Werkstatt
Hier in der Werkstatt geht es nun mit dem 56. Roman 'aus der Detektei Lessing' weiter !
Er spielt in Wolfenbüttel, Halchter und Braunschweig und trägt den Titel: 'Cold Case in Apelnstedt' .
Ab sofort habt ihr wieder die Möglichkeit mit eigenen Ideen an neuesten Detektivgeschichte aus der Lessingserie mitzuwirken.Falls ihr eigene Ideen zu den Spielorten habt, solltet ihr mir diese via Mail zukommen lassen.
Eure Ideen werden, soweit sie umsetzbar sind, berücksichtigt und euer Name, wenn gewünscht, als Coautor im Buch berücksichtigt.
Start der Leseprobe
Einleitung
Dieser in Teilen authentische Roman aus der Detektei Lessing-Serie entstand mit Unterstützung der Apelnstedter Bürgerschaft. Der tragische Tod eines Mannes, der aus ihrer Mitte gerissen wurde als er mitten unter ihnen erfror, wurde von der Polizei als bedauerlicher Unglücksfall gewertet. Jahrzehnte vergingen und immer dann, wenn ein eisiger Wind durch das Dorf weht, sprechen die Alten vom ‚Klobenwind‘.
So mussten annähernd acht Jahrzehnte vergehen, bis bei Renovierungsarbeiten ein Brief der Witwe auftauchte und das Unglück in Frage stelle. Um das Andenken ihres Urgroßvaters und den Namen ihrer Familie nicht zu beschmutzen, kann seine Enkelin nicht zur Polizei gehen. Um den Tod des Mannes, den sie nie kennenlernte dennoch aufzuklären, aber auch weil sie sein Geheimnis für sich selbst nutzen möchte, beschließt sie sich an die Detektei Lessing zu wenden.
Detektei Lessing
Band 56
Cold Case in Apelnstedt
1
Die Sonne hatte sich längst aufgemacht, um den neuen Tag mit einem strahlenden Lächeln zu begrüßen. Einige Vögel saßen im Kirschbaum und glotzten ungeniert in unser Schlafzimmer. Dabei veranstalteten sie einen Lärm, der selbst Tote genervt hätte. Meine Hand tastete sich in erotischen Schlangenlinien auf die linke Seite unseres Bettes, um im nächsten Moment ein Signal des Entsetzens an meinen zugegeben noch etwas desorientierten Verstand zu senden. Ich war allein!
Es folgte der fragende Blick zum Wecker und mein Gehirn erhielt den nächsten Stromschlag. Ich hatte verschlafen! Wer nun davon ausgeht, dass ich wie ein Jungspund aus den Federn hüpfte, muss von mir enttäuscht sein. Verpennt hatte ich eh und überdies steckte mir noch unser gestriger Betriebsausflug in den Heidepark in den Knochen. Auch wenn es ein rundherum gelungener Tag war, blieb festzuhalten, dass ich keine zwanzig mehr war.
Wo ich mich der einen oder anderen Fahrattraktion verweigerte, ließen sich Trude und Leonie kaum zurückhalten. Während es sich der Rest der Truppe auf dem Raddampfer gemächlich machte, war den beiden keine Bahn zu hoch oder zu schnell. Einzig im Mountain Rafting, in dem wir alle miteinander an tobendenden Wasserfällen entlang, von wilden Fluten mitgerissen wurden, ließ sich der von Miriam beschworene gemeinsame Geist meiner Detektei beleben.
Nach stundenlangen Märschen von einer Ecke des Freizeitparks zur nächsten und einer schier endlos erscheinenden Heimfahrt, fiel ich irgendwann total erledigt in mein Bett. Es ist also kein Wunder, dass ich weder den Wecker noch meine Liebste hörte, wie sie das Bett verließ.
Nachdem ich mich schließlich doch aus den Federn gewalzt hatte, fand ich einen liebevoll gedeckten Frühstückstisch und einen Zettel vor, auf dem mir Miriam einen schönen Tag wünschte. Ein roter Kussmund ließ auf einen schönen Abend hoffen. Als ich gut gestärkt über die breite Marmortreppe nach unten in die Detektei stiefelte, kam ich zu dem Schluss, meinen Mädels an diesem Montag nicht allzu viel abzuverlangen. Umso erstaunter war ich, dass Trude und Leonie bereits bei der Arbeit waren. Ja, war ich denn der Einzige, der auf den Felgen lief?
„Guten Morgen, Chef“, begrüßten mich die beiden mit einem verschmitzten Lächeln. „Auch schon ausgeschlafen?“, erkundigte sich Leonie. „Das sollten wir unbedingt bald wiederholen, Chef.“ Ich nickte Trude mit zerknirschter Mimik zu. „Sicher.“ „Bis zur Mittagspause sollten wir mit der Buchführung durch sein“, erklärte Leonie. „Wenn Sie keinen neuen Fall am Start haben, bringen wir dann den Garten vor der Detektei auf Vordermann“, stellte Trude zu Leonies Entsetzen klar. „Na ja, ganz so weit ist es ja noch nicht“, versprühte ich Hoffnung. „Machen Sie mir doch mal eine Verbindung mit der Rechtsanwaltskanzlei Börner“, forderte ich Trude auf.
„Guten Morgen, Christoph“, begrüßte ich meinen langjährigen Freund und Leonies Onkel. „Hallo Leopold, was kann ich für dich tun?“ „Ich frage es grad heraus, hast du was für uns zu tun?“ „Das tut mir leid, aber die Leute sind wohl so kriegsmüde, dass sie sich nicht mal mehr streiten. Bei mir ist es derzeit auch mau. Am besten schließt du den Laden ab und machst Urlaub.“ „Wer hat, der kann“, seufzte ich. „Apropos, euer Betriebsausflug in den Heidepark war wohl ein voller Erfolg. Leonie war mehr als begeistert. Die hat Detlef und mir den ganzen Abend davon vorgeschwärmt.“ „Oh ja, aber beim nächsten Mal ziehe ich ganz sicher bequeme Schuhe an. Du glaubst ja nicht, wie viele Blasen ich an den Füßen habe.“ „Da musst du jetzt durch.“
Mein letzter Trumpf hatte also nicht gestochen. Ich fühlte mich an die Anfänge meiner Detektei erinnert. Damals lief Axel mit einem Werbeschild durch die Fußgängerzone. Eine Maßnahme, die ich eigentlich niemals wieder ins Leben zurückrufen wollte. In schwierigen Zeiten sollte man nicht herumlamentieren, sondern sich auf das besinnen, was einst unsere Tugenden waren. Die Ärmel hochkrempeln und anpacken, auch wenn es der Garten vor der Detektei war, der hergerichtet werden musste.
Doch so weit sollte es nicht kommen. Durch die einen Spalt breit geöffnete Tür zu meinem Büro bemerkte ich, wie jemand die Detektei betrat. Kurz darauf plärrte es in der üblichen Weise aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage auf meinem Schreibtisch.
„Ich weiß, Chef“, hörte ich Trudes Stimme. „Sie haben eigentlich einen wichtigen Termin, aber hier vorn steht eine junge Frau, der unbedingt schnell geholfen werden sollte.“ „Also gut, dann schicken Sie die Klientin herein“, entgegnete ich großherzig. „Kümmern Sie sich bitte um den Termin, damit Herr Schwarzjanik nicht vergebens wartet.“ „Geht klar.“ Mittlerweile zelebrierten Trude und ich diese Art der Konversation geradezu. Es schien uns sogar Spaß zu machen, aber das nur am Rande und nur, damit es einen geschäftigen Eindruck macht.
„Nehmen Sie bitte Platz“, bot ich der jungen Frau einen Stuhl vor meinem Schreibtisch an. „Was führt Sie zu mir?“ „Mein Name ist Charlotte Kolbe und ich bin hier, weil Sie den Mord an meinem Urgroßvater aufklären sollen.“ Ich stutzte. „Wann soll das denn gewesen sein?“ „Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber hören Sie mich bitte zunächst an und bilden Sie sich dann erst eine Meinung.“ Was solls, dachte ich. Zu tun hatte ich eh nichts und letztlich war ich gespannt auf ihre Geschichte. „Na dann lassen Sie mal hören.“
„In der Nacht vom 2. auf den 3.Januar 1948 war es bitterkalt und es wehte ein stürmischer Wind durch die Straßen von Apelnstedt“, begann die Frau vor meinem Schreibtisch mit ihrer Erzählung. „Mein Urgroßvater, Friedrich Kolbe, hatte das Haus spät am Abend verlassen, um noch etwas Wichtiges zu erledigen. Er war ein Eigenbrötler und so hatte er seiner Frau nicht gesagt, wohin er wollte. Er trank auch gern mal einen über den Durst und so wurde es spät. So spät, dass meine Urgroßmutter sich schlafen legte, ehe er zu Hause war“, schilderte sie.
