die letzten Handwerker Feierabend gemacht.

Wolfgang sah nach oben. Von Jasmin und ihrer Kundschaft war nichts zu sehen. Die Gelegenheit war also günstig. Wolfgang stieg aus, schlich über die Straße auf das ungesicherte Gelände und griff nach einem herumliegenden Moniereisen. Sein Ziel war der neben einer Baubaracke abgestellte Wagen von Jasmin. Erst als er näher kam, bemerkte er die Schriftzüge an den Seiten des Audis. Er grinste hämisch. Besser konnte es für ihn nicht laufen. Wenn er mit der Karre fertig war, würde es den Anschein haben, dass Jasmin unachtsam gewesen wäre. Sie würde sicher Ärger bekommen und möglicherweise müsste sie für den Schaden aufkommen. Kurzentschlossen brachte er das Eisen auf der Beifahrerseite in Anschlag und kratzte einige tiefe Riefen in das Blech. Abschließend betrachtete er sein Werk genussvoll grinsend und verschwand ebenso unbemerkt wie er gekommen war.