„Er wurde erst am Morgen des 3. Januars auf der Straße tot aufgefunden. Das Merkwürdige war, dass der Nachtwächter, den es zu dieser Zeit gab, niemanden gesehen haben wollte.“ Ich spitzte die Ohren. Es wurde interessanter. „Der Mann wurde wegen Verletzung seiner Aufsichtspflicht wenig später entlassen. Bei stürmischem Wetter sprechen die Apelnstedter noch heute vom ‚Kolbenwind‘.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Na ja, wie auch immer. Der Tod meines Urgroßvaters wurde von der Polizei untersucht und die kam letztlich zu dem Schluss, dass er betrunken war, stürzte und sich dabei den Kopf anschlug, benommen liegenblieb und erfror.“
„Also ein Unfall“, schlussfolgerte ich. „So steht es zumindest in der Dorfchronik“, bestätigte sie. „Es dürfte fast unmöglich sein, die Wahrheit heute noch ans Licht zu bringen“, bekundete ich seufzend. „Selbst wenn Ihr Urgroßvater noch exhumiert werden könnte, ist es nahezu ausgeschlossen, an seinen sterblichen Überresten die Todesursache feststellen zu können“, erklärte ich der jungen Frau schweren Herzens.
Sie zog eine Folienhülle aus der Tasche. „Das ist ein Schreiben von meiner Urgroßmutter, das sie an ihre Tochter, also meine Oma gerichtet hatte“, erklärte Charlotte Kolbe. „Ich konnte ihn nur mittels KI[1] einigermaßen aus dem Sütterlin übersetzen.“ Womit sie mir eine Abschrift des Briefes reichte. „Lesen Sie selbst und wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass mein Urgroßvater einem Unfall zum Opfer fiel, werde ich nicht länger Ihre Zeit in Anspruch nehmen.“
„Lieber Michael“, las ich. „Der Brief war an Ihren Enkel, also meinen Vater gerichtet“, erklärte meine mögliche Klientin. Ich nickte ihr zu. „Ich schreibe dir diesen Brief im Gottvertrauen, dass du ihn eines Tages finden mögest. Als ich deinem Vater von dem Unrecht, welches deinem Opa widerfuhr erzählte, tat er es als Hirngespinst ab. Der Himmel weiß, was einmal aus diesem alten Gemäuer werden soll, was dein Opa und ich einst durch unsere Hände Arbeit schufen.“
„Mein Opa baute damals auf dem Grundstück seiner Eltern ein weiteres Haus“, unterbrach mich Charlotte Kolbe. „Nach dem Tod meiner Uroma blieb das alte Haus unbewohnt. Erst als Jörn, das ist mein Partner, und ich uns entschlossen, es wieder herzurichten, kehrte wieder Leben darin zurück“, fügte sie erklärend an. „Das Haus stand also fünfzig Jahre leer?“, fragte ich kritisch nach. „Sie glauben gar nicht, wie gut es diese Zeit überdauert hat“, erahnte die junge Frau, worauf ich hinauswollte.
„Du konntest deinen Opa nie kennenlernen“, las ich weiter. „Er wurde mir vor vielen Jahren von einem bösen Menschen genommen. Es ging um ein wertvolles Bild, welches dein Opa während des Krieges bei einem guten Freund vor den Alliierten in Sicherheit brachte. Auch wenn er mir nie sagte, bei wem er den ‚van Gogh‘ versteckt hatte, muss es wohl sein Kriegskamerad gewesen sein.“
Ich sah die Frau vor meinem Schreibtisch skeptisch an. „Mein Urgroßvater kämpfte bei Kriegsbeginn in Frankreich, wo er dann auch verwundet wurde“, erzählte sie. „Ich könnte mir vorstellen, dass es sich um Beutekunst handelte“, schob sie ihre Erklärung gleich nach. „Gut möglich“, räumte ich ein und widmete mich wieder dem Brief. „Sie sind sich sicher, dass der Brief richtig übersetzt ist?“ „Ja!“
„Einmal sah ich das Bild und Friedrich nannte den Namen, ‚Herbstlandschaft bei Saint-Rémy‘. Es war ein ganz wundervolles Gemälde, wie man es nur einmal im Leben zu sehen bekommt.“ Ich sah Charlotte Kolbe erneut in die Augen. So recht wusste ich nicht, was ich ihr sagen sollte, denn ein solcher Fall war mir bislang nicht untergekommen. „Es ist über fünfzig Millionen wert“, bemühte sich meine potentielle Klientin darum, mein Interesse zu wecken. „Worum geht es denn nun eigentlich?“, erkundigte ich mich bei ihr. „Wollen Sie, dass ich den Tod Ihres Urgroßvaters aufkläre oder geht es Ihnen um die Wiederbeschaffung des Bildes?“
„Eigentlich geht es um beides“, räumte sie ehrlich ein. „Dann sollte Ihnen bewusst sein, dass es sich höchstwahrscheinlich um Beutekunst handelt und Sie allenfalls eine Art Finderlohn bekämen.“ Sie sah mich durchdringend an. „Selbst wenn, wäre der dann immer noch hoch genug, um Sie zu bezahlen. Also, nehmen Sie den Fall an?“
Da saß ich nun und wusste nicht, was ich antworten sollte. Eines war klar, wenn ich gerade in einem anderen Fall ermitteln würde, wäre die Sache klar, doch die Realität war eine andere und so sagte ich schließlich zu. „Ich bekomme 500 Euro zuzüglich Spesen und für drei Tage im Voraus“, reichte ich ihr schließlich meine Hand zum Einschlagen. Sie tat es mit einem schliefen Lächeln. „Die Abschrift des Briefes würde ich gern in Kopie hierbehalten und dann benötige ich so schnell wie möglich einen Stammbaum Ihrer Familie, in dem Sie mir bitte alle wichtigen Details zum Leben jedes Einzelnen und zur Geschichte Ihres Hauses verzeichnen.“ „Geht klar.“ „Am besten arbeiten Sie den gleich mit einer meiner Mitarbeiterinnen zusammen aus.“ „Wie, jetzt und hier?“ „Keine Zeit?“ „Doch, aber das mache ich lieber zuhause, wo ich die Unterlagen habe.“ „Wie Sie wollen, aber lassen Sie sich nicht allzu viel Zeit damit.“ Womit ich ihr eine Vollmacht zur Unterschrift vorlegte.
Die Detektei Lessing hatte also einen neuen Fall zu bearbeiten. Ehrlich gesagt hatte ich nicht den leisesten Schimmer von dem, was mich erwarten würde und auch nicht die geringste Idee, wie ich in der Sache zu Werke gehen wollte. Fakt war nur, dass es ein Bild gegeben hatte, was offenbar wertvoll war und was auf geheimnisvolle Weise abhandengekommen war. Ob es dabei zu einem Verbrechen kam, musste geklärt werden.
2
In all den Jahren als Detektiv hatte ich nie zuvor einen Fall, der so lange zurücklag. Nur wenn es sich bei dem Tod von Friedrich Kolbe tatsächlich um einen Mord handelte und es mir gelang, dies nachzuweisen, konnte der Täter theoretisch zur Rechenschaft gezogen werden. Theoretisch, weil der mutmaßliche Mord bereits 77 Jahre zurücklag und der Täter wahrscheinlich längst nicht mehr lebte. Dennoch versprühte dieser Fall seinen ganz individuellen Charme, denn falls es mir gelang, den Täter zu ermitteln, waren seine Nachkommen in der Pflicht, den Verbleib des Bildes aufzuklären.
Zunächst studierte ich die Dorfchronik. Diese war im Hinblick auf das Auffinden des Friedrich Kolbe nicht sonderlich erschöpfend. Demnach war der Urgroßvater meiner Auftraggeberin am Morgen des 03.01.1948 auf der Straße liegend aufgefunden worden. Nachdem die Ermittlungen durch die Polizei kein Fremdverschulden ergaben und die Beamten zu dem Schluss kamen, dass Friedrich Kolbe im betrunkenen Zustand stürzte, sich den Kopf auf dem Bürgersteig anschlug und letztlich besinnungslos erfror, wurde dem verantwortlichen Nachtwächter wegen der Verletzung seiner Aufsichtspflicht vom Rat der Gemeinde die Kündigung ausgesprochen.
Ich fragte mich, ob es zu den Untersuchungen der Polizei noch irgendwo Unterlagen geben konnte, verwarf diesen Gedanken jedoch sehr schnell wieder, als ich an die Zeitspanne dachte. Die Frage, ob der Fundort des Leichnams auch der Tatort war, ließ sich somit nicht mehr klären. Das Einzige, was mir weiterhelfen konnte, waren Zeitzeugen, sofern es diese überhaupt noch gab. In dem Brief war von einem Kriegskameraden die Rede. Mit ihm war Friedrich Kolbe offenbar in Frankreich stationiert gewesen. Ich war mir sicher, dass sich dieser noch ermitteln ließ.
Also betraute ich Trude mit den Recherchen dazu. Sie verfügte über die nötigen Verbindungen in die jeweiligen Ämter. „Für dich habe ich einen Spezialauftrag, Leonie.“ „Ich bin ganz Ohr, Chef.“ „Du suchst bitte alles heraus, was du über ein Bild mit dem Namen, 'Herbstlandschaft bei Saint-Rémy' von dem Maler Vincent van Gogh findest. Vor allem interessiert mich, wo es sich jetzt befindet.“ „Da geht es wohl um eine Menge Geld“, sinnierte meine Auszubildende. „Mal sehen, was du zu dem Bild herausfindest.“
Nachdem ich die Arbeit verteilt hatte und mich telefonisch beim Niedersächsischen Landessarchiv angemeldet hatte, machte ich mich auf den Weg. Zum Glück befindet sich dieses ganz in der Nähe des Wolfenbütteler Krankenhauses am Forstweg. Falls es noch etwas zum Tod von Friedrich Kolbe gab, dann wurde es wahrscheinlich an diesem Ort aufbewahrt. Gegen eine kleine Gebühr kann dort jedermann und jede Frau Einsicht zum vordigitalen Zeitgeschehen nehmen. Ein großer Teil der dort lagernden Unterlagen wurde nie digitalisiert. Ich wurde bereits von einer jungen Frau in der Pförtnerloge erwartet.
„Mein Name ist Lessing“, stellte ich mich vor. „Ihr Wagen ist bereits gepackt“, entgegnete sie den Türöffner betätigend. „Kommen Sie bitte herein.“ Ich kam ihrer Aufforderung nach und drückte gegen die Glastür. Auf dem Gang dahinter erwartete mich ein Bücherwagen, wie man ihn aus deutschen Ämtern kennt. „Den Gang hinunter finden Sie den Lesesaal. Sie dürfen fotografieren und sich Notizen auf Ihren mitgebrachten Papieren machen, aber weder die Unterlagen beschreiben, beschädigen oder mitnehmen“, erklärte sie. „Das ist doch selbstverständlich“, bestätigte ich nickend. „Das sagen Sie“, erwiderte sie kopfschüttelnd. „Sie glauben gar nicht, was ich hier schon alles erlebt habe.“ Meine Stirn krauste sich.
„Wenn Sie fertig sind, packen Sie bitte alles auf den Wagen und schieben ihn wieder hierher zurück.“ „Sie können sich darauf verlassen“, versprach ich und schob ab. „Es war nicht das erste Mal, dass ich von dieser Möglichkeit der Recherche Gebrauch machte, allerdings lag mein letzter Besuch mindestens zehn Jahre zurück. Damals ging es um einen Wolfenbütteler Bauunternehmer und eine Villa in Mascherode.
Das Material, was mir die freundliche Mitarbeiterin des Archivs herausgesucht hatte, beinhaltete die detaillierte Dorfchronik von Apelnstedt, die Flur Liegenschaften-Karte, sowie eine Übersichtskarte der Gemarkung. Überdies hatte ich um Pläne zur Einberufung in die Wehrmacht für die Jahrgänge ab 1908 gebeten. Da Kolbe und sein vermeintlicher Kamerad, der wie er ebenfalls aus Apelnstedt oder Umgebung stammen sollte, zur gleichen Zeit in Frankreich stationiert war, mussten beide Namen in einer Liste vermerkt sein.
Dieser Hinweis war bislang das einzige Indiz, was ich im Hinblick auf das verschollene Gemälde und einen möglichen Täter hatte. Noch stand in den Sternen, ob die Zeilen, die Erna Kolbe ihrem Enkel Michael hinterlassen hatte, wirklich den Tatsachen entsprachen. Ich musste damit rechnen, dass es sich tatsächlich um ein Unglück handelte bei dem der Urgroßvater meiner Auftraggeberin tatsächlich in jener Nacht ohne Fremdverschulden erfror.
Es war bereits Nachmittag, als ich alle Unterlagen, Zeitungsartikel und Akten gesichtet hatte. Die Stunden waren wie in Zeitraffer dahingeschmolzen und die Namensliste war immer länger geworden. Längst war ich von einem beklemmenden Gefühl ergriffen, das Mitgefühl mit all denjenigen, die in diesem irrsinnigen Krieg verwundet wurden oder erst Jahre später als von Entbehrung und Leid gezeichnete Kriegsgefangene zurückkehrten.
Leider erschien mir die Unterlagen der Wehrmacht, welche mir zur Durchsicht zur Verfügung gestellt wurden, eher unvollständig. Ich stieß darin weder auf den Namen Friedrich Kolbe noch auf andere Männer aus Apelnstedt, die in der fraglichen Zeit einberufen wurden. Was blieb, war die Hoffnung, dass Trude bei ihren Recherchen mehr Glück hatte.
Überdies beschäftigte mich die Frage, ob Friedrich Kolbe tatsächlich das besagte Bild als Raubkunst heimgebrachte? Ich sah kurzerhand über Google nach dessen Größe und staunte angesichts der Maße von 59/72 cm. War es überhaupt möglich, ein so großes Gemälde durch all die Kriegswirren unbeschadet von der Front nach Hause zu bringen? Sicher hatte er es eingerollt, aber mit einer Länge von über einem halben Meter war es immer noch ziemlich auffällig. Es sei denn, er hatte die Rolle irgendwie in seiner Ausrüstung verstecken können.
Ich musste herausfinden, welchen Rang Friedrich Kolbe bei der Wehrmacht innehatte und am besten auch, wo genau er stationiert war. Doch wer konnte mir diesbezüglich weiterhelfen? Ich erinnerte mich an einen alten Freund, den ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte. Ich wusste nur, dass Eddi inzwischen Hauptmann der Reserve war. Vielleicht konnte er mir in dieser ganz speziellen Sache weiterhelfen? Erst kürzlich war mir zu Ohren gekommen, dass er und eine gute Freundin aus alten Zeiten zueinandergefunden hatten. Es ist das Schicksal, welches immer wieder Überraschungen für uns bereithält.
Nachdem ich das Landesarchiv nur um einige Details klüger verlassen hatte, rief ich zunächst in der Detektei an, um mich bei meinen Mädels nach dem Stand ihrer Ermittlungen zu erkundigen. Was die Recherchen zur Wehrmacht betrafen, konnte Trude nicht mehr als ich herausfinden. Somit blieb nur noch mein Freund Eddi. Auch wenn er zunächst recht erstaunt über meinen Anruf war und ich mit dem Grund dafür nicht hinter dem Berg hielt, bemerkte ich, wie er sich dennoch darüber freute. Wir verabredeten uns auf ein sofortiges Treffen.
3
Obwohl Wolfenbüttel ganz sicher keine Kleinstadt ist, kennt man sich wie in einem großen Dorf. Die Ehefrau eines inzwischen verstorbenen Freundes betrieb in der ‚Leipziger Straße‘ eine kleine private Ferienpension. Irgendwann war Eddi dann wie ein helles Licht in ihr Leben getreten, um es wieder aufzuhellen. Nun erwarteten mich beide, um mir bei meinem Fall weiterzuhelfen.
Bereits die schmale Toreifahrt erforderte meine volle Aufmerksamkeit. Da ich nicht wusste, wo ich meinen Wagen abstellen sollte, parkte ich direkt vor dem Fachwerkhaus. Als ich ausstieg, entdeckte ich inmitten des gepflegten Gartens einen großen Pool und dahinter eine gemütliche Sitzecke. Als Feriengast musste man sich hier wohlfühlen. Noch bevor ich die Klingel betätigen konnte, öffnete sich die Tür und meine Jugendfreundin stand vor mir.
„Mensch Leopold, schön dich mal wiederzusehen. Wie lange ist das jetzt her? Bis auf den Bauch hast du dich ja kaum verändert“, sah sie an mir herab. „Mindestens zehn Jahre und du scheinst ja gar nicht älter zu werden“, entgegnete ich, obwohl uns klar war, dass wir uns nur geschmeichelt hatten. „Wenn ihr dann mit dem Austausch von Höflichkeiten so weit seid, würde ich gern mit dem Tablett an euch vorbei in den Garten gehen“, machte Eddi auf sich aufmerksam.
Kurz darauf hatten Eddi und ich uns ebenfalls begrüßt. „Eine schöne Idee, den Kaffee hier draußen zu trinken“, lobte ich und fühlte mich auf Anhieb in ihrer Mitte wohl. „Eigentlich eine Schande, sich so lange Zeit nicht zu besuchen“, räumte ich ein. „Wir haben alle unser eigenes Leben“, entgegnete Eddi. „…und wenn man gerade nicht am Arbeiten ist, dann ist man froh, wenn man die Füße mal hochlegen kann.“ „Vielleicht sehen wir Deutsche das viel zu verbissen“, seufzte ich. „In südlichen Ländern geht es doch auch und irgendwie habe ich das Gefühl, dass die Menschen dort glücklicher sind.“
„Apropos glücklich, du sagtest am Telefon, dass du gerade an einem Fall arbeitest, bei dem du Eddis Hilfe brauchen würdest“, unterbrach Sabine unsere philosophischen Gedanken. „In der Tat, vielleicht kannst du mir ja wirklich weiterhelfen“, nahm ich den Faden auf. „Um was geht es denn?“, fragte Eddi nach. „Wie hoch wäre denn eigentlich Eddis Anteil, wenn du den Fall aufgrund seiner Expertise lösen würdest?“, erkundigte sich Sabine mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ich wusste nicht, wie ich in diesem Moment reagieren sollte, bis sie herzlich lachte. „Du verstehst es immer noch mich zu schocken“, gestand ich ein. „Ich weiß nie, wann du einen Scherz machst oder wenn es ernst ist.“ „Ist es nicht immer ernst?“, konterte sie in ihrer typischen Art.
„Gibt es eine Möglichkeit, wie sich in Erfahrung bringen lässt, welchen Rang Friedrich Kolbe bei der Wehrmacht innehatte und wo genau er 1940 in Frankreich stationiert war?“ Eddi stieß einen Pfiff aus. Ich hatte ihn offensichtlich überrascht. „Na ja, es gibt da sicherlich einen Weg, wie ich an diese Info gelangen kann, aber einfach wird das nicht.“ „Gut, wenn du dann schon mal dabei bist, wäre es gut zu erfahren, ob mit ihm ein weiterer Kamerad aus Apelnstedt oder den umliegenden Gemeinden in derselben Einheit stationiert war.
„Also da muss nun aber wirklich ein leckeres Abendessen bei rumkommen“, preschte Sabine ein weiteres Mal an Eddi vorbei. „Also das versteht sich ja wohl von selbst“, entgegnete ich spendabel. „Offensichtlich bist du nicht mehr so geizig wie früher“, setzte sie noch einen drauf. Ich lachte sie herzlich an, weil ich einen ihrer schrägen Witze vermutete. Sie sah mich todernst an und ich war erneut verunsichert.
„Bis wann brauchst du die Info?“, lenkte Eddi meine Aufmerksamkeit auf sich. „Am besten bis gestern.“ „Na schön, ich will sehen, was ich für dich herausfinde, aber versprechen kann ich nichts. Es gibt Verschlussdokumente, die selbst heute noch nur von autorisierten Leuten einsehbar sind.“ Ich regte den Daumen in die Höhe. „Du machst das schon.“ Sabine sah mich durchdringend an. „Um was geht es eigentlich?“ „Möglicherweise um Mord, aber der wird sich nach all den Jahren nicht mehr nachweisen lassen“, erwiderte ich, ohne zu viel zu verraten. „Es war schön, euch mal wieder zu sehen und ich denke, wir sollte auf jeden Fall im Kontakt bleiben.“ „Das finde ich auch, die Frage ist nur, ob es bei einer Absichtsbekundung bleibt“, brachte es Sabine mal wieder auf den Punkt.
Zurück in der Detektei hatte ich zumindest das Gefühl, bereits am ersten Tag einiges auf den Weg gebracht zu haben. „Ich habe da einige interessante Infos“, überraschte mich Leonie. „Das Gemälde, von dem im Brief der Urgroßmutter unserer Auftraggeberin die Rede ist, hängt im Louvre.“ Der Traum von einer fetten Bonuszahlung für die Wiederbeschaffung eines bedeutenden Kunstwerks zerplatzte wie eine Seifenblase. „Es hat einen Wert von über fünfzig Millionen Euro“, sorgte sie für einen noch größeren Schmerz. „Es gab allerdings einen Zwilling“, ließ mich Leonie aufhorchen.
„Was für einen Zwilling?“, stutzte ich. „So nennt man in der Fachwelt die zweite Hälfte dieses Panoramabildes“, erklärte meine Azubine. „Beide Bilder hingen nebeneinander im Louvre, bis der Krieg ausbrach und die deutsche Wehrmacht nach wenigen Tagen bereits vor den Türen von Paris stand“, fuhr Leonie fort. „Aufzeichnungen belegen, dass die Kunstwerke in Windeseile und ohne die üblichen Sicherheitsvorkehrungen aus dem Louvre in Sicherheit gebracht werden mussten. Wenn die Aussagen der Zeitzeugen stimmen, wurden die Zwillingsbilder dabei getrennt transportiert. Einer der Lastwagen fiel dabei den Nazis in die Hände. Darin befand sich einer Liste nach die eine Hälfte des Gemäldes. Dieser Teil des Bildes, gilt bis heute als verschwunden.“
„Dann verschwanden mit dem Zwilling also noch weitere Kunstwerke“, schlussfolgerte ich. „Davon ist auszugehen“, stimmte mir Leonie zu. Trude hatte sich inzwischen zu uns gesellt. „Mein Vater erzählte mir als Kind, dass damals in Frankreich etliche Kunstwerke verschwanden.“ „Nicht nur aus unseren Nachbarländern“, bestätigte ich. „Die von den Nazis verschleppte Beutekunst wurde mit den Jahren allerdings großteiles zurückgegeben.“
„Leider bekam ich nicht heraus, ob Friedrich Kolbe damals auf Paris zumarschierte“, räumte Trude ein. „Ich hatte Ihnen ja schon am Telefon gesagt, dass selbst heute noch ein Geheimnis vom Feldzug in Frankreich gemacht wird“, seufzte die gute Seele. „Grämen Sie sich nicht. Wenn das Verschlusssache ist, kommen da nur hochrangige Mitglieder des Verteidigungsausschusses ran.“ Während ich Trude tröstete, kam mir der Gedanke, dass Eddi sicherlich die gleichen Schwierigkeiten bekommen würde.
Die Frage war, ob ich allein einer Hypothese folgen wollte und trotz des Mangels an Beweisen etwas herausbekommen würde. „Machen Sie für heute Feierabend, Trude“, entschied ich nach einem Blick zur Uhr. „Wir beide fahren nach Apelnstedt“, beschloss ich, Leonie ins Visier nehmend. Ich vernahm ein unterschwelliges Seufzen. „Könen wir auf dem Weg dorthin irgendwo vorbeifahren, wo es etwas zu knabbern gibt?“, erkundigte sich meine Azubine. „Mir hängt der Magen in den Kniekehlen. Wahrscheinlich dehydriere ich, wenn ich nichts zu essen bekomme.“ „Quatsch, das passiert nur, wenn man nichts zu trinken bekommt.“
4
Um nicht quer durch die ganze Stadt fahren zu müssen, bog ich an der Kreuzung ‚Kaltes Tal‘ nach rechts in die ‚Halchtersche‘ ab und dann am TÜV links, wo ich meinen Wagen an der ‚Lindenhalle‘ vorbei immer geradeaus aus der Stadt lenkte. „Na jetzt kommen wir doch bestimmt an keinem Imbiss mehr vorbei“, maulte Leonie. „Hab Vertrauen“, schürte ich Hoffnung, während ich einen Zipfel von Wendessen abschnitt und an den Schrebergärten vorbei durch den Kreisel nach Ahlum weiterfuhr.
Da, wo es vor hundert Jahren eine Tankstelle gab, hatte ein griechischer Imbiss eröffnet. Nachdem ich bereits häufig daran vorbeigefahren war, stoppte ich den Wagen diesmal auf dem Parkplatz. „Der hat ja zu“, stellte Leonie frustriert fest. „Da stehen doch Stühle und Tische. Fass mal auf die Klinke“, machte ich ihr Mut. „Da drinnen ist doch niemand und außerdem brennt kein Licht.“ „Also ich hab’s versucht“, wusch ich meine Hände in Unschuld.
„Das überlebe ich nicht“, jammerte sie. „Öffne mal das Handschuhfach“, wies ich sie an. „Jetzt fangen Sie aber bitte nicht mit Ihrer eisernen Reserve für schlechte Zeiten an, Chef“, erwiderte Leonie. „Die gepuderten Frischeiwaffeln kenne ich noch von unserer Observation aus Lebenstedt.“ „Nein, nein, die habe ich schon längst entsorgt.“ Ich öffnete das Fach und reichte ihr eine Packung Zwieback.
Die junge Frau auf dem Beifahrersitz sah mich irgendwie merkwürdig an. „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, Chef.“ „Ja wieso das denn nicht?“, fragte ich verwundert nach. „Zwieback hält sich lange, ist sehr nahrhaft und macht schnell satt“, erklärte ich. „Davon bekommt man ja eine Staublunge. Da waren die Frischeiwaffeln ja noch besser.“ „Also ehrlich, Leonie, du musst dich schon mal für eins entscheiden.“
Von Ahlum bis Apelnstedt war es nicht mehr weit. An einem Imbiss kamen wir natürlich auch nicht mehr vorbei. Die Diva neben mir schien sauer zu sein, jedenfalls wechselten wir kein einziges Wort mehr, bis wir das Grundstück unserer Klientin in der ‚Lohenstraße‘ erreicht hatten. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du seist schwanger“, versuchte ich ihr Verhalten ins Lächerliche zu ziehen. „Wer weiß“, entgegnete sie vielsagend. In meinem Hals bildete sich ein Kloß.
Unsere Ankunft war auch Charlotte Kolbe nicht verborgen geblieben. Als wir ausstiegen, stand sie unvermittelt vor uns. „Ich dachte schon, Sie würden nicht mehr kommen“, bemerkte sie wegen der fortgeschrittenen Uhrzeit. „Ich war den ganzen Tag über in Ihrer Sache unterwegs“, klärte ich sie auf. „Meine Mitarbeiterin konnte bereits einiges über die Herkunft des Bildes in Erfahrung bringen und derzeit bemühen wir uns mehr über den Ort zu erfahren, an dem Ihr Urgroßvater stationiert war.“ „Ui, da waren Sie ja wirklich schon fleißig“, lobte uns unsere Auftraggeberin.
„Aber nun kommen Sie doch bitte herein. Ich habe meinen Großeltern natürlich erzählt, dass ich Sie mit den Ermittlungen beauftragt habe.“ Meine Stirn krauste sich. „Lassen Sie mich raten, sie sind nicht sonderlich begeistert.“ Sie seufzte verlegen. „Wenn die beiden etwas von einem Detektiv hören, denken die an Magnum.“ „Dann hätte ich wohl mit einem Hubschrauber kommen sollen?“, feixte ich. „Vielleicht gar keine schlechte Idee.“ „Okay, beim nächsten Mal.“
„Sie sind also der Detektiv, von dem uns unsere Enkelin erzählte“, empfing uns Reinhard Kolbe. „So ist es“, bestätigte ich. „Die junge Frau an meiner Seite ist meine Mitarbeiterin, Frau Fischer“, stellte ich Leonie vor. „Na, dann kommen Sie mal rein.“ „Lassen Sie sich von meinem Opa bloß keine Löcher in den Bauch fragen“, warnte unsere Klientin. „Eigentlich sollte es anders herum sein“, entgegnete ich amüsiert.
Wenig später saßen wir uns in einem gemütlichen Wintergarten gegenüber und tranken Kaffee zu selbstgebackenem Frankfurter Kranz. „Also der Kuchen ist ein Gedicht“, mampfte Leonie, wieder mit besserer Laune. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Herr Detektiv…“ „Lessing“, ergänzte ich. „Ich riet Charlotte davon ab, sie zu engagieren. Das kostet nur eine Unsumme an Geld und unterm Strich wird nichts dabei rauskommen.“ „Was macht Sie da so sicher?“, hakte ich nach.
Emmi Kolbe versuchte ihren Mann zu bremsen. „Charlotte weiß schon, was sie tut.“ „Eben nicht!“, wurde Reinhard Kolbe energisch. „Der Brief von meiner Mutter sagt doch im Prinzip schon alles. Als mein Vater erfroren auf der Straße gefunden wurde, war sie achtunddreißig Jahre alt. Als sie starb, war sie vierundsechzig. Sie hat nie wieder geheiratet, blieb ihm all die Jahre treu, da ist es doch kein Wunder, dass sie in dieser Zeit merkwürdig wurde. Als sie damals davon sprach, dass mein Vater wegen eines Kunstgemäldes ermordet wurde, war dies nicht mehr als eines ihrer Hirngespinste.“
„Und wenn nicht?“, hielt seine Enkelin dagegen. „Die Polizei untersuchte damals den Tod meines Vaters genau. Es gab keinen Zweifel daran, dass er stürzte, sich den Kopf anschlug und bewusstlos liegen blieb. In dieser Nacht war es bitterkalt und ziemlich windig. Ich habe dir doch erzählt, wie die Leute seither dazu sagen, wenn ein so heftiger kalter Wind durch die Straßen weht. Sie nennen ihn bis heute den Kolbenwind.“ „Sie waren vierzehn, als ihr Vater starb“, griff ich seine Aussage auf. „Dann wissen Sie sicherlich noch, wann er aus dem Krieg zurückkehrte.“ „Er war verwundet.“
Das wusste ich bereits von meiner Klientin. „Seine linke Hand war fast steif“, fuhr er nachdenklich fort. „Ich weiß noch, dass er sie kaum gebrauchen konnte. Das muss im Sommer 43 gewesen sein.“ „Können sie sich erinnern, wer von den Männern aus Apelnstedt mit ihrem Vater bei der Wehrmacht war?“ „Da gab es einige, aber die kamen, wenn überhaupt, erst nach Kriegsende zurück.“ „Wer von diesen Männern mit Ihrem Vater in Frankreich stationiert war, können Sie dann wohl auch nicht sagen“, schlussfolgerte ich. „Nein, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“
„Können Sie sich möglicherweise an Briefe Ihres Vaters erinnern, die Ihre Mutter möglicherweise aufgehoben hat“, erkundigte sich Leonie zu meiner Überraschung. „Ich weiß noch, wie sehnsüchtig sie immer auf Post von der Front gewartet hat“, nickte uns der alte Herr zu. „Ja, ich weiß, dass es solche Briefe gab, aber wo sie diese aufbewahrte und ob sie noch existieren, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.“
„Deine Mutter hatte sie in einer Hutschachtel auf dem Kleiderschrank in ihrem Schlafzimmer“, fiel Emmi Kolbe ein. „Ich weiß nicht, was damals damit geschah.“ „Nach unserer Hochzeit zogen wir in die obere Etage des Hauses und meine Mutter nach unten. Mit ihr auch das alte Schlafzimmer“, erklärte Reinhard Kolbe.“
Die alte Dame legte Leonie ein weiteres Stück von dem Frankfurter Kranz nach. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ „Eine alte Hutschachtel wäre mir bestimmt beim Renovieren aufgefallen“, dachte unsere Klientin angespannt nach. „Wieso gaben Sie das Haus eigentlich auf?“, erkundigte ich mich bei Reinhard Kolbe. „Weil meine Frau einfach nicht schwanger wurde, beschlossen wir auf dem großen Grundstück ein zweites Haus zu bauen.“ „Ja, ja“, amüsierte sich die alte Dame. „Wir waren kaum eingezogen, da schnackelte es auch schon.“
„Haben Sie den Stammbaum eigentlich schon fertig?“, wandte ich mich unserer Auftraggeberin zu. „Oma und Opa haben mir geholfen“, reichte sie mir ein Schriftstück. „Wofür benötigen Sie den Stammbaum eigentlich?“, fragte Herr Kolbe nach. „Es geht darum, den Überblick nicht zu verlieren. Ihre Familie ist recht umfangreich.“
„Ihr Vater Friedrich verstarb in der Nacht vom zweiten auf den dritten Januar 1948 im Alter von vierzig Jahren“, las ich. „Ihre Mutter Erna 1974 mit vierundsechzig.“ „Das ist richtig“, bestätigte der alte Herr. „Sie sind 1934 geboren, waren also vierzehn, als Ihr Vater starb und heirateten 1960.“ Ich stutzte. „Dann sind Sie ja schon über neunzig.“ „Und ich fast“, bemerkte Emmi Kolbe. „Alle Achtung. „Und schon seit 65 Jahren verheiratet.“ „Und sogar miteinander“, lächelte der alte Herr.
„Ihr Sohn Michael Kolbe kam 1970 zur Welt“, las ich weiter. „Ich war damals schon achtunddreißig“, bekräftigte sie. „Wir hätten das Haus eher bauen sollen“, schmunzelte der Opa meiner Klientin. „Sie sind eine geborene Wagenführer und stammen aus Dettum“, entnahm ich dem Stammbaum. „So ist es.“ „Der Michael wollte das Haus meiner Mutter auch nicht“, erinnerte sich der alte Herr. „Er sagte immer, es laste ein Fluch darauf. Jedenfalls baute er zusammen mit seiner Frau im Neubaugebiet ‚hinter dem Dorngarten‘.“ „Wo es noch im selben Jahr schnackelte“, hielt Emmi Kolbe fest.
„Gisela Kolbe ist eine geborene Rothemund“, fuhr ich fort. „Sie ist fünf Jahre älter als unser Michael“, bemerkte die Oma. „Als ich zur Welt kam, war meine Mutter auch schon dreißig“, erklärte unsere Klientin. „Warum entschlossen Sie sich dazu, das alte Haus wieder herzurichten?“, fragte ich sie. „Ich spielte als Kind immer gern bei meinen Großeltern im Garten und somit auch in dem leerstehenden Haus. Als ich mit meinem Freund zusammenziehen wollte, bestand eigentlich nie ein Zweifel daran, es zu sanieren und unser Glück dort zu suchen.“
Das war so etwas wie ein Stichwort für mich. „Sie sollten vor allem das Haus genau durchsuchen. Vielleicht gibt es ja irgendwo noch die Briefe von Friedrich Kolbe, aus denen sich möglicherweise schließen lässt, bei wem er das Bild versteckte oder wer sonst noch davon wusste.“ „Gab es denn nie eine Kneipe in Apelnstedt, in der man sich traf und über vieles sprach?“, warf Leonie einen weiteren Gedanken auf. „Es gab sogar drei Wirthäuser“, besann sich der alte Herr.
„Eine davon war die Gastwirtschaft ‚Alte Post‘ an der Ecke zum Mühlenweg. Im Gastraum befand sich ein runder Tisch mit einer 2 bis 3 cm dicken Tischplatte. Daran saß eine Stammtischrunde, an der auch der Hausschlachter Kurt Wild teilnahm. Zur vorgerückten Stunde wurde diskutiert, ob man mit einem Bolzenschussgerät die Tischplatte durchschießen könnte. Darauf ging Kurt Wild nach Hause und holte sein Bolzenschussgerät. Zum Erstaunen aller schoss er nach seiner Rückkehr durch die Tischplatte. Die Reparatur kostete ihm 32 Mark. Später wurde auf dem Tisch eine Plakette angebrachte, auf der stand: Hier hat der Schlachter K. Wild am 13.02.1953 mit seinem Schweinetöter die Tischplatte durchschossen.“
Es war bemerkenswert, wie gut sich der alte Herr noch an diese Geschichte erinnern konnte, weshalb ich ihn auch nicht unterbrach. Leider brachte mich seine Erzählung bei meinen Ermittlungen nicht voran. „Seien Sie uns nicht böse, aber wir müssen leider jetzt los“, sah ich demonstrativ zur Uhr. „Der Kuchen war echt lecker“, lobte ich. „Ich packe Ihnen gern noch etwas davon ein“, bemühte sich die Oma meiner Klientin. „Vielen Dank, aber das ist nicht nötig“, entgegnete ich dankbar. „Also ich nehme gern noch etwas mit“, konnte sich Leonie mal wieder nicht zurückhalten. Ich verdrehte die Augen.
„Wie geht es denn nun weiter?“, erkundigte sich unsere Auftraggeberin, während sie uns zum Auto begleitete. „Wie gesagt, ich hoffe, dass ich in den nächsten Tagen Informationen zur Stationierung Ihres Urgroßvaters bekomme. Ob mir mein Informant etwas zu weiteren Soldaten sagen kann, die hier aus der Gegend oder sogar aus Apelnstedt stammen, muss abgewartet werden.“ „Gut, mein Freund und ich stöbern noch mal das Haus durch. Vielleicht finden wir ja doch noch weitere Briefe.“
„Wenn sich unsere These bezüglich des Bildes bestätigen sollte, könnte sich der Verdacht Ihrer Urgroßmutter tatsächlich bewahrheiten und der Tod ihres Mannes war alles andere als ein Unfall.“ „Sie muss ihn sehr geliebt haben“, seufzte meine Auftraggeberin. „Sonst wäre sie ihm gewiss nicht bis in den Tod treu geblieben“, gab ihr Leonie recht. „Sowie ich mehr weiß, melde ich mich bei Ihnen“, versprach ich und wir verabschiedeten uns mit einem nachdenklichen Gefühl. „Selbst wenn wir herausfinden, wer den Mann erschlug, werden wir ihm die Tat wahrscheinlich nicht nachweisen können“, ächzte ich nachdenklich.
Achtung!
Der Name Klobe wurde aus rechtlichen Gründen in Kolbe geändert!
Fortsetzung vom 05.07.25
5
Der nächste Tag verlief ereignisarm. Weder die Infos, die ich im Landesarchiv abfotografiert hatte, noch die Erzählungen der Großeltern unserer Klientin brachten uns weiter. Leonies Recherchen bezüglich des Gemäldes verliefen ebenso im Sande wie die Nachforschungen über einen unerwarteten Reichtum eines der Einwohner der Gemeinde. Es deutete absolut nichts daraufhin, dass es das Bild jemals in Apelnstedt gegeben hätte. Ich war fast soweit anzunehmen, dass alles nur eine Verkettung von Mutmaßungen und Ereignissen war, die von allen Beteiligten fehlinterpretiert waren. Doch dann stand Eddi unangemeldet in der Detektei.
„Hallo, mein Freund“, begrüßte ich ihn geradezu überschwänglich. „Warst du wirklich erfolgreich?“ „Können wir irgendwo ungestört reden?“, tat er sehr geheimnisvoll. „Ja natürlich, am besten gehen wir in mein Büro.“ Während ich ihn durch die weit geöffnete Tür in mein Allerheiliges schob, bat ich Leonie, uns einen Kaffee zu bringen.
„Das war alles andere als einfach“, bekräftigte er. „Wenn ich nicht in deiner Schuld gestanden hätte, dann…“ Bereits in dem Moment, als ich die Idee hatte, Eddi mit der Recherche bei der Bundeswehr zu beauftragen, wusste ich, dass er eigentlich zu anständig für solche Aufgaben war. Umso mehr freute ich mich, dass er offenbar Erfolg hatte.
„So ein Scheiß machst du nicht noch mal mit mir. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, als ich wie ein Spion Seite um Seite in den Dokumenten heimlich abfotografierte.“ Er reichte mir die erhofften Unterlagen. „Oh, du hast die Fotos ja schon ausgedruckt“, staunte ich. „Ich bin gespannt, ob das, was du suchst, dabei ist. Aber wie auch immer, so etwas mache ich nicht noch einmal für dich.“ „Na, dann bin ich ja mal gespannt, was du da zusammengetragen hast“, bekundete ich ein Blatt nach dem anderen nebeneinander auf meinem Schreibtisch ausbreitend.
„Es sieht so aus, als hättest du die richtige Auswahl getroffen“, überflog ich die Aufzeichnungen. „Hier steht, dass Erich Beere und Karl Augstadt aus Apelnstedt zusammen mit Friedrich Kolbe in einem Vorort von Paris bei Montreuil stationiert waren.“ Ich sah Eddi zufrieden an. „Genau darauf hatte ich gehofft.“ „Was den Rang von Friedrich Kolbe betrifft, wurde er bis zu seiner Verwundung und dem dadurch bedingten Ausscheiden im Juli 43 als Feldwebel geführt.“ „Gibt es so etwas wie einen ärztlichen Befund?“, hakte ich nach.
Eddi überflog die einzelnen Seiten. „Da war doch irgendwo… Ah ja, hier ist verzeichnet, dass der Soldat Friedrich Kolbe das Verwundetenabzeichen in schwarz erhielt“, zitierte Eddi. „Demnach wurde er nicht gleich aus der Armee entlassen.“ „War das üblich?“ „Offenbar wurde er in Genesungsurlaub nach Hause geschickt. Wahrscheinlich verbesserte sich seine Erkrankung bis Kriegende nicht und so schied er irgendwann aus dem aktiven Dienst aus.“ „Er hatte also schlichtweg Glück“, sinnierte ich, während ich nach weiteren für den Fall relevante Informationen Ausschau hielt.
„Nach was suchst du?“, bemerkte Eddi. „Da stand, dass die drei einer Einheit in Montreuil angehörten. Ich frage mich, welche Aufgaben diese Brigade hatte oder um was es sich sonst handelte.“ „Dort war eine Infanterie-Division stationiert“, klärte mich mein Freund auf. „Also eine taktische Einheit des Heeres.“ „Könnte eine solche Division auch dazu eingesetzt worden sein, um Beutekunst nach Deutschland zu bringen?“ Eddi merkte auf. „Sag mal, in welche Richtung geht das Ganze hier eigentlich?“ Ich schüttelte den Kopf. „Wenn ich das nur selber wüsste.“
Eddi hatte mich ein gutes Stück vorangebracht. Als ich ihn zur Tür brachte, bedankte ich mich daher für seinen heroischen Einsatz und ließ Sabine ausrichten, dass Miriam und ich uns schon bald melden würden und die beiden schon bald zu einem opulenten Essen einladen würden. So zumindest hatte ich es gesagt und im Grunde meinte ich es auch so. Die Frage war nur, wann wir die Zeit dafür finden würden.
Nachdem ich die neuen Infos geordnet und auf mehreren Zetteln notiert an der Ermittlungswand in meinem Büro angebracht hatte, beauftragte ich meine Mädels, alles, was es im Netz über das Leben, die Familie und den Tod von Erich Beere und Karl Augstadt herauszufinden. Bereits wenige Minuten darauf war klar, dass ihre Nachkommen immer noch in Apelnstedt ansässig waren.
„Ich habe es mir anders überlegt“, änderte ich meinen Plan. „Wir beiden Hübschen werden Erich Beere schon mal einen Besuch abstatten“, wandte ich mich Leonie zu. „Sie versorgen uns bitte in der Zwischenzeit mit Einzelheiten zu dem Bauern“, bat ich Trude. „Auf geht’s, wollen wir doch mal sehen, ob wir vor Ort weitere Details erfahren.“ „Moment, Chef, wenn Sie sofort loswollen, muss ich mir erst noch etwas für unterwegs einpacken.“ Als ich sah, was sich meine Azubine da einpackte, nahm ich mir vor, bei Gelegenheit mit ihrem Onkel zu sprechen.
Während der Fahrt nach Apelnstedt informierte uns Trude, dass sich der Hof von Erich Beere in der Mitte der ‚Dettumer Straße‘ befand. Ein großes Anwesen, welches wir nicht verfehlen konnten. Als wir aus Richtung Ahlum das Ortsschild passierten und vom Mühlenweg in die Dettumer Straße einbogen, war klar, von welchem Hof die Rede war. Bevor wir mit der Tür ins Haus fielen, parkte ich den Wagen ein Stück weiter ab und sah mir im Internet einen Übersichtsplan der Gemeinde an.
Der tote Friedrich Kolbe war am Anfang der ‚Lohenstraße‘, vor dem Haus mit der Nummer 1 gefunden worden. Seine Familie lebte jedoch am Ende der ‚Lohenstraße‘. Demnach befand sich der Fundort nicht auf dem direkten Weg zwischen dem Hof und seinem Haus. Auch wenn dies nichts bedeuten musste, sprach es allerdings auch nicht für die These, dass er sich auf dem Heimweg von Erich Beere befand.
„Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wie wir nach so langer Zeit herausfinden wollen, was damals wirklich geschah“, seufzte Leonie. „Wenn wir das Bild finden würden, hätten wir ein Druckmittel, aber so…“ „Falls du wissen willst, ob ich einen Plan habe muss ich dich enttäuschen“, gestand ich ein. „Sehen wir also, was uns erwartet und reagieren darauf.“ Ich startete den Motor, um direkt auf dem Hof vorzufahren.
[1] KI: künstliche Intelligenz
Fortsetzung vom 12.07.25
6
„Guten Tag, zu wem wollen Sie denn?“, empfing uns ein etwa vierzigjähriger Mann, kaum, dass wir aus dem Wagen gestiegen waren. „Wenn das der Hof Deere ist, dann würden wir gern mit Herrn Deere sprechen“, erklärte ich mit Nachdruck. Er setzte die Schubkarre ab und kam einige Schritte auf uns zu. „Was wollen Sie denn von meinem Vater?“ „Wir sind private Ermittler und würden ihn gern zu einem viele Jahre zurückliegenden Fall befragen“, führte ich weiter aus.
Der Mann in der Latzhose und den vollgekackten Gummistiefeln verkürzte den Abstand zu uns so weit, dass ein herber Duft frischer Landluft nicht unbemerkt blieb. „Er wird Ihnen nicht weiterhelfen können, mein Vater ist dement.“ „Oh, das tut mir leid“, reagierte ich betroffen. „Vielleicht kann uns ja Ihre Mutter weiterhelfen?“, kam es Leonie in den Sinn. „Um was für einen alten Fall geht es denn eigentlich?“, wich der Bauer ihrer Frage aus. „Zu Beginn des Jahres 1948 wurde Friedrich Kolbe nicht weit von hier erfroren aufgefunden“, machte ich kein Geheimnis aus dem Grund meiner Recherche.
„Der Kolbenwind!“, lachte er kurz. „Sie kennen die Geschichte?“ „Die kennt hier jedes Kind“, winkte er ab. „Das ist also der Fall, in dem Sie ermitteln?“ „Weshalb erscheint Ihnen das so ungewöhnlich?“, erkundigte sich meine Azubine. „Das kann nicht Ihr Ernst sein“, reagierte er mit Unverständnis. „Wer um alles in der Welt hat Sie denn mit den Ermittlungen in diesem Cold Case beauftragt?“ „Dazu möchte ich Ihnen nichts sagen“, wahrte ich den Grundsatz der Verschwiegenheit. „Die Klärung des Falles könnte auch für Sie von Interesse sein.“
Er lachte ein weiteres Mal kurz auf. „Na, ich kann mir auch so denken auf wessen Mist das Ganze gewachsen ist. Ich frage mich nur, was der Michael damit bezwecken will. Es weiß doch jeder, dass der Kolbe damals gesoffen hat. Auf dem Heimweg von der Kneipe muss er sich den Kopf angeschlagen haben als er auf der vereisten Straße ausrutschte.“ „Ich kenne die Version der Polizei“, entgegnete ich. „Nur blöd, dass er gar nicht aus der Kneipe kam“, überraschte ich ihn. „Woher wollen Sie das denn wissen?“ Nun lächelte ich ihn an.
Ich hatte seine Neugier geweckt. Auch wenn meine Behauptung zu diesem Zeitpunkt aus der Luft gegriffen war, hatte sie ihre Wirkung nicht verfehlt. „Schauen Sie, Herr Deere, ich verlasse mich nie auf eine Aussage allein und aus genau diesem Grund spreche ich gern mit allen möglichen Zeugen. Auch wenn diese ihr Wissen nur aus Erzählungen haben“, bemühte ich ihm, mein Interesse nach einem Gespräch mit seiner Mutter plausibel zu machen.
„Ihr Urgroßvater war mit Friedrich Kolbe im Krieg an der Front, nahe Paris stationiert. Ich bin auf der Suche nach Briefen, die von Erich Deere in die Heimat geschickt wurden.“ Womit wir in einen Bereich kamen, der für meinen Gesprächspartner zunehmend persönlicher wurde. Ich merkte ihm an, wie er sich damit immer unwohler fühlte. „Also gut“, lenkte er schließlich ein. „Ich nehme an, Sie möchten am besten sofort mit meiner Mutter sprechen.“ Ich nickte ihm zu. „Warten Sie bitte einen Moment an Ihrem Wagen, ich will sehen, ob sie zu einem Gespräch mit Ihnen bereit ist.“
Wir sahen ihm nach, wie er im Haus verschwand. „Ein Bauernhof von dieser Größe stellt sicherlich einen nicht unerheblichen Wert da“, sinnierte meine Auszubildende, während sie sich umsah. „Wie viele Angestellte der wohl beschäftigt?“ „So viel Personal wird in einem landwirtschaftlichen Betrieb heutzutage gar nicht mehr benötigt. So ein Hof könnte nicht effizient arbeiten, wenn er nicht in allen nur möglichen Bereichen automatisiert wäre“, erklärte ich. „Mehr als zwei Beschäftigte werden hier bestimmt nicht im Lohn stehen.“
„Herr Lessing!“, rief uns der Mann zu, der seine Gummistiefel inzwischen gegen Straßenschuhe getauscht hatte. Er stand oberhalb einer breiten Steintreppe, die vor einer imposanten Eingangstür endete.
„Meine Eltern erwarten Sie“, überraschte er mich, ehrlich gesagt. „Das ist sehr freundlich.“ „Ich gehe am besten vorweg.“ „Wie lange ist der Hof schon im Besitz Ihrer Familie?“, erkundigte ich mich, auf dem Weg durch den langen Flur. Zu beiden Seiten gingen mehrere Türen ab. Schwere Türen mit Eichenkassetten, die in verzierten Rahmen saßen. Ihre Holzmaserungen waren weiß gebeizt. In der Art, wie ich sie auch in den Fachwerkhäusern der Altstadt von Wolfenbüttel gesehen hatte. Ich liebe es, wenn altes mit neuem harmoniert.
Wir folgten ihm auf eine Terrasse, die sich einem Durchgang am Ende des Flures anschloss. Der Bauer und seine Frau saßen in einer gemütlichen Sitzecke aus Rattan-Möbel. Eine breite Markise spendete ausreichend Schatten. Ein Springbrunnen, der auf einer Säule platziert war, plätscherte ruhig vor sich hin.
„Guten Tag“, begrüßte uns Vera Deere, indem sie sich erhob und mit ausgestreckter Hand auf uns zukam. Ich spürte eine raue Hand, die von harter Arbeit gezeichnet war. „Mein Mann hält gerade sein Nickerchen. Ich hoffe, es stört sie nicht.“ „Aber nein“, entgegnete ich, zugegeben etwas irritiert. „Nehmen Sie doch bitte Platz. Trinken Sie einen Tee mit uns?“ „Gern.“ „Bist du so lieb und holst noch zwei Tassen?“, wandte sie sich ihrem Sohn zu. Er verschwand wortlos im Haus.
„Unser Sohn erzählte uns von Ihren Ermittlungen“, kam sie schnell zur Sache. „Sie interessieren sich für den Tod von dem alten Kolbe?“ „Das stimmt“, bestätigte ich. „Mein Mann und ich stammen zwar aus Apelnstedt, aber als er starb, waren Reinhard und ich noch nicht geboren.“
Ihr Sohn kehrte mit den Tassen zurück, baute sie vor Leonie und mir auf und schenkte uns Tee ein. Dabei bemerkte ich, dass er keinen Ring an den Händen trug. Also offenbar noch ohne Partnerin war. „Bevorzugen Sie Zucker oder Kandis?“, fragte er nach. „Oh, gerne Kandis.“ Im Gesicht meiner Azubine zeichnete sich ein Fragezeichen ab. Skepsis lag in ihren Augen. Sie verfolgte, wie ich mich bediente, und tat es mir gleich.
„Das hatte ich nicht anders erwartet, aber vielleicht hat Ihr Mann einmal etwas erwähnt oder Ihnen sind alte Briefe von der Front, die Erich Deere an seine Frau schrieb, in die Hände gefallen.“ So hoffte ich zumindest. „Der Kolbe starb doch erst nach dem Krieg. In den Briefen kann somit gar nichts darüber geschrieben stehen“, überlegte sie. „Das ist richtig, aber daraus könnte hervorgehen, ob er mit Friedrich Kolbe in Frankreich stationiert war und welche Aufgaben sie dort hatten.“ „Wozu sollte das gut sein?“, erkundigte sich ihr Sohn. „Ich denke der Schwiegervater Ihrer Mutter und Friedrich Kolbe waren nicht nur Kriegskammeraden.“
„Das kann ich Ihnen auch so bestätigen“, bemerkte die Bäuerin. „Mein Vater und Erich Deere waren schon als Kinder mit Friedrich Kolbe befreundet. Sie wurden gemeinsam einberufen und kämpften auch zusammen in Frankreich.“ Ich horchte auf. „Dann war Karl Augstadt also Ihr Vater?“ „So ist es, meine Eltern betrieben die Schankwirtschaft am ‚Mühlenweg‘.“ „Mein Vater und Karl Augstadt kehrten erst zum Kriegsende nach Hause zurück“, lenkte Bernhardt Deere unsere Aufmerksamkeit unvermittelt auf sich.
„Du bist ja wach, Bernhardt“, bemerkte seine Frau. „Kunststück, bei dem Lärm bekommt doch kein Mensch ein Auge zu“, beschwerte sich der Bauer. „Wer sind die Leute?“ „Das sind Herr Lessing und seine Mitarbeiterin“, stellte uns seine Frau vor. „Und was machen die hier?“ „Es geht um Friedrich Kolbe“, erklärte sein Sohn. „Und was machst du hier, Norbert? Gibt es im Stall nichts zu tun?“ Als der kräftige Mann in der Latzhose daraufhin wortlos aufstand, seinen Tee austrank und die Terrasse verließ, war klar, wer auf diesem Hof das Sagen hatte.
Ich hielt mir den Ortsplan von Apelnstedt im Gedanken vor Augen und überlegte, ob Friedrich Kolbe nicht, wie bislang von mir angenommen, auf dem Hof von Erich Deere, sondern in der Gastwirtschaft von Karl Augstadt mit seinen Kriegskameraden über das Gemälde gesprochen hatte. Dies würde den Ort erklären, an dem Kolbe gefunden wurde, denn dieser lag genau auf seinem Heimweg von der Wirtschaft zum Ende der ‚Lohenstraße‘. Zufall?
Falls es während des Treffens zum Streit wegen des Bildes kam und der Urgroßvater meiner Klientin, auf welche Weise auch immer, in der Kneipe am Hinterkopf verletzt wurde, möglicherweise sogar tödlich, könnte er von seinen Kameraden an den späteren Fundort gelegt worden sein, um die Tat zu vertuschen. Die Aufgabe, die sich mir nun stellte, schien unlösbar. Wie sollte ich einen solchen mutmaßlichen Tathergang nachweisen?
„Ich glaube, dass ich die ehemalige Gaststätte im Mühlenweg auf der Fahrt zu Ihnen gesehen habe“, erklärte ich, während ich die Tasse wieder absetzte. „Das stimmt“, bestätigte die Bäuerin. „Nachdem mein Vater starb, wurde die Wirtschaft geschlossen und mein Bruder erbte alles. Der wollte dann eine Bar daraus machen, aber das klappte natürlich nicht.“ „Da hat er sicherlich viel umgebaut und renoviert?“, fragte ich nicht ohne Grund.
„Weshalb fragen Sie das alles?“, mischte sich nun auch Bernhardt Deere wieder in das Gespräch ein. „Der Herr ist Detektiv“, erinnerte ihn seine Frau. „Ja und? Ich habe den Mann nicht eingeladen. Der soll gehen!“ „Es tut mir leid, Herr Lessing, aber es geht meinem Mann heute nicht so gut. Es ist besser, wenn Sie ein anderes Mal wiederkommen.“ Ich nickte ihr verständnisvoll zu und erhob mich. „Ja natürlich.“ „Ich begleite Sie hinaus.“ Bernhardt Deere verweigerte uns die Hand.
„Bitte entschuldigen Sie das Verhalten meines Mannes, er war nicht immer so“, bemühte sich die Bäuerin, während sie uns nach draußen begleitete, ihren Mann in ein besseres Licht zu rücken. Seit wann leidet er unter Demenz?“, erkundigte ich mich. „Es erwischte ihn mit sechzig. Er hat es von seinem Vater geerbt. Der bekam es noch früher als Bernhardt.“ „Das ist echt übel“, formulierte es Leonie treffend. „Es gibt Augenblicke, da ist er ganz klar, so als wäre er gar nicht krank, aber diese Momente werden immer seltener.“
Wir standen bereits vor dem Eingang, oberhalb der breiten Steintreppe, die auf den Hof hinunterführt, als ich meine letzte Frage stellte. „Haben Sie jemals etwas von einem wertvollen Bild gehört, welches von Ihrem Vater und seinen Kameraden vor Ende des Krieges aus Frankreich mit nach Hause gebracht wurde?“ Es schien, als wäre die Bäuerin für einen winzigen Augenblick wie vom Blitz getroffen. „Davon ist mir nichts bekannt, Herr Lessing“, reagierte sie mit dem nächsten Atemzug sehr besonnen. Meine Erfahrung sagte mir jedoch etwas anderes.
Die Leseprobe wird am 19.07. um das nächste Kapitel erweitert.
Auch diesmal habe ich auf dem Weg zur Volendung des Romans einige Hinweise und Anregungen von Ihnen und Euch erhalten. Vielen Dank dafür. Der fertige Krimi wird ab xx.xx.25 im Buchhandel erscheinen und am 19.09.um 19 Uhr im Schmidt Terminal, Halchtersche Straße in Wolfenbüttel von mir in einer Lesung mit Musik von Gudrun Peter vorgestellt.
Sobald das fertige Manuskript lektoriert wurde, geht es als Leseprobe in den Downloadbereich.
Kurz darauf ist es dann auch als Taschenbuch zu erwerben.
An dieser Stelle finden Sie nach und nach wieder drei Fragen zum aktuellen Werkstattroman.
Die Antworten bitte bis zum xx.xx.25 an Uwe.brackmann59@gmail.com senden.
1. womit wurde der Kneipentisch durchschossen?
2. wo befindet sich die Ferienpension von Leo´s Schulfreundin?
3. wer...
Hier noch einmal die Spielregeln.
Mit jeder Buchvorstellung, also noch bevor das Buch in den Druck bzw. in den Downloadbereich wechselt, stelle ich an dieser Stelle drei Fragen aus dem Werkstattbuch, die Sie in einer Mail an mich richtig beantworten sollten. Der Einsender jeder zehnten richtigen Mail erhält ein handsigniertes Taschenbuch aus meiner Kollektion. Aber auch die übrigen Mitspieler gehen nicht leer aus. Sofern sie mir die richtigen Lösungen zugemailt haben erhalten sie jeweiles ein E Book zugesandt.
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Solange das Buch in der Werkstatt steht, können Sie sich am Gewinnspiel beteiligen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich mich sehr über die rege Teilnahme und die vielen Mails freue, die bei früheren Gewinnspielen bei mir eingegangen sind.
Haben Sie die vorangegangenen Kapitel aufmerksam gelesen? Dann könen Sie die Fragen sicher beantworten. Wenn Sie glauben, alle drei Fragen richtig beantworten zu können, mailen Sie die richtigen Antworten an: uwe.brackmann59@gmail.com
Bis dahin: Ihr Uwe Brackmann
vielen Dank für die rege Beteiligung am Gewinnspiel. Es sind wieder zahlreiche richtige Lösungen eingegangen. Alle Gewinner wurden benachrichtigt. Viel Spaß beim lesen des neuen Band 54 mit dem es schon bald in der Werkstatt weitergeht und hoffentlich bis zum nächsten mal.
Den 55. Roman aus der
Detektei Lessing
"Schamlose Angst"
stellen 'Lessings Lakeien' in einer Premiere-Lesung am 13.06.25
im Schmidt-Terminal,
Wolfenbüttel, Halchtersche Straße vor.
ist ab 14.05.25 auch auf Bestellung unter "Kontakt",
dann auch gern als Geschenk mit Signatur zu erwerben. Im Downloadbereich, kann er als 6 Kapitel umfassende Leseprobe (Kenntlich machen und kopieren) heruntergeladen werden kann. Das komplette E-Book ist dann für 2,99 € in einer Mail an "uwe.brackmann59@gmail.com" zu bestellen.
Ein Großteil meiner Bücher kann über die Seite 'Links' bei Amazon, Weltbild, Thalia u.s.w. als E-Book erworben werden.
In diesen Geschäften sind meine Bücher zu erwerben:
Wolfenbütteler 'Buchhandlung Behr' Kornmarkt
Wolfenbütteler 'Buchhandlung Steuber' Am alten Tore
in Vorsfelde in der Buchhandlung Sopper, Lange Str. 17
im Hornburger Toto Lotto Laden 'Cafè Clemens'
in der Bücherheimat in Bad Harzburg
zu erhalten
Mein Dank gilt in besonderer Weise, Herrn Jürgen Nieber, der meine Manuskripte aus reinem Idealismus lektorieren. Mit im Team sind die Maler Robert Tschöp, Charlotte Matzeit, Rüdiger Franz und Julia Elena Zeh, die mit ihren Bildern maßgeblich die Einbände zur Detektei Lessing mitgestalten. Überdies mit dabei, der Bremer Fotograf Andreas Eberl, der dem letzten Mike Winter Krimi mit seinem Foto ein Supereinband gab. Den Link zu seiner Argentur findet ihr übrigens auf dieser Website.
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